RUSSLAND HEUTE
Mit 19 Jahren ging sie das erste Mal auf die Straße, um gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag zu demonstrieren. Man sperrte sie für zwei Jahre in die Psychiatrie, das ruinierte ihre Gesundheit, machte sie aber ansonsten nur noch rebellischer. Ihr ganzes Leben lang kämpfte Walerija Nowodworskaja (1950 – 2014) gegen Unfreiheit und Repressionen. 1992 gründete sie sogar eine oppositionelle Partei, die „Demokratische Union Russlands“ die es jedoch nicht in die Duma schaffte. Umso mehr wurden ihre Bücher und Artikel gelesen und ihre Youtube-Videos gesehen, die oft ätzend scharf und polemisch, aber auch immer treffsicher und unterhaltsam waren.

Zu ihrem Begräbnis im Juli 2014 kamen Tausende. Und sogar Putin, den sie so oft angegriffen hatte, sah sich damals noch genötigt zu kondolieren. Heute würde er vermutlich nur in seiner typischen geringschätzig-wegwerfenden Manier sagen: „Nowodworskaja? Wer ist das?“ Vor kurzem las ich irgendwo in der russischen Presse, sie sei nur eine marginale, letztendlich lächerliche Person gewesen, in einer Reihe mit „Gestalten wie Jelena Bonner und Galina Starowoitowa“. Wenn das keine ehrenvolle Einordnung ist.
Nun ist im April dieses Jahres ein sehr sehenswerter Dokumentarfilm über ihr Leben herausgekommen, produziert vom Berliner Filmstudio Narra und einer Kooperative unabhängiger Journalisten. Der Regisseur und Drehbuchautor Igor Sadrejew konnte sich dabei nicht nur auf ihre zahlreichen veröffentlichten Artikel und Interviews stützen, sondern auch auf die Erinnerungen von Freunden, Kollegen und Mitstreitern sowie erstmalig auch auf Gerichtsakten. Man kann den kompletten Film bei YouTube anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=jMaBEzIfpHk
Über Putin machte sich Walerija Nowodworskaja von Anfang an keine Illusionen. Liest man heute ihre damaligen Aussagen über ihn, klingt vieles geradezu prophetisch:
„Er lebt in einer Parallelwelt, ohne Berührungspunkte mit der Realität.“
„Äußerst leicht gekränkt und rachsüchtig.“
„Als Politiker unbegabt und unbedeutend, weil er nur in die Vergangenheit blickt und jede Veränderung als Bedrohung der eigenen Macht fürchtet.“
„Er wollte in die Geschichtsbücher eingehen und als Lenker der Geschicke Teil eines großrussischen Epos werden, aber er wird nur als banaler Kriegsverbrecher in Erinnerung bleiben, dem alle Sicherungen durchgebrannt sind.“
Der Krieg, auf den sie sich im letzten Zitat bezieht, ist der zweite Tschetschenienkrieg, der von 1999 bis 2009 dauerte und der als angeblicher Feldzug gegen den Terrorismus Putin zu großer Popularität verhalf.
Hier nun, mit geringfügigen Kürzungen, ein Text von Walerija Nowodworskaja, der im russischen Original erstmals im Dezember 2009 in der Zeitung „The New Times / Nowoje Wremja“ erschien.
Ich bin mit Putin verheiratet
Ich stehe morgens auf und plötzlich fällt mir ein: Schon fast zehn Jahre bin ich jetzt mit Putin verheiratet und was sich zwischen uns abspielt, ist das klassische russische Eheleben. Er rückt seinen Lohn nicht raus, und ich koche und wasche nicht für ihn. Wir leben wie Stiwa Oblonski und seine Dolly, grüßen uns nicht, unterhalten uns nicht. Aber das Haus gehört uns gemeinsam. Ein Achtel der Welt. Oder der Unterwelt. Als ich ihn das erste Mal 1999 im Fernsehen sah, schaute er mich mit so einem unguten, rätselhaften Ausdruck an, und da wusste ich gleich, er hat ein Auge auf mich geworfen.
Dabei wollte ich ihn gar nicht heiraten. Ich wartete auf einen Prinzen aus Übersee oder doch wenigstens auf Borja Nemzow. (…)
Natürlich sagte ich nicht „ja“, ich ging überhaupt nicht zum Altar, also, ich meine, zu den Wahlen, zur Wahlurne. Aber es fragte mich auch keiner. Wir wurden nicht in der Kirche getraut … Uns führte eine aggressiv-gehorsame Mehrheit zusammen und verheiratete uns. Brautführer waren die Mitglieder von „Einiges Russland“. Und statt des Hochzeitsmarsches von Mendelssohn spielte man für uns im Palast der Eheschließungen die Sowjethymne … Es kam schlimmer als in der bekannten Anekdote: Putin spendierte mir kein Abendessen, aber er führte mich trotzdem zum Tanz. Und so leben wir seitdem: Ich kann ihn nicht ausstehen und er mich nicht. Ich könnte das ganze Geschirr zerschlagen zum Zeichen dafür, dass ich die Scheidung will, aber er würde es gar nicht beachten.
Wie jede russische Frau finde ich Erleichterung darin, mich über meinen schlechten Ehemann zu beklagen. Radiosender, Meetings, Zeitungsredaktionen – überall mache ich die Runde und beklage mich. Schickt meinen Mann doch endlich in den Ruhestand, sage ich, oder besser noch gleich nach Nürnberg, und ich heirate dann Kassjanow oder Nemzow. Ich habe mich schon bei Bush beklagt, bei Obama, bei der EU. „Ich will nicht mehr mit Putin zusammenleben“, sage ich ihnen allen. „Lösen Sie unsere Ehe auf.“ Aber sie unterschreiben stattdessen Abkommen mit Putin. Was interessieren sie meine Weibertränen? Und ich bin ja nicht allein, mein Mann hat noch 300 weitere Ehefrauen und 700 Konkubinen, alles Demokratinnen. Gemeinsam weinen und heulen wir, aber wie laut wir auch schreien – Putin weicht nicht von uns. Andere Leute verstehen nicht, was mich an Putin stört. Er trinkt keinen Wodka, er raucht nicht. Dafür treibt er Sport. Und er ist so machtvoll! Ein Blick nach links – und die Geiseln von „Nord-Ost“ sinken vergiftet zu Boden, ein Blick nach rechts – die Kinder in der Schule von Beslan sterben im Feuersturm. Neulich hätte er fast eine ganze Supermacht bezwungen, Georgien heißt sie, aber seine Widersacher aus Amerika haben ihn daran gehindert. Vor niemandem hat er Angst, am wenigsten vor Gott. Über seine Feinde, die Schädlinge von Jukos, hält er auf der Schädelstätte Gericht. Die Leute sagen, das müsste mir doch schmeicheln. Ich antworte ihnen: „Soll er sich lieber an Wodka besaufen als am Blut tschetschenischer Säuglinge, die man zum rituellen Opfer auf den Altar des Imperators bringt. Mir würde etwas Ruhiges, Nettes, Europäisches besser gefallen.“ (…)
Ich weiß, er wird mich überleben. Er ist jung und sportlich, und ich bin alt und krank. Und mir wird angst und bange: Unser armseliges Kind, das die Säuglingsschwester schon im Kreißsaal auf den Kopf fallen ließ und das durch einen Schlaganfall in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist, Rossija heißt es mit Vornamen, das wird ihm zugesprochen werden, und niemand wird da sein, der mit der armen Waise auch nur etwas Mitleid hat …
https://newtimes.ru/articles/detail/13397/
Boris Nemzow, der ihr als Heiratskandidat besser gefallen hätte als Putin, war übrigens einer der prominenten Teilnehmer an der Trauerfeier für Nowodworskaja am 16. Juli 2014 – nur acht Monate später war er selbst tot, hinterrücks erschossen mitten in Moskau.
Für die Zeitung „The New Times“ oder russisch „Новое время“ hat Walerija Nowodworskaja regelmäßig Kolumnen geschrieben. Ende Februar 2022 wurde die Website der Zeitung in Russland gesperrt, weil man wahrheitsgemäß über Verluste der russischen Armee im Ukraine-Krieg berichtet hatte.
„The New Times“ hat alle zwischen 2007 und 2014 veröffentlichten Texte von Nowodworskaja in einem Archiv zusammengefasst: https://newtimes.ru/articles/detail/169154/
Ihre Bücher und Artikel wurden bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Auf Russisch gibt es eine dreibändige Werkausgabe, erschienen 2015, die man hier lesen oder herunterladen kann: https://imwerden.de/author-20842
Auch über ihren unerwarteten Tod wurde in deutschen Medien damals nur sehr knapp berichtet. Ich konnte nur einen einzigen längeren Nachruf vom 13. Juli 2014 bei queer.de finden, wo man nicht vergessen hatte, dass sie sich immer für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt hatte: https://www.queer.de/detail.php?article_id=21932

