Screenshot von der Website „Gespräche über Wichtiges“

Im Herbst 2022 wurde an den russischen Schulen ein neues Fach eingeführt, mit dem etwas sperrigen Namen „Gespräche über Wichtiges“, russisch „Разговоры о важном“. Jeden Montag vor dem eigentlichen Unterricht gibt es seitdem diese zusätzliche Schulstunde – die erste hielt Putin am 1. September 2022 persönlich an einer Schule in Kaliningrad ab.

Das Bildungsministerium und andere offizielle Stellen hatten zuvor erläutert, was unter dem „Wichtigen“ zu verstehen war: die „Stärkung der traditionellen russischen spirituellen und moralischen Werte“, die „Bereitschaft, die Heimat mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“ und die „Akzeptanz der Idee von der aktiven Liebe zur Heimat“.

Was hat man sich im Einzelnen darunter vorzustellen? Welche Inhalte werden dort konkret seit fast drei Jahren jede Woche besprochen? Ich habe danach gesucht – und wurde rasch fündig. Es gibt eine eigene Website „Gespräche über Wichtiges“ mit allen Themen, die bisher durchgenommen wurden, und allen Unterrichtsmaterialien zum freien Download – viele Gigabyte mit Unterrichtsszenarien, Videofilmen, interaktiven Aufgaben und Spielen. Auch auf anderen Seiten wie den Websites von Bildungseinrichtungen oder Fachzeitschriften für Pädagogik sind die Materialien verfügbar.

Die Themen werden für jede Woche von oben vorgegeben, und die Anleitungen sind so detailliert, dass die Lehrerinnen und Lehrer sich über die Aufbereitung des Stoffes und die Strukturierung des Unterrichtsgesprächs nicht den Kopf zerbrechen müssen – sie können sich einfach die Szenarien ausdrucken und sie wie vom Teleprompter ablesen.

Ohnehin haben sie nicht viel Zeit, in die Tiefe zu gehen oder längere Diskussionen zu moderieren: Von den 45 Minuten dieser Unterrichtsstunde sind nämlich die ersten 10 bis 15 für das Hissen der Flagge und das Absingen der Nationalhymne reserviert. Das heißt, die Fahne wird zunächst feierlich hinausgetragen (siehe Bild), dann vor dem Schulgebäude hochgezogen, die Schülerinnen und Schüler stellen sich „in Linie“ auf („линейка“, eine alte sowjetische Tradition) und singen gemeinsam mit der Klassenlehrerin die Hymne.

Screenshot von der Seite des Bildungsministeriums der Republik Karatschai-Tscherkessien

Die Themen beziehen sich fast ausschließlich auf Russland und die russische Bevölkerung – dass es auch noch viele andere Ethnien in der Russischen Föderation gibt, kommt nur am Rande vor. Und noch ein anderes Fazit konnte ich nach etlichen Stunden Lektüre ziehen – strittige Themen, die zu echten, kontroversen Diskussionen führen könnten, sind nicht vorgesehen. In diesen „Gesprächen über Wichtiges“ ist Russland immer ein mächtiges, von allen bewundertes und beneidetes Land ohne Probleme im Inneren.

Probleme bereiten nur die anderen. Die vielen Kriege, die Russland in der Vergangenheit und Gegenwart geführt hat und führt, werden nicht ausgespart, sind aber in dieser Erzählung ausschließlich der Verteidigung des Vaterlandes geschuldet – und bieten zugleich die Chance, Tapferkeit und Heldenmut (Männer) oder Nächstenliebe und Barmherzigkeit (Frauen) zu zeigen. Ordenbehängte Veteranen des „Großen Vaterländischen Krieges“ treten in den Filmen auf, auch vergleichsweise jugendliche Veteranen der „Spezialoperation“ berichten. Die Annexion der Krim ist ebenfalls ein Thema, aber nicht als „Annexion“, sondern als „Wiedervereinigung“ mit Russland, als Rückkehr in den „Heimathafen“, wie es heißt.

Auch die „zivilen“ Themen heben immer die Macht und Größe Russlands hervor; die Liebe zur Heimat und der Stolz auf so ein großartiges Vaterland sollen gestärkt werden.

