Ein Jahr, bevor Mickey Mouse seinen ersten Auftritt im amerikanischen Film hatte, drehte ein namenloser kleiner Eisläufer seine Runden in einem sowjetischen Zeichentrickfilm. Ja, es gab in den 1920er Jahren nicht nur den „Panzerkreuzer Potjomkin“, nicht nur Eisenstein und Pudowkin, es gab auch schon die ersten „Multfilmy“, wie Zeichentrickfilme auf Russisch heißen. Wie die „großen“ Spielfilme hatten sie anfangs vor allem das Ziel, aufzuklären, zu bilden und zu agitieren. Der erste bekannte und noch erhaltene Animationsfilm aus dem Jahr 1924 hieß „Sowjetische Spielsachen“ („Советские игрушки“) und ist, anders als der Titel nahelegt, ganz und gar kein Kinderfilm, sondern eine böse Satire auf den gierigen und gefräßigen Nepman, den sowjetischen Bourgeois, gedreht vom Avantgarde-Regisseur Dziga Vertov („Der Mann mit der Kamera“ ist sein bekanntester Film). Auch andere Trickfilme aus diesen frühen Jahren orientierten sich an der Agitprop-Kunst und wandten sich nicht an Kinder, sondern an (zu erziehende) Erwachsene.

„Die Eisbahn“ („Каток“) ist der erste russisch-sowjetische Zeichentrickfilm für Kinder und Kind gebliebene Erwachsene, der einfach nur erfreuen will, ohne politische Botschaft. Oder doch beinahe – denn ganz ohne das Feindbild des dicken Bourgeois geht es auch hier nicht. Aber im Vordergrund steht die lustige Geschichte eines kleinen Kerls, der so gern auf der Eisbahn Schlittschuh laufen möchte, aber kein Geld für die Eintrittskarte hat. Er schaut sehnsüchtig durch einen Spalt in der Mauer einer zarten Eistänzerin zu, bis sich ein vorbeikommender Matrose erbarmt und ihn über die Mauer hebt. Auf der Eisbahn hat die Tänzerin inzwischen einem dicken Unsympath, der gestürzt ist, aufgeholfen. Der lässt sie nicht mehr los, und die Tänzerin muss mit ihm weiterlaufen. Der Kleine bringt den Dicken erneut zu Fall und befreit die Tänzerin, wird aber dann von dem erzürnten Mann mit einem Knüppel verfolgt. Auf der Flucht gerät er in ein Rennen von Eisschnellläufern. In seiner Angst wird er immer schneller, und als der Dicke mit den anderen Läufern zusammenstößt und alle sich verknäulen und stürzen, geht er als Sieger durchs Ziel und wird unter Hurra-Rufen in die Luft geworfen.

Die Akteure sind kaum mehr als Strichmännchen, dargestellt ist nur, was absolut notwendig ist, um die Figuren zu identifizieren und die reduzierte Szenerie zu erschaffen. Iwan Iwanow-Wano und Daniil Tscherkes haben den Film gezeichnet und es geschafft, in sieben Minuten und mit minimalen Mitteln die Geschichte mit viel Witz und Warmherzigkeit zu erzählen und dabei die Bewegungen der Eisläufer, den Tanz, die Pirouetten, den schnellen Lauf so elegant und fließend wiederzugeben, dass man auch fast hundert Jahre später mit Vergnügen zuschaut.

Kritiker verglichen die bewegten Bilder der beiden Künstler mit einer leicht ins Eis gekratzten Grafik oder mit Kreidezeichnungen auf einer Schultafel. Im Original ist der Hintergrund tatsächlich schwarz wie eine Tafel, die Strichzeichnungen sind weiß. Die meisten im Internet verfügbaren Videos sind allerdings invertiert, also schwarz auf weißem Hintergrund. Die einzige Originalversion, die ich finden konnte, ist technisch so mangelhaft und mit abgeschnittenem linken Rand, dass es keinen Spaß macht, sie anzusehen, deswegen hier die andere Version.

Die eigenartige, spitz zulaufende Mütze mit den Ohrenklappen, die der kleine Eisläufer auf dem Kopf hat, ist eine „Budjonowka“, wie sie seit dem Bürgerkrieg von den Soldaten der Roten Armee getragen wurde.

Die Zeichner Iwan Iwanow-Wano (1900 – 1987) und Daniil Tscherkes (1899 – 1971) hatten beide noch eine lange und erfolgreiche künstlerische Karriere in der Sowjetunion, Iwanow-Wano vor allem als Drehbuchautor und Regisseur von Animationsfilmen, Tscherkes als Zeichner, Maler und Plakatkünstler.

Die Idee und das Drehbuch stammen von Nikolai Bartram (1873 – 1931), einem Kunsthistoriker, Maler, Buchillustrator und Spielzeugsammler. Er gründete ein bedeutendes Spielzeugmuseum, das sich in Sergijew Possad (früher Sagorsk) befindet, gegenüber dem berühmten Dreifaltigkeitskloster.