Historiker und Kochbuchautor in U-Haft

Jede Woche veröffentlichen die russischen Behörden die Neuzugänge in ihren Listen der „ausländischen Agenten“ oder, eine Stufe schlimmer, der „Extremisten und Terroristen“, fast jede Woche werden neue Verhaftungen wegen „öffentlicher Verbreitung von Fakes über die russische Armee“ und „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ bekannt – eine Umschreibung für Kritik am Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Anfang Oktober traf es einen Mann, der seit Kriegsbeginn kein Blatt vor den Mund genommen hat. Sein Name ist Pawel Sjutkin. Er wurde 1965 geboren, ist promovierter Historiker und ein bekannter Experte für die Geschichte der russischen Küche. Zusammen mit seiner Frau Olga hat er mehrere erfolgreiche Bücher geschrieben. Ihre „Wahre Geschichte der sowjetischen Küche“ wurde 2015 als „CCCP Cookbook: True Stories of Soviet Cuisine“ auch ins Englische übersetzt. Er war ein häufiger Gast in Funk und Fernsehen, schrieb regelmäßig Zeitungsartikel, arbeitete für die staatliche Tourismus-Union. Eine Zeitlang hatten seine Frau und er eine eigene Fernsehsendung. Bei der Weltausstellung 2015 in Mailand, die dem Thema Ernährung gewidmet war, gehörte er noch zur offiziellen russischen Delegation.

Pawel Sjutkin (Screenshot von seinem YouTube-Kanal)

Aber in den letzten Jahren, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, äußerte er sich in seinen Social-Media-Kanälen immer wieder sehr kritisch zu politischen Themen. Das brachte ihm zunächst den Titel „ausländischer Agent“ ein, dann beförderte man ihn zum „Extremisten und Terroristen“.

Am 8. Oktober 2025 wurde er verhaftet, mit der Begründung, er habe in seinem Telegram-Kanal „falsche Angaben über Handlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine“ gemacht. Gemeint war ein Beitrag, den er schon vor über drei Jahren, im April 2022, gepostet hatte. Dieser Beitrag ist inzwischen auf seinem Telegram-Kanal nicht mehr auffindbar, aber (das Internet vergisst nichts) es existieren Screenshots, hier vom Telegram-Kanal des Menschenrechtsprojekts OVD:

Kiew wurde bombardiert – Putins Krieg hatte direkte Analogien zu Hitlers Krieg. Jetzt hat er auch sein Babij Jar. Butscha – mehr als zweihundert erschossene Zivilisten – Frauen, alte Männer, Kinder.

„Kiew bombili“ – so heißt es in einem bekannten Lied des Sängers Mark Bernes über den ersten Tag des „Großen Vaterländischen Krieges“. Am 22. Juni 1941 fielen am frühen Morgen völlig unerwartet für die Menschen Hitlers Bomben auf Kiew. Ende September folgte das Massaker an den Kiewer Juden in der Schlucht Babij Jar.

Der Vergleich von Butscha mit Babij Jar wurde von der russischen Justiz als Diskreditierung der russischen Streitkräfte gewertet. Viele andere Äußerungen Sjutkins waren genauso direkt und furchtlos. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn, im März 2022, veröffentlichte er auf seinem Blog im LiveJournal diesen Text:

In den letzten Tagen korrespondiere ich mit vielen meiner Kollegen in Russland und im Ausland – mit Journalisten, Historikern, Wissenschaftlern. Ihnen allen ist klar, dass sich ein Umbruch vollzieht und der Kreml-Faschismus seinem Ende nahe ist. Mir ist es sehr wichtig, dass sie alle auch noch etwas anderes begreifen: In Russland gibt es nicht nur verrückte Putinisten, die einen Krieg anzetteln. Sondern auch anständige Menschen, die Kriegsverbrecher hassen. Solche, die das Land aus der Katastrophe von Hass und Armut befreien werden.

Habt keine Angst, offen zu sprechen. Ich habe keine Angst zu sagen: Ich, der russische Historiker Pawel Sjuktin, bin gegen den Krieg. Gegen Putins Faschismus und gegen seinen Hass auf die ganze Welt. Mein Großvater hat nicht deshalb den Faschismus besiegt, damit er jetzt in Russland zu neuem Leben ersteht.

Und am 25. September 2022 schrieb er auf seinem Telegram-Kanal:

So wie sich Nachkriegsdeutschland unter Qualen vom Nazismus befreite, so wird auch Russland entputinisiert werden. Das Erbe dieser Clique von Dieben und Mördern kann aber nicht einfach ausgelöscht werden. Das russische Volk wird Jahrzehnte brauchen, um sich von seiner fatalen Leidenschaft für diese verbrecherische Macht zu befreien.