Themen der „Gespräche über Wichtiges“

Hier eine Liste der in den letzten Monaten von Mai – Januar 2025 behandelten Themen:

  • Werte, die uns verbinden
  • Leben in Bewegung
  • 80. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg
  • Was ist Erfolg?
  • Russlands Medizin
  • Russlands zivile Luftfahrt
  • Tag der Einheit der Völker von Russland und Belarus
  • Dienst durch Kreativität (185. Geburtstag Tschaikowskis)
  • Was heißt es, dem Vaterland zu dienen? (280. Geburtstag von Fjodor Uschakow)
  • Breitensport in Russland
  • Internationaler Frauentag
  • Meine kleine Heimat – Unterricht mit regionaler Komponente
  • Die Arktis – eine Gegend mit Entwicklungspotential
  • Tag des russischen Buchdrucks
  • Tag des Studenten
  • 2025 – Jahr des Verteidigers des Vaterlandes
Wenn man auf ein Plakat klickt, gelangt man zu den Unterrichtsmaterialien – Screenshot von der offiziellen Website der „Gespräche über Wichtiges“

Die Materialien zu den Themen werden in jeweils sechs Varianten für die verschiedenen Altersgruppen bereitgestellt, für Klasse 1-2, Klasse 3-4, Klasse 5-7, Klasse 10-11 und für Berufsschulen. Sie bestehen aus einem ausführlichen, „Szenario“ genannten Unterrichtsentwurf mit wörtlich vorgegebenen Texten für die Lehrkraft, methodischen Empfehlungen, zwei bis drei Filmen von ca. 3 Minuten Länge und „interaktiven“ Aufgaben für die Schüler – Kontrollfragen, Rätsel, Spiele u.ä.

Die Unterschiede zwischen den Varianten betreffen vor allem die Sprache, die dem Alter der Schülerinnen und Schüler angepasst ist, weniger den Inhalt respektive die Botschaft.

Screenshot von der Seite xacavurt.ru

Auf dem Foto oben sieht man eine Gruppe von Kindern einer Schule in Chasavjurt, das ist eine Stadt im Norden Dagestans, nicht weit von der Grenze zu Tschetschenien, mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Die Überschrift lautet: „In den Schulen von Chasavjurt fanden die ‚Gespräche über Wichtiges‘ statt, die dem 10. Jahrestag der Wiedervereinigung der Krim mit Russland gewidmet waren.“

Die Kinder halten Blätter in Form von Sprechblasen in den Händen, auf denen zum Beispiel steht: „Ich ♥ die Krim“, „Zusammen für immer“, „Krim – das ist Russland“. Über der Tafel hängen Bilder, die lauter Symbole für Russland zeigen: Matrjoschkas, die Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale, ein Mädchen mit Kokoschnik (dem traditionellen russischen Kopfputz), ein Akkordeon, russische Fähnchen – aber kein einziges Bild, das mit der regionalen Heimat Dagestan zu tun hat.

Kein Thementag zu Religionen

Ein Thema, zu dem ich gar nichts entdecken konnte, ist die Religion. Da die Russisch-Orthodoxe Kirche eine große Rolle in der Öffentlichkeit spielt und Putin gern seine Frömmigkeit demonstriert, Osterkerzen entzündet und Ikonen küsst, hatte ich eigentlich erwartet, auch zu diesem Thema etwas zu finden.

In der Russischen Föderation gibt es viele verschiedene Religionsgemeinschaften, die mit Abstand größte ist die Russisch-Orthodoxe Kirche, dann folgt der Islam, dem 2010 rund 12 % der Bevölkerung angehörten, Tendenz steigend. Laut Wikipedia werden 2030 etwa 14,4 Millionen Menschen in Russland muslimisch sein.

Warum fehlt ein so wichtiges Thema? Ich vermute, man will in den Gebieten und Republiken, wo der Islam die vorherrschende Religion ist, keine unliebsamen Diskussionen bei den Schülern auslösen, und natürlich hat man auch kein Interesse daran, den Islam als gleichberechtigte Religion neben der Russisch-Orthodoxen Kirche darzustellen – und hat deshalb wohl lieber ganz auf dieses konfliktträchtige Thema verzichtet.

Reaktionen von Eltern und Lehrern

Ein Jahr nach der Einführung der „Gespräche über Wichtiges“ ergab eine Umfrage von Forbes.ru in der Bevölkerung 63 % gedämpfte Zustimmung („eher positiv“). Anfangs hatte es allerdings durchaus Protest gegeben – denn die Lehrerinnen und Lehrer bekamen die zusätzliche Stunde nicht vergütet, die Kinder (und mit ihnen viele Eltern) mussten montags früher aufstehen, und viele sahen keinen Mehrwert im Inhalt der Stunden. In einem Kommentar in den sozialen Medien formulierte ein Schüler es sinngemäß so: Erst kommt das Wichtige und anschließend die unwichtigen Fächer wie Mathe, Biologie usw.

Im November 2022 erschien in der Jekaterinburger Online-Zeitung e1.ru ein kritischer Beitrag einer Lehrerin, anonym, weil sie wohl Probleme befürchtete. Einige Sätze daraus seien zitiert:

Wer diese Unterrichtsstunden konzipiert hat, kann nur eine sehr unklare Vorstellung davon haben, was Schule ist und wie echte Kinder sind.

