RUSSLAND HISTORISCH

Die „Italia“ fliegt zum Nordpol

Als Umberto Nobile am 23. Mai 1928 mit dem imposanten Luftschiff „Italia“, das er selbst konstruiert hat, zum Nordpol aufbricht, ist er bereits eine nationale Berühmtheit.

1885 in Lauro bei Neapel geboren, studierte Nobile Mathematik, Physik und Ingenieurwissenschaften und spezialisierte sich auf Aeronautik. Im Ersten Weltkrieg arbeitete er als Konstrukteur von militärisch nutzbaren Luftschiffen und wurde zum Oberstleutnant ernannt. 1926 tat er sich mit dem norwegischen Polarforscher und Bezwinger der Antarktis Roald Amundsen zusammen. Im Luftschiff „Norge“ starteten sie in Spitzbergen und überflogen mit ihrer Mannschaft zum ersten Mal den Nordpol. Weltweit wurde darüber berichtet, Nobile und Amundsen waren Helden der 1920er Jahre, deren Namen jedes Kind kannte. Auf dieser Autogrammkarte sieht man Nobile mit seinem Hund Titina, der ihn jahrelang überallhin begleitete, auch auf die gefährlichen Expeditionen.

Nobile zerstritt sich in der Folge mit Amundsen, und die nächste, noch kühnere Expedition unternahm er zwei Jahre später schon ohne den Norweger. Sein Ziel war, den Nordpol nicht nur zu überfliegen, sondern dort zu landen. 15 Besatzungsmitglieder, 13 Italiener (darunter mit Ugo Lado auch ein Journalist), ein Schwede und ein Tscheche, begleiten ihn. Titina ist natürlich auch mit an Bord sowie ein schweres großes Kreuz, das ihnen der Papst mitgegeben hat, damit sie es auf dem Nordpol aufstellen.

Am 24. Mai 1928 erreichen sie den Nordpol und versuchen zu landen, aber schlechte Sicht und heftige Windböen hindern sie daran. Zwei Stunden kreisen sie über dem Pol, bevor sie sich zum Rückflug entschließen. Das Wetter wird immer schlechter, und am Morgen des 25. Mai drückt eine Bö die „Italia“ abrupt nach vorn und nach unten, sodass die vordere Gondel, von der aus das Luftschiff gesteuert wird, auf dem Eis aufschlägt und zerbricht. Die zehn Insassen stürzen heraus, einer kommt dabei ums Leben, Nobile selbst erleidet mehrere Knochenbrüche. Nach dem Sturz löst sich das nun leichter gewordene Luftschiff mit der Wasserstoffhülle wieder vom Boden, steigt mit der unversehrten zweiten Gondel, in der sich noch sechs Männer befinden, wieder auf und driftet, steuerlos geworden, ab. Weder Schiff noch Insassen wurden jemals gefunden.

Titelbild der Sonntagsbeilage des „Corriere della Sera“, April 1928

Ein rotes Zelt, etwas Proviant, verschiedenes Werkzeug, ein Revolver (mit dem sie später einen Eisbären erlegen werden) und ein Kurzwellensender sind den Schiffbrüchigen geblieben. Sie senden sofort SOS in alle Welt. Nach zwölf Tagen, am 6. Juni, fängt ein russischer Amateurfunker ihre Signale endlich auf und gibt sie weiter. Nun beginnt eine beispiellose internationale Rettungsaktion. Schiffe aus Italien, Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark versuchen, den Unglücksort zu erreichen. Einem italienischen Piloten gelingt es, Proviant und warme Decken abzuwerfen. Ein Schwede namens Einar Lundborg schafft es mit einem kleinen, mit Kufen versehenen Flugzeug, einer Fokker, auf dem Eis zu landen. Er nimmt den schwer verletzten Nobile an Bord und fliegt ihn nach Spitzbergen aus, kehrt dann zurück und muss nach einer Bruchlandung selbst auf Rettung warten. Roald Amundsen startet zu einem Erkundungsflug – und kommt dabei ums Leben.

Der Eisbrecher „Krassin“ bringt die Rettung

Fast zwei Monate müssen die Verunglückten ausharren, dann naht endlich die Rettung. Der russische Eisbrecher „Krassin“ hat es als einziges Schiff geschafft, sich einen Weg durch die Eisschollen zu bahnen, und kann acht überlebende Männer an Bord nehmen. Damit nicht genug, kommt er auf dem Rückweg noch einem deutschen Passagierschiff zu Hilfe: Die „Monte Cervantes“ mit rund 1500 Touristen und 325 Besatzungsmitgliedern an Bord war von Eisschollen leck geschlagen worden. Die Passagiere brachte man noch sicher ans Ufer und rief dann per Funk Hilfe herbei. Die „Krassin“ kommt, hilft, das Schiff leerzupumpen und die Schäden zu reparieren, und begleitet die „Monte Cervantes“ weiter bis Hammerfest. (1930 ging die „Monte Cervantes“, die erst 1928 vom Stapel gelaufen war, vor Südargentinien endgültig unter, was ihr den Namen „Titanic des Südens“ einbrachte.)

