RUSSLAND HEUTE
Heute am 8. Juli wird in Russland der „Tag der Familie, Liebe und Treue“ („День семьи, любви и верности“) gefeiert. Es gibt diesen Tag noch nicht sehr lange; er wurde 2008 eingeführt und im letzten Sommer von Putin zum landesweiten gesetzlichen Feiertag deklariert. Es war eine von verschiedenen Maßnahmen, die die von Putin so oft beschworenen „traditionellen Werte“ stärken sollten.

Das ideale Ehepaar: Pjotr und Fevronija
Auf den 8. Juli wurde er gelegt, weil an diesem Datum die orthodoxe Kirche den Namenstag der Heiligen Pjotr und Fevronia von Murom begeht und diese beiden Heiligen eine überaus glückliche, vorbildliche Ehe geführt haben sollen. Der 8. Juli 1228 gilt als ihr Todestag. Ob sie tatsächlich gelebt haben, ist nicht gesichert – die erste bekannte, von einem Mönch verfasste Erzählung ihres Lebens wurde erst 1547 geschrieben, im Auftrag der Kirche, die die Heiligsprechung der beiden beschlossen hatte.
Ihre Lebensgeschichte ist in Russland sehr populär, wird aber meist beschönigend dargestellt. Dies ist die ungeschönte Version: Pjotr, Fürst von Murom, erkrankte eines Tages schwer an Lepra, und niemand vermochte ihn zu heilen – bis ein einfaches Bauernmädchen, Tochter eines Imkers, kam und das Wunder vollbrachte. Zuvor nahm sie ihm das Versprechen ab, sie nach der Genesung zu heiraten. Da sie schon ahnte, dass er sein Eheversprechen nicht halten würde, ließ sie eine Stelle seiner Haut verseucht. Als er dann wortbrüchig wurde, verbreitete sich die Krankheit von dieser Stelle aus erneut über seinen ganzen Körper. Sie heilte ihn zum zweiten Mal, und nun hatte er begriffen, dass es nicht ratsam war, sich ihrem Wunsch zu widersetzen. Er gab nach, heiratete sie trotz des Standesunterschiedes und gegen den Widerstand der Bojaren und machte sie zur Fürstin von Murom. Danach lebten sie lange und friedlich zusammen. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten sie im Kloster. Ihr Wunsch, am selben Tag und zur selben Stunde zu sterben, ging in Erfüllung, nicht aber ihre Bitte, sie gemeinsam zu bestatten; das widersprach den klösterlichen Regeln. Doch am Tag danach fand man ihre sterblichen Überreste vereint im selben Sarkophag. Die drei Söhne, die in späteren Versionen auftauchen, werden in dieser ersten Vita nicht erwähnt.
In Murom hat man dem heiligen Paar 2012 auf dem Gelände des Klosters dieses imposante Denkmal errichtet.

Was die verschiedenen Attribute und nicht zuletzt der Hase (in diesem Text wird er als Kaninchen bezeichnet) zu ihren Füßen bedeuten, wird hier erklärt (Zitat aus einer russischen Internetbibliothek mit Informationen zu Feiertagen und Denkmälern):
Das Schwert in den Händen von Fürst Pjotr ist das Symbol der fürstlichen Macht und der Unzerstörbarkeit des russischen Geistes. Die neben ihm stehende Fürstin bedeckt seine Schultern mit einem Umhang – das symbolisiert weibliche Weisheit und Fürsorge. Die Frau gilt seit alters als Beschützerin des häuslichen Herdes. Der Legende nach lebte in der Familie von Pjotr und Fevronia ein zahmes Kaninchen. Deshalb sitzt dieses Tier zu Füßen der Heiligen von Murom. Das Kaninchen gilt auch als Symbol für Vermehrung und Fruchtbarkeit. Als die Künstler, die dieses Denkmal schufen, das Kaninchen in die Skulpturengruppe einfügten, meinten sie, dass mit dieser Figur eine gute Tradition entstehen könnte.
https://library.vladimir.ru/prazdniki/den-semi-lyubvi-i-vernosti-2.html
Vielleicht dachten die Künstler dabei an die niedrige Geburtenrate in Russland?
Auch in vielen anderen Städten wurden, oft mit staatlicher Unterstützung oder gesponsert von großen Firmen wie z. B. Lukoil, Denkmäler für das heilige Paar aufgestellt. Initiativen, ihren Namenstag, den 8. Juli, zu einem anerkannten Feiertag für ganz Russland zu machen, gab es seit Anfang der 2000er Jahre. Es sollte eine Art russischer Valentinstag werden, aber mit religiösem Hintergrund und etwas verschobenem Schwerpunkt – vom Tag der Liebenden hin zum Tag der treuen Eheleute und der kinderreichen Familien. Man sammelte fleißig Unterschriften, dachte sich allerhand Folklore und Festlichkeiten rund um diesen Tag aus. Die Kamille als volkstümliche russische Blume wurde als Symbol ausgewählt. Ehrenmedaillen und Urkunden für langjährige Ehen wurden verliehen, Konzerte und Wettbewerbe zum Thema veranstaltet, Glückwunschkarten zum Fest gedruckt.
Patronin des Feiertags: Swetlana Medwedewa
Eine wichtige Rolle bei der Einführung des neuen Feiertages spielte Swetlana Medwedewa. Die Ehefrau von Dmitri Medwedew war von 2008 bis 2012, als ihr Mann eine Legislaturperiode lang Präsident von Putins Gnaden war, Russlands First Lady. Sie trug entscheidend dazu bei, diesen Tag als Feiertag zur Festigung der traditionellen Ehe und Familie zu etablieren. Seit 2008 fährt sie jedes Jahr am 8. Juli nach Murom, in die Heimatstadt von Pjotr und Fevronia, manchmal mit, meist aber ohne Ehemann. Im Zusammenhang mit dem Feiertag wurden von ihr verschiedene Projekte initiiert und betreut. Hier sieht man sie im Jahr 2011, wie sie gemeinsam mit ihrem Mann in Murom einem jungen Brautpaar gratuliert.

