Zwei Themen der „Gespräche“, die jeden Montag in allen russischen Schulen stattfinden, möchte ich im zweiten Teil detaillierter vorstellen: den „Frauentag“, der am 3. März 2025 behandelt wurde, und den „Tag der Helden des Vaterlandes“, der schon zweimal Unterrichtsgegenstand war, am 19. Dezember 2022 und am 9. Dezember 2024.

Der „Internationale Frauentag“

„Internationaler Frauentag – Starke Familie – Priorität des Spirituellen über das Materielle“

Zu jedem Thema gibt es ein Plakat, das im Klassenzimmer aufgehängt wird. Auf dem Bild zum Frauentag erblickt man auf pastellig geblümtem Hintergrund eine schöne Dame mit Perlenkette, Hochsteckfrisur, einem Fächer in der rechten Hand und einer atemberaubend eng geschnürten Taille. Es ist die Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna, Schwägerin des letzten Zaren Nikolai II. und Schwester der Zarin Alexandra, eine geborene Prinzessin Elisabeth von Hessen-Darmstadt (1864 – 1918). Nach dem Tod ihres Mannes, der 1905 bei einem Attentat ums Leben kam, stiftete sie ihren Besitz für wohltätige Zwecke und gründete ein Kloster, benannt nach den gastfreundlichen Schwestern Martha und Maria aus dem Neuen Testament. Zum Kloster, dem sie selbst als Äbtissin vorstand, gehörten ein Krankenhaus, ein Waisenhaus und eine Apotheke für Bedürftige. 1918 wurde sie von den Bolschewiken ermordet.

„Ihr Weg“, heißt es im Leitfaden für den Unterricht, „ist eine Geschichte der Barmherzigkeit, des Mitleids und der inneren Kraft, die sie zum Symbol der Selbstaufopferung gemacht haben. Die Großfürstin bewies, dass wahre Größe nicht in Reichtum und Macht liegt, sondern in der Sorge um den Nächsten.“

Die Botschaft, dass Barmherzigkeit, Mitleid, Fürsorge die wichtigsten Eigenschaften einer wahren Frau sind, wird in diesem Themenblock vielfach und in verschiedenen Varianten wiederholt. Als Ehefrau und Mutter ist die Frau außerdem die „Hüterin des heimischen Herdes“ („хранительница домашнего очага“).

Eigentlich soll der 8. März, an dem der Frauentag weltweit gefeiert wird, an den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung erinnern – ein Kampf, der ja noch andauert. Für Russland, wird aber sogleich erklärt, ist dieser Kampf längst gewonnen und Geschichte: Heute hätten die Frauen die Gleichberechtigung erreicht und ihnen stehe alles offen. Also jedenfalls in Russland.

Ein Auszug aus dem „Szenario“ für die Lehrerinnen und Lehrer der Klassen 5-7:

Lehrer: Es stimmt, zu manchen Zeiten waren die Frauen, was Bildung, Berufstätigkeit, Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben betrifft, eingeschränkt.

Heute fliegen die Frauen ins Weltall, gehen zur Universität, befassen sich mit wissenschaftlichen Forschungen und nehmen leitende Posten ein.

Das heißt, die Bedeutung des Feiertages hat sich verändert. Aber wir lieben und begehen ihn weiterhin. Wie hat sich der Sinn dieses Tages geändert?

(Antworten)

Lehrer: Richtig, heute ist der 8. März in erster Linie ein Tag der Dankbarkeit gegenüber den Frauen. Wofür dankt man den Frauen besonders?

(Antworten)

Lehrer: Natürlich, wir danken unseren geliebten Frauen für die Liebe und Aufmerksamkeit, für die Güte und Wärme, die sie uns jeden Tag schenken. (…)

Im Lauf der Jahrhunderte war und ist die Frau bis heute vor allem die Hüterin des heimischen Herdes und eine gute, zärtliche, geduldige, verständnisvolle Mutter.

Der Leitfaden für die Klassen 10-11 führt das noch wortreicher aus:

Lehrer: Ihr werdet ihnen (gemeint sind die Mütter, Großmütter, Schwestern, Freundinnen) natürlich für ihre Zärtlichkeit, Sanftmut, Feinfühligkeit danken, für ihre Gabe der Fürsorge, Aufmerksamkeit, Güte und Mutterliebe, für das, was immer und in allen Zeiten für jeden einzelnen Menschen wie auch für die ganze Gesellschaft wertvoll war. Könnt ihr alle diese Eigenschaften in einem Wort zusammenfassen?

