RUSSLAND HEUTE
Das 2015 gegründete Moskauer Auktionshaus Litfond ist spezialisiert auf antiquarische Bücher, Handschriften, historische Fotografien und Druckgrafik. Man findet dort viele bibliophile Raritäten, aber auch manche Kuriosität. Hohe Erlöse erzielten zum Beispiel Erstausgaben von Gogol und Taras Schewtschenko oder eine Grafik von Chagall, aber auch der Führerschein Breschnews brachte 2019 anderthalb Millionen Rubel.
Litfond veranstaltet mehrmals im Monat Präsenz- und Online-Auktionen und veröffentlicht die Angebote vorab auf seiner Website. Für den 28. Oktober 2023 ist eine Auktion „Seltene Plakate des 20. Jahrhunderts“ angekündigt, versteigert werden historische sowjetische Plakate aus den 1920er bis 1980er Jahren. Es lohnt sich hineinzuschauen (Link am Ende dieses Beitrags) – man kann dort viele Plakate entdecken, die sonst schwer zu finden sind, zum Beispiel mehrere, die die Heimkehr sowjetischer Soldaten aus deutscher Kriegsgefangenschaft thematisieren.
Auf der vorletzten Seite stieß ich auf ein Friedensplakat aus dem Jahr 1958: eine Frau mit einer Taube, hinter ihr eine Collage aus internationalen Flaggen.

Der Text über und unter dem Bild ist unkenntlich gemacht – sein Inhalt wird offenbar als anstößig oder gefährlich eingestuft. Man braucht allerdings nur auf die Beschreibung rechts neben der Abbildung zu schauen, um zu erfahren, was verpixelt wurde: „Es lebe der Frieden!“ („Да здравствует мир!“) oben und „Nieder mit dem Krieg!“ („Долой войну!“) unten.

Ein paar Plakate weiter ist eine noch gefährlichere Losung unkenntlich gemacht. „Nein zum Krieg!“ („Нет – войне!“) steht in der Mitte dieses Sowjetplakats von 1977 – auf der Abbildung verpixelt, im Text rechts daneben ausgeschrieben.

Menschen, die in Russland im letzten Jahr Plakate oder Blätter mit diesen beiden Worten in der Öffentlichkeit hochhielten, wurden regelmäßig umgehend von der Polizei festgenommen.

Hat das Auktionshaus Angst, jemand könnte die Plakate bei unverpixelter Abbildung abspeichern, ausdrucken und sich damit auf die Straße stellen wie die junge Frau auf dem Foto? Oder ist diese Art von nicht wirklich konsequenter Selbstzensur vielleicht eine besonders durchtriebene Methode, auf die Absurditäten der russischen Gegenwart aufmerksam zu machen?
Ich tippe auf Letzteres. Sonst hätte man die beiden Plakate ja auch einfach weglassen können.
Die Abbildungen der Plakate sind Screenshots von der Website des Auktionshauses: https://www.litfund.ru/ (Homepage) bzw. https://www.litfund.ru/auction/528/ (Seite der angekündigten Plakatauktion).