Der Eisbrecher „Krassin“ ist seitdem bis heute ein legendäres Schiff, auf das die Russen kolossal stolz sind. 1916 war es im Auftrag des Zaren von der britischen Werft Armstrong, Whitworth & Co. in Newcatle-upon-Tyne gebaut worden und trug im ersten Jahrzehnt seiner Existenz den Namen des legendären russischen Recken Swjatogor. 1927 wurde es nach dem sowjetischen Diplomaten Leonid Krassin umbenannt. Zu seiner Zeit war das Schiff das größte und stärkste seiner Art in der Welt. Die erfolgreiche Hilfsaktion ist damals für die junge Sowjetunion eine besondere Genugtuung. Die Zeitschrift „Besboschnik“ schreibt in einer zeitgenössischen Reportage:

Die Nachricht von der Sache „Krassin“ flog um die ganze Welt. An diesem Tag sprach man von der „Krassin“ und nur von der „Krassin“. Die Ruhmestat der „Krassin“ weckte Begeisterung beim weltweiten Proletariat. Selbst unsere erklärten Feinde sehen sich gezwungen, die großartigen Heldentaten der sowjetischen Seeleute und Flieger anzuerkennen.

Umberto Nobile in der Kritik

Weniger angetan zeigte man sich von Umberto Nobile. Man nahm ihm übel, dass er sich als erster hatte retten lassen, obwohl doch ein Kapitän eigentlich als letzter von Bord geht, man nannte ihn einen Faschisten (was er nicht war, später stand er sogar einmal auf der Wahlliste der italienischen Kommunisten) und behauptete:

Nobile fehlte es an Seriosität und Sachkenntnis. Er hatte auch keine seriösen Polarforscher dabei. Anstelle erfahrener Leute nahm Nobile einen Popen, ein Kreuz und ein Amulett des römischen Papstes mit.

Titelbild der Zeitschrift „Besboschnik“, November 1928

Der „Pope“ ist eine Erfindung, das Kreuz stimmt. Der hier zitierte „Besboschnik“ (wörtlich „Der Gottlose“) war eine sowjetische Wochenzeitschrift, die in nicht besonders subtiler Weise für den Atheismus und gegen alles, was mit Religion zu tun hatte, stritt. Auf dem Titelbild der Zeitschrift haben sich zwei Eisbären das Kreuz (samt Hakenkreuz für den angeblichen Faschisten) zum Spielen geholt. So verwundert denn auch das Fazit des Artikels nicht:

Im Unterschied zur „Italia“, die mit einem Kreuz und dem Segen des römischen Papstes aufbrach und nur Schrecken und nichts sonst brachte, bewirkte die „Krassin“ etwas Wertvolles und Größeres. Die „Krassin“ zerstreute die Nebel der Lüge und Verleumdung, mit denen die Bourgeoisie die Sowjetunion einhüllte.

Und noch eine Legende zerstreute die „Krassin“: Nicht von Gott hängen diese oder andere von Menschen in Angriff genommene Forschungen ab, sondern von guter Organisation und technischer Ausbildung.

Gegen den Vorwurf der Unfähigkeit und Feigheit musste sich Umberto Nobile auch in Italien wehren. Ein Ehrengericht, dessen Einberufung er selbst gefordert hatte, entlastete ihn jedoch nicht, man warf ihm Pflichtverletzung vor. Der tief gekränkte Nobile verließ 1931 Italien und arbeitete einige Jahre in der Sowjetunion, später in den USA. Nach dem Sturz Mussolinis kehrte er nach Italien zurück, wurde zumindest teilweise rehabilitiert und lehrte seitdem an der Universität Neapel. Noch in den 1960er Jahren führte er Prozesse, um seine Ehre wiederherzustellen. 1978 starb er hochbetagt in Rom.