Über die Vorgeschichte und den Sinn dieses Festtages und über ihre vielen eigenen, damit verbundenen Aktivitäten gab sie 2017, zum zehnten Jahrestag der Einführung des Feiertages, in einem ausführlichen Interview Auskunft. Hier einige Auszüge daraus.
Wie kam es zum Namen des Feiertags?
Anfangs wurde vorgeschlagen, das Wort „Liebe“ an die erste Stelle zu setzen – Tag der Liebe, Familie und Treue. Natürlich, auch ich sehe das so, liegt die Liebe allem zugrunde. Aber wir wollten den Akzent vor allem auf die Familie setzen. Weil die Institution der Familie heute Schutz, besondere Fürsorge und Aufmerksamkeit braucht. (…)
Wenn Russland diesen Tag feiert, verwandelt sich das Land. Überall sehen wir Feldkamillen. Warum haben Sie gerade diese Blume als Symbol des Feiertages ausgewählt?
Die Kamille ist eine bescheidene, aber sehr zarte und den Russen vertraute Blume. Sie symbolisiert Liebe und Reinheit, Treue und Hoffnung – die wichtigsten Werte unseres Feiertags.
Zur Feier des zehnjährigen Jubiläums findet ein Allrussischer Wettbewerb künstlerischer Arbeiten statt unter dem Titel „Die Familie ist die Seele Russlands“. Wo kann man sich die Arbeiten der Teilnehmer ansehen?
Tatsächlich haben wir uns im Organisationskomitee beraten und beschlossen, zu unserem Jubiläum die erste große Kunstausstellung zu machen, die dem Thema Familie gewidmet ist. (…) Gemeinsam mit namhaften Museen, die berühmte Werke aus ihren Sammlungen zu diesem Thema zeigen werden, nehmen daran auch ganz neue Künstler teil, deren Namen einem breiten Publikum noch unbekannt sind. Um ihre Bilder auszuwählen, sie ganz Russland und allen, die sich für diese Kunstausstellung interessieren, zugänglich zu machen, haben wir beschlossen, einen Wettbewerb zu veranstalten.
https://foma.ru/svetlana-medvedeva-reshili-chto-v-nazvanii-prazdnika-semya-dolzhna-byit-na-pervom-meste.html
Der Wettbewerb findet inzwischen jedes Jahr statt, 2023 bereits zum siebten Mal. In diesem Jahr war der Gewinner des Hauptpreises, des „Grand Prix“, in der Kategorie „Professionelle Künstler“ der Maler Ilja Owtscharenko (*1975) mit diesem großformatigen Ölgemälde „Die Familie des Priesters Vater Daniil Wassiljewski“.