Ich habe zum Beispiel das Thema „Tag des Vaters“ nicht durchgenommen: In meiner Klasse sind von 25 Familien 13 nicht vollständig. Die Hälfte der Kinder haben gar keinen Vater in ihrer Familie – und schon funktioniert der ganze Leitfaden nicht mehr. (…)

Wir widmen jetzt die Hälfte der Zeit in dieser ersten Stunde am Montag den Problemen in unserer Klasse, denn die muss man ja auch irgendwann besprechen. Wenn die Zeit reicht, reden wir auch über „Wichtiges“, allerdings hat jede Klasse ihr eigenes „Wichtiges“. Für mich und meine Schüler ist jetzt zum Beispiel die Berufsorientierung interessanter als die traditionellen Werte.

„Gespräche über Wichtiges“ bald auch im Kindergarten?

Mittlerweile hat Putin angekündigt (oder vielleicht sollte man sagen, angedroht), die „Gespräche über Wichtiges“ auch auf Vorschulkinder ab fünf Jahren auszuweiten und als verpflichtende Unterrichtsstunde in Kindergärten einzuführen. Es scheint ihm ein Herzensbedürfnis zu sein, seine Bevölkerung so früh wie möglich nach seinen Vorstellungen zu prägen. Anfang Oktober 2024 sagte er bei einer Veranstaltung anlässlich der Verleihung des Preises „Lehrer des Jahres“ zu den anwesenden Pädagogen:

Nicht zufällig gibt es im Volksmund die Redewendung „das hat jemand mit der Muttermilch eingesogen“. Das soll heißen, dass man die Basiswerte, die grundlegenden Dinge, natürlich verständlich und altersgerecht, auch den kleinsten Kindern nahebringen sollte und die Begriffe Heimat, Land mit Mama, Papa, Oma und Opa, Bruder und Schwester verbinden muss.

Und erst vor wenigen Wochen, am 22. Juni 2025, brachte er bei einem Treffen mit den Redakteuren des neuen einheitlichen Geschichtsbuches für die Mittelstufe (das es bisher nur für die Oberstufe gab) die Sprache erneut auf die Vorschulkinder:

Die von Ihnen verfassten Bücher werden ab der fünften Klasse aufwärts genutzt werden. Aber davor? Das Bewusstsein des Menschen, eines kleinen Kindes, wird ja erheblich früher geformt. Ich rede jetzt gar nicht von der ersten, zweiten, dritten, vierten Klasse. Es kommt schon auf die Vorschulbildung an.

In allen Schulen wird jetzt die russische Flagge gehisst, und es findet entsprechender Unterricht statt. Aber diese Arbeit mit den ganz kleinen Kindern zu organisieren dürfte schwieriger sein, weil man ihnen die Informationen natürlich unter Berücksichtigung der spezifischen Eigenschaften eines Kleinkindes und seiner Bedürfnisse vermitteln muss und dafür die Fachkenntnisse von Kinderpsychologen braucht.

Bei dieser Gelegenheit wurde von ihm und den Verfassern der neuen Geschichtsbücher auch heftig kritisiert, dass an russischen Schulen viel zu viele voneinander abweichende Geschichtsbücher (angeblich 54 verschiedene) in Gebrauch seien. Das müsse dringend geändert und vereinheitlicht werden.

Ein Haus mit patriotischem Dach

Zum Schluss dieses ersten Teils zum Thema ein Beispiel einer „interaktiven Aufgabe“ für die Kleinen (1. bis 4. Schuljahr) vom 19. Mai 2025 aus dem Themenblock „Werte, die uns verbinden“.

„Verschiebe die traditionellen Werte des russländischen Volkes auf die Abbildung!“ lautet die Aufgabe. Zur Auswahl stehen: Patriotismus, Familie, Fleiß, Lüge, gute Lebensregeln, Kollektiv und Freundschaft, Leben, Verrat.

Im Bild verwandeln sich die Begriffe dann in die Teile eines Hauses, Grundlage ist das Leben, mit Arbeit und Fleiß öffnet man die Tür, die Fenster sind Familie und Freunde, Lüge und Verrat bleiben außen vor – und das krönende Dach über allem ist der Patriotismus.

Aktualisierung: Oben hatte ich geschrieben, dass die „Gespräche über Wichtiges“ demnächst auch in Kindergärten stattfinden sollen – dieser Plan hat jetzt schon, schneller als erwartet, konkrete Formen angenommen. Die „Nesawissima Gaseta“ berichtete Ende August, dass bereits im Schuljahr 2025-2026 in 22 ausgewählten Regionen Russlands ein entsprechendes Pilotprojekt startet. Diese Regionen reichen von Kaliningrad im Westen bis zur Region Amur in Fernost, Moskau gehört dazu und auch – wenig überraschend – zwei der in der Ukraine annektierten Gebiete, Donezk und Lugansk.