(Antworten)

Lehrer: Fraulichkeit (russisch „женственность“). Dieses Wort umfasst alle die Eigenschaften, die wir eben aufgezählt haben. Fraulich zu sein bedeutet nicht, irgendwelchen Stereotypen zu entsprechen, es bedeutet, den Werten, die wichtig für dich sind, treu zu sein. Fraulichkeit hat nichts mit dem Aussehen oder dem Benehmen zu tun, sondern meint den inneren Zustand, die Gabe zu lieben und sich zu kümmern.

Es folgt ein kurzer Film (für alle Altersstufen derselbe), in dem ein Interview mit Oksana Garnajewa gezeigt wird. Frau Garnajewa sorgt für 22 Kinder, teils eigene, teils adoptierte, und ist Vorsitzende eines Wohltätigkeitsvereins für Waisenkinder und kinderreiche Familien namens „Russische Birke“.

„Oksana Michailowna Garnajewa, Vorsitzende des Wohltätigkeitsfonds ‚Russische Birke‘, Mama von 22 Kindern“

Auf die einleitende Frage, worin sie die Bedeutung des Frauentages in der Gegenwart sehe, erwidert sie, er habe für sie nichts mit Revolution oder ähnlichem zu tun, sondern sei in erster Linie „die Möglichkeit, seinen Lieben Freude zu schenken“, „ein guter, familiärer Feiertag“. Clara Zetkin, eine der Frauenrechtlerinnen, die diesen Tag vor über hundert Jahren ins Leben gerufen haben, wäre sicher sehr erstaunt über eine solche Aussage gewesen. Schon zu Sowjetzeiten war die revolutionäre Vorgeschichte des Tages allerdings in den Hintergrund gerückt, und er war nur noch eine Art erweiterter Muttertag, an dem alle Frauen, ob Mütter, Ehefrauen, Freundinnen oder Arbeitskolleginnen, Blumen und Pralinen geschenkt bekamen.

In den oberen Klassen werden dann die Ergebnisse einer neueren Umfrage unter jungen Mädchen und Frauen zwischen 14 und 20 Jahren vorgestellt und besprochen; der Lehrer fasst zusammen:

So wichtig Bildung, Karriere, Selbstverwirklichung auch sind, für die Teilnehmerinnen der Umfrage hat die Gründung einer starken Familie oberste Priorität. In allen Zeiten war die Sorge um Familie, Kinder und deren Erziehung eine der wichtigsten Aufgaben der Frau und ist es bis heute geblieben. Denn gerade in der Familie wird die Grundlage für die Eigenschaften eines Menschen gelegt, die seine Zukunft bestimmen, und das bedeutet, auch die Zukunft unseres Landes.

Nun sollte es wohl auch die begriffsstutzigste Schülerin begriffen haben, wo ihr Platz ist.

Abschließend, als hätten die armen Mädchen bis hierher noch nicht genug sentimentale Allgemeinplätze anhören müssen, gibt es noch ein besonders grässliches Gedicht von Konstantin Balmont (der viele wunderbare Gedichte geschrieben hat, aber dieses gehört definitiv nicht dazu): „Die Frau“.

Die Frau ist bei uns, wenn wir geboren werden,
Die Frau ist bei uns, wenn uns die letzte Stunde schlägt.
Die Frau ist das Banner, wenn wir ins Feld ziehen,
Die Frau ist die Freude, wenn wir die Augen öffnen.

Der Gerechtigkeit halber will ich noch erwähnen, dass auch einige Frauen vorgestellt werden, die nicht in das oben beschriebene Bild der „Fraulichkeit“ passen: Katharina die Große, die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die Astronautin Walentina Tereschkowa, die Ballerina Maja Plissezkaja, die Botanikerin Olga Fedtschenko. Allerdings kommen sie in allen Klassen und Altersstufen immer nur am Anfang der Stunde vor und werden eher pflichtschuldig und äußerst knapp gewürdigt, damit man dann schnell zur eigentlichen Botschaft der neuen alten „Fraulichkeit“ kommen kann.

Ob diese Botschaft bei den Schülerinnen von heute ankommt? Man darf es bezweifeln.

Der „Tag der Helden des Vaterlandes“

„Tag der Helden des Vaterlandes – Patriotismus – Dienst für das Vaterland – Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes“

Diesen Feiertag gibt es seit 2007, er knüpft an einen vorrevolutionären Feiertag an, den „Tag der Kavaliere des Georgsordens“, den Katharina die Große 1789 im Zusammenhang mit der Verleihung der höchsten militärischen Auszeichnung, des Georgsordens, einführte. Orden und Feiertag gab es bis 1917, dann schafften die Bolschewiki beides ab. Nun wurden sie neunzig Jahre später, in Zeiten neu erwachter Vaterlandsliebe, wieder zum Leben erweckt. Anders als zu Zarenzeiten kann der Orden heute auch an zivile Personen für besondere Verdienste um den Frieden und die öffentliche Sicherheit verliehen werden.