Der Eisbrecher – ein Held der Sowjetunion

Der Eisbrecher „Krassin“ hatte eine lange ehrenvolle Karriere, er tat bis 1972 seinen Dienst, wurde dann bis 1989 vor Spitzbergen als schwimmendes Elektrizitätswerk genutzt und ankert seitdem als Museumsschiff auf der Newa in St. Petersburg. Die Erinnerung an die erfolgreiche Rettungsaktion wurde über all die Jahre hinweg wachgehalten. Schon 1928 entstand ein sowjetischer Dokumentarfilm („Heldentat auf dem Eis“ / „Подвиг на льдах“), man verewigte das Schiff auf Gemälden, Gedenkmünzen, Briefmarken, Tellern und in Büchern. Auch das erste und sehr erfolgreiche deutsche Hörspiel, das 1929 im damals noch neuen Medium Radio übertragen wurde, handelt von der Rettungsaktion der „Krassin“. 1969 wurde die Geschichte von Nobiles Expedition als italienisch-sowjetische Coproduktion mit vielen internationalen Stars verfilmt („La tenda rossa“ / „Красная палата“). Unter der Regie von Michail Kalatozov und zur Musik von Ennio Morricone spielten Peter Finch (Nobile), Sean Connery (Amundsen), Hardy Krüger (Lundborg). Claudia Cardinale (ganz ohne eine schöne Frau geht es nicht) war die Witwe eines der umgekommenen Besatzungsmitglieder.

Auf diesem zeitgenössischen Foto der „Krassin“ wird der Polarforscher und Ozeanograph Stepan Makarow (1849 – 1904) zitiert:

Russland ist mit seiner Fassade dem Eismeer zugewandt, und deshalb ist keine einzige andere Nation so sehr an Eisbrechern interessiert wie wir.

Das russische Kulturministerium widmet dem Eisbrecher auch heute noch eine eigene Seite, auf der man u.a. lesen kann:

Die „Krassin“ bildet den Gipfel der Ingenieurskunst im Schiffsbau Anfang des 20. Jahrhunderts, ist Erbin der besten Traditionen der Eisbrecherflotte Russlands. Man wird in der Geschichte Russlands schwerlich ein Schiff finden, dessen Schicksal so eng mit der Geschichte des Landes verflochten ist.

Quellen, Links, Anmerkungen

Über Nobiles Polarexpedition und sein Luftschiff „Italia“ gibt es im Internet viele Infos, auch eigene Wikipedia-Artikel in Deutsch, Englisch, Italienisch. Hier daher nur einige ausgewählte Links.

Eine kurze, aber informative Radiosendung des Bayrischen Rundfunks (bzw. das Manuskript der Sendung): https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/2505-Nordpol-Luftschiff-Nobile-Amundsen100.html

Eine knappe Biographie von Nobile mit Chronologie: https://www2.klett.de/sixcms/list.php?page=infothek_artikel&extra=TERRA-Online&artikel_id=104598&inhalt=klett71prod_1.c.144765.de

Ein SPIEGEL-Artikel aus dem Jahr 1961, der die Geschichte des Unglücks noch einmal rekonstruiert, auf die Vorwürfe gegen Nobile eingeht und sie historisch einordnet und etwas zurechtrückt. Anlass war der Umstand, dass Nobile damals gerade in einen neuen Prozess verwickelt war. https://www.spiegel.de/politik/gefaehrlich-leben-a-6da4978a-0002-0001-0000-000043159955

Über den Eisbrecher „Krassin“ gibt es ebenfalls ausführliche Wikipedia-Artikel.

Das Schiff hat (als Museumsschiff) auch eine eigene zweisprachige (russisch-englisch) Website, auf der man ausführlich seine ganze Geschichte von 1916 bis heute nachlesen kann: https://www.krassin.ru

Das am Schluss erwähnte deutsche Hörspiel heißt „SOS rao rao Foyn – Krassin rettet Italia“. Es ist die älteste erhaltene Hörspielproduktion des deutschen Rundfunks, war damals sehr erfolgreich und ist inzwischen auch auf DVD erhältlich (64 Minuten lang). Hier erfährt man mehr und darf auch mal kurz (1 Minute 20 Sekunden) reinhören: https://www.srf.ch/audio/hoerspiel/sos-rao-rao-foyn-krassin-rettet-italia-von-friedrich-wolf?id=10029612%20Italia%C2%BB

Das Titelbild des „Besboschnik“ und die gesamte Nummer der Zeitschrift mit dem Text des zitierten Artikels stellt die Website des Nekrassow-Museums in Moskau zur Verfügung: https://electro.nekrasovka.ru/

Das Foto der „Krassin“ mit dem Zitat von Stepan Makarow ist ein Screenshot von der Website des „Weltozean-Museums“ („Музей Мирового Океана“), das dem russischen Kulturministerium unterstellt ist: https://www.world-ocean.ru/krasin

Das Textzitat stammt ebenfalls von dieser Seite.