Nichts könnte weiter von der Realität der Familie im heutigen Russland entfernt sein als dieses Ensemble. Aber es soll wohl weniger die Wirklichkeit als das anzustrebende Ideal abbilden.
(Wen es interessiert: Auf der Seite https://art.fondsci.ru/contest/ kann man sich durch die prämiierten Bilder der Jahre 2017 bis 2023 klicken, in drei Kategorien, Profis, Studenten, Kinder. Durchaus spannend und unterhaltsam, und die meisten Bilder sind besser als das Grand-Prix-Gemälde.)
Im Weiteren berichtet Swetlana Medwedewa noch von verschiedenen anderen Projekten ihres Komitees: „Schenk mir das Leben“ versucht, die Zahl der Abtreibungen zu senken, ein anderes Projekt befasst sich mit der Krebsvorsorge für Frauen:
Ich erzähle das, um zu unterstreichen, dass der Tag der Familie, Liebe und Treue nicht nur ein einzelner Feiertag ist, sondern eine ganze Bewegung. Und diese berührt alle unumgänglichen, wichtigen Fragen, die mit der Familie zusammenhängen, mit ihrem Erhalt unter den gegenwärtigen Bedingungen, mit dem Schutz von Mutterschaft und Kindheit.
https://foma.ru/svetlana-medvedeva-reshili-chto-v-nazvanii-prazdnika-semya-dolzhna-byit-na-pervom-meste.html
Wenig Zuspruch für eheliche Treue
Aber trotz all dieser Aktionen und der ständigen Werbung für Ehe und Familie – in Russland scheint man mit dem von oben verordneten Feiertag zu fremdeln. Zwei Jahre nach dem zitierten Interview erschien im Moskauer Internetportal „Gaseta.ru“ zum 8. Juli 2019 ein Artikel unter der Überschrift: „Der Tag der Familie und Treue: Warum der Feiertag von Pjotr und Fevronia in Russland nicht heimisch geworden ist“.
Die Autorin Anna Winogradowa schreibt darin u. a.:
In Russland wird einer der widersprüchlichsten Feiertage begangen – der Tag der Familie, Liebe und Treue, den man analog zum westlichen Tag des Heiligen Valentin erfunden hat. 2008 wurde er eingeführt, doch allen Bemühungen der Regierung zum Trotz hat er sich bisher nicht durchgesetzt. (…)
Die Ehegatten Pjotr und Fevronia sind die Helden der „Erzählung von Pjotr und Fevronia von Murom“, die 1547 aus Anlass ihrer Kanonisierung geschrieben wurde. Ein Fürst Pjotr von Murom wird in den Quellen und Annalen nirgends erwähnt, deshalb kann man nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um historische Personen handelt. Und die Geschichte, die in der „Erzählung“ beschrieben wird, handelt nicht nur von Liebe und Treue, sondern auch von der raffinierten List und Zielstrebigkeit Fevronias. (…)
Seitdem man sich bemüht, Pjotr und Fevronia als unsere Antwort auf den Valentin der „Gegenseite“ darzustellen, erinnern alljährlich am 8. Juli alle Zeitungen ihre Leserinnen und Leser an den Tag der Familie, Liebe und Treue, die Standesämter verlängern ihre Öffnungszeiten und geben Statistiken über die Zahlen der Eheschließungen heraus. (…)
Doch die Veranstaltungen, die in russischen Städten an diesem Tag stattfinden, haben durchweg den Beigeschmack des amtlich Verordneten. Trotz der Ausstellungen und Konzerte will den Russen die Notwendigkeit, die Ehe hochzuhalten und in Liebe und Treue zu leben, bis dass der Tod sie scheidet, nicht wirklich einleuchten. (…)
Im Juli 2019 veröffentlichte Rosstat (= die staatliche Statistikbehörde, d. Ü.) die neuesten Zahlen, aus denen hervorging, dass immer weniger russische Bürgerinnen und Bürger in den Stand der Ehe treten wollen. 2018 wurden 893.000 Ehen registriert, anderthalbmal weniger als 2011. (…)
In den elf Jahren, die seit der Einführung des Tages der Familie, Liebe und Treue vergangen sind, ist die Liebe unter den Russen, das muss man leider konstatieren, nicht gewachsen.
https://www.gazeta.ru/lifestyle/style/2019/07/a_12486283.shtml
2020 ging die Zahl der Eheschließungen laut Rosstat nochmals um 18,9 % auf knapp 771.000 zurück, seitdem steigt sie wieder leicht an. Die Scheidungsrate lag in den letzten Jahren zwischen 65 % und 70 %.
Hier noch die aus Anlass des Feiertages kreierte Medaille, die Ehepaare nach 25 Jahren Ehe auf eigenen Antrag oder Vorschlag der Behörden erhalten können. Eine finanzielle Zuwendung ist damit nicht verbunden. Auf der Vorderseite sieht man das Porträt der beiden Heiligen, auf der Rückseite eine Kamillenblüte. Der Text lautet: „Für Liebe und Treue / Familie – die Einheit von Vorhaben und Taten“ bzw. auf der Rückseite: „8. Juli – Tag der Familie, Liebe und Treue in der Russischen Föderation“.

Und dies sind zwei von vielen ähnlichen Glückwunschkarten im Internet. Die erste zeigt im Hintergrund die mittelalterlichen Heiligen und wünscht „Glück und unendliche Liebe“, die zweite wendet sich (mahnend?) an noch kinderlose Paare.