Die Festnahme von Sjutkin kam also nicht überraschend. Im Juni 2025 hatte bereits eine Hausdurchsuchung bei ihm stattgefunden, Computer und verschiedene technische Geräte wurden beschlagnahmt. Trotzdem führte er bis zum Schluss seine Social-Media-Kanäle weiter wie immer, trat bei öffentlichen Veranstaltungen auf, gab Interviews.

Nach der Verhaftung nahm seine Frau Olga im Büro der Ermittlungsbehörde noch eine Videobotschaft ihres Mannes an die Öffentlichkeit auf und stellte sie online.

Guten Tag, Freunde, hier ist Pawel Sjutkin. Gerade wurde gegen mich eine Anklage erhoben wegen Diskreditierung von was auch immer … Damit bin ich natürlich nicht einverstanden, aber eigentlich ist das gar nicht so wichtig. Ich will nur daran erinnern, dass jeder ehrliche Schriftsteller, Journalist, Historiker in Russland immer auf das Gefängnis vorbereitet sein muss. Nun, heute ist diese Rolle mir zugefallen. Aber man darf nicht verzweifeln: Der Tag wird kommen, an dem diese Finsternis über Russland verschwindet. Bis bald, Freunde.

„Der Tag wird kommen, an dem diese Finsternis über Russland verschwindet.“

Bis mindestens Anfang Dezember soll Pawel Sjutkin in Untersuchungshaft bleiben. Der Tatbestand der „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ kann mit fünf bis fünfzehn Jahren Gefängnis bestraft werden.

Ein rebellischer Geist

Pawel Sjutkin hatte viele Jahre ein gutes, privilegiertes Leben in Russland, und ihm wäre nichts passiert, hätte er sich weiterhin auf sein Spezialthema beschränkt: die russische Küche und ihre Geschichte von der Kiewer Rus bis in die Gegenwart. Aber er konnte nicht wegsehen, er hat im wahrsten Sinn des Wortes immer „über den Tellerrand“ geschaut, von Anfang an gegen den Ukrainekrieg protestiert und aus seiner Verachtung für Putin nie ein Hehl gemacht. „Unser geopolitisches Genie“, der „kleine Bunker-Zar“, der „Dieb von Petersburg“ – das sind einige seiner wiederkehrenden spöttischen Bezeichnungen für den Präsidenten.

Deswegen und wegen seiner bissigen Kritik am ausufernden russischen Nationalbewusstsein war Sjutkin in der ultranationalistischen Szene schon seit Jahren Zielscheibe von Hass und Hetze. Aber davon hat er sich nie beirren oder einschüchtern lassen, im Gegenteil. Wenn man seine Artikel und Blogbeiträge der letzten Jahre quer liest, merkt man, dass man es mit einem Menschen zu tun hat, der sich nichts vorschreiben lässt und dem es manchmal Spaß macht zu provozieren – wie er selbst einmal in einem Beitrag auf der Bloggerplattform dzen.ru bekannte:

Ich liebe es, unsere Patrioten auf die Schippe zu nehmen. Es funktioniert bei ihnen wie im Experiment des Akademiemitgliedes Pawlow: Man knipst eine Lampe an – und Magensaft wird abgesondert. Jede Anspielung darauf, dass die russische Küche nicht ideal sein könnte, wirkt genau wie diese Lampe, die den bedingten Reflex auslöst. Nur sondert dieses Publikum dann keinen Speichel ab, sondern Gekläff.

Das Gekläff der beleidigten Patrioten hörte sich zum Beispiel so an:

Der russophobe Ukrainefreund Pawel Sjutkin spaziert nicht nur frei durch Petersburg, sondern mästet sich auch noch an staatlichen Geldern – als Experte für touristische Gastronomie bei der Russischen Tourismus-Union. Aber idealerweise sollte er nicht als Parasit in der russischen Küche schmarotzen, sondern die Rezeptur der Gefängnissuppe studieren.

So die Worte eines selbsternannten „Sohnes der Monarchie“ vom patriotischen Telegram-Kanal „Syny Monarchii“ („Söhne der Monarchie“).

Von manchen Ultrapatrioten musste Sjutkin sich sogar vorhalten lassen, dass er als Jude nicht das Recht habe, über die russische Küche zu schreiben. Doch tatsächlich gibt es zurzeit in Russland wohl kaum jemanden, der mehr von diesem Thema versteht.

Pawel Sjutkin spricht über Kaviar, der sich hinter ihm in vielen Dosen stapelt (Screenshot von einem Video auf seinem YouTube-Kanal).

