Im ersten Teil zu diesem Thema erwähnte ich ein von Putin kürzlich nicht ganz uneigennützig erlassenes Gesetz: Arbeitsmigranten in Russland erhalten schneller und in einem vereinfachten Verfahren die russische Staatsbürgerschaft, wenn sie sich für ein Jahr für den Militärdienst in der Ukraine verpflichten. Migranten, die schon vor dem Überfall auf die Ukraine eingebürgert wurden, durften aber nur kurz aufatmen: Jetzt fordert Alexander Bastrykin, Chef der staatlichen russischen Ermittlungsbehörde Sledkom (vergleichbar dem amerikanischen FBI), den bereits Eingebürgerten die Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen, wenn sie den Wehrdienst in der Ukraine verweigern. Darüber berichteten in den letzten Tagen etliche russische Medien. Hier die wichtigsten Passagen aus einem Artikel der Zeitung „Wedomosti“:
Migranten, die die Teilnahme an der militärischen Spezialoperation verweigern, soll die russische Staatsbürgerschaft zwingend aberkannt werden, erklärte der Vorsitzende der Ermittlungsbehörde (Sledkom/SK) Russlands, Alexander Bastrykin.
„Solange die militärische Spezialoperation andauert, muss man sie (die Migranten) meiner Meinung nach zum Wehrdienst heranziehen. Wenn jemand als Bürger der Russischen Föderation nicht bereit ist, seine soldatische Pflicht zu erfüllen, muss man ihm die Staatsbürgerschaft wieder entziehen“, sagte Bastrykin in einer Rede auf der militärwissenschaftlichen Konferenz „Die Geschlossenheit der Gesellschaft und die Stärkung der internationalen Beziehungen als Grundlage für die Sicherheit des Landes in der gegenwärtigen Etappe“.
Alexander Bastrykin, Foto: Sledkom RK
Bastrykin wies in seiner Rede auch auf den Anstieg der Kriminalität unter Migranten hin – 2022 sei die Zahl schwerer und besonders schwerer Straftaten, die von Ausländern und Personen ohne Staatsangehörigkeit begangen wurden, um 37 % gestiegen. Seit Beginn dieses Jahres habe sich ihre Zahl um 31 % erhöht. Wie Bastrykin erklärte, sei die ethnische Kriminalität am stärksten in den Großstädten anzutreffen. Als besonders attraktiv für Migranten nannte er Moskau und St. Petersburg, aber auch Irkutsk, Swerdlowsk, Nowosibirsk und Krasnodar. (…)
Am 15. Mai 2023 hatte Präsident Wladimir Putin einen Erlass unterzeichnet, gemäß dem ausländische Staatsbürger, die sich vertraglich zum Wehrdienst in der militärischen Spezialoperation verpflichten, die russische Staatsbürgerschaft in einem vereinfachten Verfahren erhalten können. Vor diesem Erlass galt als notwendige Bedingung für die Einbürgerung ebenfalls die Teilnahme an Kampfhandlungen von mindestens einem halben Jahr Dauer oder eine Verwundung mit anschließender Entlassung aus dem Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen.
Die von Bastrykin angeführten steigenden Zahlen von Straftaten, begangen durch Migranten, relativieren sich sehr rasch, wenn man sie mit den gleichzeitig stark ansteigenden Zahlen der Arbeitsmigration nach Russland in Beziehung setzt. Die folgende Grafik der russischen Statistikbehörde Rosstat zeigt den Zustrom von Migranten in den letzten vier Jahren. Die Überschrift lautet „Wie viele Arbeitsmigranten nach Russland gekommen sind (in Tsd.)“. Die hellen Balken geben die Zahlen für das ganze Jahr an, die dunkleren für das jeweils erste Quartal. Wie ersichtlich, sind nach der „Corona-Delle“ in den Jahren 2020/2021, als es Einreiseverbote gab, in den letzten beiden Jahren wieder erheblich mehr Migranten gekommen; dann steigt natürlich auch die Zahl der Straftaten.
Offenbar wird die Stimmung gegen Migranten zurzeit wieder gezielt angeheizt. In der unabhängigen Petersburger Internet-Zeitung „Bumaga“ erschien Anfang September ein längerer Artikel zu diesem Thema und ein Interview mit der Menschenrechtlerin Walentina Tschupik, die sich insbesondere für Migranten einsetzt. Auch daraus noch einige erhellende Zitate.
Die Polizei verstärkt den Druck auf Migranten: Ausgedehnte Razzien mit Anwendung von Gewalt finden in diesem Jahr regelmäßig in russischen Städten statt, Hunderte von Verfahren wurden angestrengt und Ausländer massenhaft ausgewiesen. In Petersburg nahm man Mitte August ca. hundert Menschen fest, die erst kürzlich die russische Staatsangehörigkeit bekommen hatten, und brachte sie in die Einberufungsbüros.