Auf den Dokumentarfilm über ihr Leben reagierten die kremltreuen russischen Medien empfindlich. Das große Nachrichtenportal dzen.ru brachte noch im April eine ellenlange „Gegenbiographie“, in der man sich nach Kräften bemühte, sie als Psychopathin darzustellen, die vom Hass auf ihr eigenes Land zerfressen gewesen sei. Auf YouTube haben den Film aber schon mehr als anderthalb Millionen angeklickt, und noch ist YouTube ja auch in Russland frei zugänglich (auch wenn es schon Stimmen gibt, die verlangen, es wie Facebook und Instagram zu blockieren).

Nur in der „Nesawisimaja Gaseta“ erschien im Juli, fast wie eine Antwort darauf, ein Artikel eines früheren Kollegen von Walerija Nowodworskaja, der in den 1990er Jahren mit ihr zusammengearbeitet hatte – darin schildert er sie sehr positiv als charakterstarke und sympathische Frau, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht habe. Die „Nesawisimaja Gaseta“ gehört zu den großen überregionalen Zeitungen Russlands, natürlich ist auch sie nicht „nesawisimaja“ („unabhängig“), sondern muss sich an den offiziellen Kurs halten, wenn sie nicht zum ausländischen Agenten erklärt werden will. Aber dort erscheinen immer wieder mal von der allgemeinen Propaganda abweichende Kommentare; erst vor ein paar Wochen hat sich die Redaktion einen Schlagabtausch mit dem Außenministerium geliefert, das der Zeitung vorgeworfen hatte, „Fake-News“ über den Krieg zu berichten. Das konnte die Zeitung nicht nur widerlegen, sie griff in ihrer Gegendarstellung auch direkt die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, an und konfrontierte diese mit ihren Äußerungen kurz vor Kriegsbeginn, als sie sich über die Nachrichten in der westlichen Presse, Russland bereite einen Krieg vor, lustig gemacht habe und das als Gräuelpropaganda verhöhnt habe. Eine Woche später seien ihre Worte dann schon durch die Realität widerlegt worden. https://www.ng.ru/answer/2023-07-23/2_8780_fake.html