Spezialgebiet: Russische Küche und ihre Geschichte

Seit rund fünfzehn Jahren widmen Olga und Pawel Sjutkin sich hauptberuflich der russischen Küche, ihren Rezepten und ihrer Geschichte. Auf der sehr schön gestalteten Webseite russian-cuisine.info konnte man viele interessante Details erfahren, historische und moderne Rezepte entdecken und mehrere ihrer Bücher lesen und herunterladen. Man konnte – bis vor einer Woche, denn nun ist diese Seite nicht mehr erreichbar. Will man sie aufrufen, erscheint nur noch eine Mitteilung des russischen Internet-Providers Beget: „This page is blocked by service provider.“

Startseite der inzwischen blockierten Webseite über die russische Küche: „Olga und Pawel Sjutkin über Vergangenheit und Gegenwart der russländischen Gastronomie“

Die anderen Seiten der Sjutkins sind noch online (Telegram, LiveJournal, dzen und YouTube – allein bei YouTube sind die beiden mit über 300 Videos vertreten). Man kann nur hoffen, dass das alles jetzt nicht gelöscht oder gesperrt wird.

Bücher von Olga und Pawel Sjutkin (Screenshot von ihrer Seite bei LiveJournal)
Buchcover: „Die wahre Geschichte der russischen Speisen“

Einige ihrer Bücher wurden von der Russischen Staatsbibliothek digitalisiert und online gestellt – eine Ehre, die Büchern übers Kochen eher selten widerfährt und die die beiden Autoren auch stolz auf ihrer Webseite vermeldeten. Zurzeit kann man diese Bücher noch ungehindert durchblättern und lesen.

Zwei Doppelseiten aaus dem Buch über die sowjetische Küche, Screenshots von der Webseite der „Rossijskaja Gosudarstwennaja Biblioteka“

Das letzte Buch, das er (wie die anderen zuvor) zusammen mit seiner Frau geschrieben hat und das 2022 erschienen ist, heißt: „Die russische Küche. Vom Mythos zur Wissenschaft“ und ist eine Art Quintessenz aus den zuvor veröffentlichten.

Es handelt davon, wie die Speisen der Russen sich im Lauf der Geschichte und zusammen mit der Entwicklung der russischen Gesellschaft verändert haben, was die armen Leute aßen und tranken (und warum), was auf die Tische der Reichen kam; welche Rolle dabei die Religion spielte; wie erst die Ideologie der Sowjetmacht und später, nach ihrem Zusammenbruch, ausländische Einflüsse bedeutsam wurden – bis zu neuerdings aufgeflammten und politisch aufgeladenen Auseinandersetzungen darüber, ob es eine „reine“ russische Nationalküche gibt und ob der Borschtsch nun ein russisches oder ein ukrainisches Nationalgericht ist. Ein ganzes Kapitel befasst sich mit der Geschichte des russischen Ofens. Ein anderes ist dem Kwas gewidmet, dem aus Brot hergestellten und in Russland bis heute beliebten Getränk – hier ein kurzer Auszug:

In anderen Ländern gerieten diese Getränke entweder in Vergessenheit oder verwandelten sich in Bier, und so kam es, dass der Kwas bald als rein russische „Erfindung“ galt.

Wie sind derartige Getränke aufgekommen? Viele Länder haben ihre schwach alkoholischen Nationalgetränke. In Deutschland ist es Bier, in Nordfrankreich Apfelcidre. In Griechenland und im antiken Rom gab man sogar Kindern verdünnten Wein zu trinken. Der Grund ist einfach: Mangel an sauberem Trinkwasser. Je dichter ein Land besiedelt war, desto akuter war dieses Problem. Schlechtes Trinkwasser führte zu Epidemien und massenhaften Magenerkrankungen. Aber ein Getränk, das einen Gärungsprozess durchlaufen hatte, wie zum Beispiel Kwas oder Cidre, war vom sanitären Standpunkt aus ungefährlich. (…)

Im 15. Jahrhundert gab es in Russland schon mehr als 500 Sorten dieses altehrwürdigen Getränks: süß oder säuerlich, mit Minze, mit Rosinen, mit Birnen, dickflüssig mit Kohl, gepfeffert, mit Meerrettich oder mit Hirse. Die Russen tranken den Kwas jeden Tag und schrieben ihm sogar die Eigenschaften eines geheiligten Trunks zu. Die Frauen begossen mit Kwas die Bretter in der Banja, als Teil der rituellen Waschung vor der Hochzeit. Die Männer löschten damit Feuersbrünste, die durch Blitzschlag hervorgerufen waren (man glaubte, dagegen könnten nur Kwas und Milch helfen). Auch die Mitglieder der Zarenfamilie tranken Kwas. Michail Golizyn (1687 – 1775), ein Fürst, der zum Hofnarren degradiert worden war, hatte die Aufgabe, dieses Getränk der Zarin Anna Ioannowna zu kredenzen, wofür er den Spitznamen „Kwasnik“ erhielt.

In der letzten Woche war in russischen Medien nichts mehr über Pawel Sjutkins Schicksal zu erfahren. Wenn es neue Nachrichten gibt, werde ich sie hier ergänzen.

Pawel und Olga Sjutkin bei ihrer Lieblingsbeschäftigung (Quelle: Social Media)