Was sind Helden?

Das erklärt der Lehrer oder (meistens) die Lehrerin den Kleinen in den ersten Schuljahren so:

Helden vollbringen große Taten nicht für Ruhm oder Reichtum, sondern für das Wohl aller. Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit gehen immer Hand in Hand mit Kühnheit und Mut.

„Auf sie ist Russland stolz“ ist ein Video übertitelt, das den Schülern vom 1. bis zum 4. Schuljahr gezeigt wird. Zu beeindruckenden Kamerafahrten über weite russische Ebenen, Wälder und Flüsse hört man den Sprecher sagen:

Russland ist ein schönes, reiches und unermesslich großes Land, deshalb wollten es schon viele besitzen. Aber immer fanden sich Helden, die unsere Heimat verteidigten und für ihre Kraft, Entschlossenheit und Kühnheit berühmt waren. Viele überwanden gewaltige Entfernungen und Hindernisse, um unserem großen Reich Ruhm zu bringen.

Minin und Poscharski zum Beispiel befreiten Moskau von den polnischen Invasoren, Suworow verlor nicht eine einzige Schlacht, Nikolai Pirogow wandte als erster die Narkose an, Pawel Nachimow organisierte die Verteidigung von Sewastopol, und Georgi Schukow befehligte die Schlachten im Großen Vaterländischen Krieg. Aber es gibt auch in der Gegenwart Helden. Beispielsweise den Piloten Damir Jussupow, der sein Flugzeug trotz versagender Motoren in einem Maisfeld zu Boden brachte und mehr als 200 Menschen das Leben rettete.

Russland ist ein großes Land, in dem auch in Zukunft immer Helden geboren werden!

Als Unterrichtsmaterialien werden Bilder und Sprechblasen zum Ausschneiden verteilt, mit denen die Tafel beklebt wird oder die die Kinder hochhalten und dabei den jeweiligen Text aufsagen.

Auf den Sprechblasen stehen folgende Texte:

  • Helden sind die Stütze unseres Landes!
  • Die Erinnerung an euch wird immer lebendig sein!
  • Danke für die Verteidigung unserer Heimat!
  • Danke für eure Tapferkeit!
  • Euer Heldentum lebt in unseren Herzen!
  • Ein Held ist der, der nicht abseits steht.
  • Wir sagen danke für einen friedlichen Himmel!

Putins „Spezialoperation“

Mit den älteren Schülerinnen und Schülern ab der 5. Klasse wird auch der Ukrainekrieg oder die „militärische Spezialoperation“ ausführlich besprochen und mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“, wie in Russland der Zweite Weltkrieg genannt wird, verglichen.

Lehrer: Heute sind wir Zeugen einer neuen Seite in der Geschichte Russlands – der militärischen Spezialoperation. Wieder muss unser Land nicht nur seine Unversehrtheit und Souveränität verteidigen, sondern auch die Prinzipien der multipolaren Welt. Und alle unsere Jungs, die sich in der Zone der Spezialoperation befinden – Soldaten, Freiwillige, Volontäre – dürfen zu Recht als Helden gelten.

Von einer Präsentationsfolie spricht Putin zu den Kindern und lässt dabei nebenher einfließen, dass Helden selbstverständlich auch immer Sieger sind:

Wir müssen alles tun, dass die Kinder von heute und überhaupt alle unsere Bürger stolz darauf sind, die Erben, Enkel, Urenkel von Siegern zu sein, dass sie die Helden ihres Landes und ihrer Familie kennen, dass alle begreifen, das ist Teil unseres Lebens.

Ein ganz besonderer Held der „Spezialoperation“

Zu den Materialien für die 10. bis 11. Klasse gehört ein Video, das einen sehr umstrittenen Mann als Helden präsentiert: Kirill Stremoussow, ein im November 2022 bei einem Autounfall ums Leben gekommener Ukrainer aus dem Gebiet Donezk, der sich aber als Russe verstand und ein großrussisches Reich propagierte. Von April 2022 bis zu seinem Tod war er stellvertretender Gouverneur der von Russland bereits ausgerufenen, aber noch gar nicht eroberten Republik Cherson in der östlichen Ukraine.