Razzia in Moskau, Foto: Ivan Stolpnikov/Reuters
Die antimigrantische Politik könnte Teil der Wahlkampagne für die 2024 anstehenden Wahlen sein. Gleichzeitig lockt man Ausländer mit verschiedenen Tricks zum Wehrdienst in die russische Armee – vielleicht, um eine neue Mobilmachung zu vermeiden. „Bumaga“ berichtet, wie sich die Lage der Migranten in Petersburg und in Russland im Laufe des Ukraine-Krieges verändert hat. (…)
Harte Aktionen der Sicherheitskräfte gegenüber Migranten machten schon zu Beginn dieses Jahres Schlagzeilen, als man in der Neujahrsnacht Ausländer im Zentrum von Petersburg festnahm. Damals brachte man nach Angaben der Petersburger Zeitung „Fontanka“ ungefähr zweitausend Menschen auf die Polizeistationen. Kurz nach der Razzia lobte der Chef der Ermittlungsbehörde Sledkom, Alexander Bastrykin, die Petersburger Abteilung des Innenministeriums und sagte, es müsse noch viel mehr Razzien geben: „damit alle wissen, wer hier zu Hause und wer nur zu Gast ist“. (…)
Im März suchte man in Petersburg die Märkte nach illegalen Migranten ab, besonders den Heumarkt, außerdem die benachbarten Hostels. Laut Walentina Tschupik dauerten die Razzien im ganzen Land bis Ende Mai. Ausführlich wurde in den Medien auch über eine Razzia in der Moschee von Jekaterinburg berichtet, dort drangen bewaffnete Polizisten während des Freitagsgebets ein.
Parallel dazu fanden Razzien in Lagerhallen statt, unter anderem in Objekten der Firma Ozon (das russische Pendant zu Amazon, d. Ü.). In Petersburg regte man an, mehrere Dutzend in einer Lagerhalle von Ozon festgenommene migrantische Mitarbeiter durch zu Zwangsarbeit verurteilte russische Staatsbürger zu ersetzen.
Walentina Tschupik erzählt von Razzien auf Schulhöfen, wo alle Schüler mit nicht-slawischem Aussehen festgenommen wurden, um sie zu „überprüfen“, oder wie die Polizei bei Beerdigungen von Migranten auftauchte und die Teilnehmer der Trauerfeier zwang, den Sarg stehenzulassen und mit auf die Wache zu fahren.
Mitte Juli begann eine neue Welle von Razzien. Anfang August durchsuchten Sicherheitskräfte die Hostels von Petersburg, Mitte August wurde in Wsewoloschsk eine Razzia unter Taxifahrern durchgeführt, rund 150 illegale Migranten wurden verhaftet.
Walentina Tschupik: „Jedesmal schlägt man sie, drückt sie mit dem Gesicht in den Schmutz, zwingt sie, sich in Reih und Glied aufzustellen und erniedrigt sie demonstrativ. Man brummt ihnen Bußgelder wegen Rowdytums auf, weil sie angeblich in der Öffentlichkeit gepöbelt hätten – dabei ist das Fluchen für Migranten ganz untypisch.“
Die Menschenrechtlerin deutet die Zunahme von Razzien und Strafanzeigen gegen Migranten als populistische Maßnahmen der Machthaber im Vorfeld der Wahlen, vor allem der Präsidentschaftswahl. Antimigrantische Stimmungen und Aktionen würden von russischen Politikern traditionell als Mittel des Stimmenfangs genutzt.
Nach Belegen für diese Schilderungen muss man in russischen Medien nicht lange suchen, überall findet man schnell und mühelos zahlreiche gegen Migranten gerichtete Artikel, ebenso Berichte über Razzien, die als notwendiger Kampf gegen illegale Migration und Kriminalität dargestellt werden. Die beiden folgenden Bilder sind Screenshots aus einem Video, das eine Razzia in einem Moskauer Hostel zeigt. Das Video wurde von der Moskauer Online-Zeitung „msk1.ru“ am 27. Juli 2023 veröffentlicht.
Über Razzien in Moscheen beklagte sich im Juli öffentlich der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Muftis von Moskau, Ruschan Abbjassow. Er kritisierte, dass unter dem Vorwand, die Papiere überprüfen zu müssen, die Gläubigen von der Polizei beim Freitagsgebet gestört würden – obwohl diese Kontrollen genauso gut vorher oder nachher stattfinden könnten. Außerdem würden die polizeilichen Maßnahmen oft „in sehr rabiater Weise“ durchgeführt.