Im Video wird er als „Stimme des russischen Cherson“ („Голос русского Херсона“, wie hier auf dem Filmtitel) vorgestellt, dessen Heldentat darin bestanden habe, die Menschen in Cherson über die „Ukronazis“ und ihre „Fake News“ aufzuklären.

Tatsächlich verbreitete er selber auf seinen Social-Media-Kanälen, bei Telegram und YouTube, alle möglichen Fake News, zum Beispiel über angebliche Biolabore der Amerikaner in der Ukraine. YouTube blockierte seinen Kanal schließlich.

Sein kurzes Leben (bei seinem Tod war er erst 45 Jahre alt) verlief stürmisch. Eine Zeitlang war er Geschäftsmann und Chef einer Firma für Fischfutter, dann gründete er eine Nachrichtenagentur namens „Tawrija News“ und stellte in dieser Funktion illegale Presseausweise her, die man auf seiner Website bestellen konnte. Mehrere Jahre verbrachte er in den USA. Nach seiner Rückkehr in die Ukraine bot er Seminare für gesunde Lebensführung (mit esoterischem Einschlag) an. Während der Corona-Epidemie zog er als leidenschaftlicher Impfgegner gegen die Impf- und gegen die Maskenpflicht zu Felde.

Politisch unterstützte er den russlandfreundlichen Janukowytsch, später kandidierte er selbst als Parteiloser für das ukrainische Abgeordnetenhaus und für den Posten des Bürgermeisters von Cherson – mit überschaubarem Erfolg (beide Male blieb er unter 2 % der Stimmen). Immer wieder war er in Auseinandersetzungen mit der Polizei und in Schlägereien verwickelt.

Dass sein Tod durch einen Verkehrsunfall verursacht wurde, wird von manchen angezweifelt, es gibt die Vermutung, er sei ermordet worden. Kurz vor seinem Tod hatte er noch heftig gegen den damaligen russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu ausgeteilt. Ein Offizier hätte sich an Schoigus Stelle längst erschossen, schrieb er damals auf seinem Telegram-Kanal. Für die russischen Machthaber war Stremoussow jedenfalls ein schwierig zu kontrollierender Verbündeter, ein unberechenbarer Extremist und Provokateur vom Schlage eines Jewgeni Prigoschin oder Igor Strelkow.

Sein Leben böte reichlich Material für eine umfangreiche Biographie und für interessanten Gesprächsstoff – nur leider erfahren die Schüler von all dem nichts, ihnen wird er nur als fader Held vorgestellt, der Russland mit „Kühnheit, Ergebenheit und Wagemut“ gedient habe und dem Putin posthum die Tapferkeitsmedaille verlieh.

Der tapfere Panzer Aljoscha

In allen Klassen ab dem 5. Schuljahr wird den Kindern ein Video über den Panzer Aljoscha und seine heldenhafte Besatzung vorgeführt. Dieser Panzer älterer Bauart (T-80) hat im August 2023 eine Kolonne der Ukrainer, bestehend aus zwei Panzern und sechs weiteren gepanzerten Fahrzeugen, im Alleingang aufgehalten und zerstört. Hier sieht man ihn am Anfang des Videos in voller Tarnung, kurz bevor er aus der Deckung kommt und aufs freie Gelände fährt.

Für diese Heldentat bekam er einen eigenen Namen, eben Aljoscha, und die drei Mitglieder der Besatzung, ein Tatare, ein Jakute und ein Russe, wurden von Putin mit Handschlag und dem Orden „Held Russlands“ geehrt. Mittlerweile genießt der Panzer im Patriotischen Park bei Moskau seinen Ruhestand, siehe Foto unten. Im „Stern“ hat damals ein Militärexperte einen ausführlichen Artikel zu Aljoscha geschrieben.

Aljoscha und seine Besatzung, Screenshot von der Website der „Komsomolskaja Prawda“

Auch in einem in Russland sehr erfolgreichen Lied wird Aljoschas Heldentat („einer gegen acht“) gewürdigt. Man findet das Lied an vielen Stellen im Internet, hier ein Link zu YouTube, wo man zur Musik auch die ganze militärische Aktion im (allerdings sehr unscharfen) Film verfolgen kann.

Und zum Schluss: Wie sich die Bilder gleichen

Links eine russische Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg, rechts ein aktuelles Foto aus einem russischen Kindergarten, mehr als hundert Jahre später.

Die von mir zitierten und übersetzten Texte und Bilder zu beiden Themenkomplexen findet man auf der Homepage der Seite „Gespräche über Wichtiges“.