RUSSLAND HEUTE
Ein Manifest und 39 Fragen
Anfang April 2023 hat Igor Strelkow zusammen mit anderen ultrarechten russischen Mitstreitern einen Verein gegründet, der sich „Club der zornigen Patrioten“ nennt. Strelkow, der eigentlich Girkin heißt, hat in den beiden Tschetschenienkriegen auf russischer Seite gekämpft und war seit 2014 in der Ostukraine in der Separatistenbewegung aktiv. Ihm werden verschiedene Kriegsverbrechen vorgeworfen.
Der zweite Vorsitzende des neuen Clubs ist der ukrainischstämmige Pawel Gubarew, der sich aber als Russen betrachtet (Ukrainer gibt es seiner Ansicht nach gar nicht) und der noch nationalistischere Reden schwingt als Strelkow.

Mitte April veröffentlichte der Club auf Telegram ein Manifest mit seinem Programm und seinen Zielen. Am 24. April hat Strelkow-Girkin dann noch im Namen des Clubs einen weiteren Text mit 39 kritischen und vorwurfsvollen Fragen an die militärische und politische Führung Russlands online gestellt.
Das Manifest der „Patrioten“
Aber hier zunächst das Manifest des neuen Vereins. Verglichen mit anderen Äußerungen der beiden Vorsitzenden ist es in ausgesprochen moderater Sprache abgefasst.
Manifest des Clubs der zornigen Patrioten
Wir sind die zornigen Patrioten. Wir lieben Russland. Unser Land führt einen wichtigen Krieg, aber dieser Krieg wird talentlos geführt.
Die Möglichkeit eines schnellen und unblutigen Sieges über den zum Werkzeug der NATO gewordenen ukrainischen Staat wurde bereits 2014 durch die Unterzeichnung der landesverräterischen Minsker Verträge verpasst. Die 2022 begonnene militärische Operation hätte nach einem ganz anderen Szenario verlaufen können, aber die inkompetente Organisation auf strategischer, operativer und taktischer Ebene hat unser Land in einen Zermürbungskrieg geführt.
Eine Niederlage im Krieg wird katastrophale Folgen für Russland haben. Die USA und die Länder der NATO zeigen offen ihre Absicht, Russland in Stücke zu reißen und das russische Volk unter ein neues Joch der Unterwerfung zu zwingen, das diesmal aus dem Westen kommt.
Unser Land kann in seinem jetzigen Zustand dem Gegner nicht die vernichtende Niederlage zufügen, die den Gegner veranlassen würde, uns genehme Friedensbedingungen zu akzeptieren. Aber die militärische und politische Führung Russlands ist sich über den ganzen Ernst der Lage nicht im Klaren.
Weder eine militärische noch eine industrielle Mobilisierung wurde im erforderlichen Maßstab durchgeführt. Die militärischen Aktionen werden weiterhin von Leuten geleitet, die ihren Fähigkeiten nach nicht einmal die Abzeichen eines Sergeanten tragen dürften. Alles ähnelt sehr dem Russisch-Japanischen Krieg oder dem Ersten Weltkrieg. Wie soll es weitergehen?
Die zivile Gesellschaft und die zornigen Patrioten als ein Teil davon haben viele Funktionen des russischen Staates übernommen. Vor allem reden wir von der unmittelbaren Versorgung und Neuausrüstung der kämpfenden Einheiten der russischen Armee. Wir werden das auch weiterhin in jeder Situation tun. Wir verfügen über die Erfahrung, auch andere Aufgaben zu lösen.
Uns ist klar, dass jetzt nicht die Zeit ist, sich wie die Roten und die Weißen vor hundert Jahren gegenseitig zu bekämpfen. Derartige Streitereien, während gleichzeitig ein hochgefährlicher Krieg stattfindet, können nur Dummköpfe oder Agenten des Gegners führen.
An der Macht und im Big Business sind immer noch die Leute, die ihr Kapital und ihre Loyalität in den Westen verschoben haben. Sie sind bereit zur Sabotage und auch zum direkten Deal mit dem Feind, also zum Verrat. Wir schließen nicht aus, dass sie einen prowestlichen Umsturz, eine Kapitulation und folglich eine Zerstückelung Russlands vorbereiten.
Diesem Szenario werden wir uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln widersetzen.
Wir sind bereit zur Zusammenarbeit mit allen gesunden Kräften der Gesellschaft, mit allen, die nicht die Niederlage Russlands wollen.
Alles für die Front, alles für den Sieg, Ruhm sei Russland!
Der Club der zornigen Patrioten
Das „neue Joch aus dem Westen“ spielt auf das alte Mongolenjoch aus dem Osten an.
Die wunden Punkte der Propaganda
Die eingangs erwähnten und am 24. April veröffentlichten 39 Fragen Strelkows sprechen durchweg wunde Punkte an, die von der Staatspropaganda verschwiegen oder beschönigt werden. Es sind eigentlich Vorwürfe, als Fragen formuliert. Hier einige davon.
Frage 14 weist auf das Problem der mangelnden Ausbildung und „Verheizung“ von unerfahrenen Rekruten hin.
(14) Wie ist die überaus hässliche Dissonanz zu erklären, dass sich eine große Zahl (viele Tausende) qualifizierter Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie erfahrener professioneller Kämpfer des Wagner-Korps „in Erfüllung ihrer dienstlichen Aufgaben“ in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik, Mali, Burkina Faso usw. befinden, dass aber an die Front, nach nur minimaler Ausbildung, frisch mobilisierte Zivilisten geschickt werden und dort an schweren Kämpfen teilnehmen?
Frage 20 erinnert an ein schon halb wieder verdrängtes traumatisches Ereignis vom April 2022.
(20) Was führte dazu, dass das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, die „Moskwa“, unterging? Und falls sie vom Feind versenkt wurde (keinen Pieps hat man dazu gehört) – wie ist sie in die durch Antischiffsraketen erreichbare Zone geraten, ohne Begleitung und Geleitschutz, ohne funktionsfähige Flugabwehrsysteme, mit einer Mannschaft, die in erheblichem Maß mit unerfahrenen, neu angeworbenen Vertragssoldaten aufgefüllt worden war? Wer trägt dafür und in welchem Ausmaß die Verantwortung?
Frage 25 wendet sich direkt an Putin.
(25) Wann wird der Präsident der Russischen Föderation geruhen, die von der Verfassung vorgesehenen Funktionen des Oberbefehlshabers zu übernehmen bzw. plant er überhaupt das zu tun? Wer konkret leitet seit über einem Jahr die Kampfhandlungen und trägt die Verantwortung für die Kriegsführung? Ist überhaupt irgendeine Verantwortlichkeit für die getroffenen und noch zu treffenden militärischen Entscheidungen vorgesehen?
In Frage 27 geht es um den ungeklärten juristischen Status der „Spezialoperation“.
(27) Auf welcher Grundlage wurde diese halbherzige Mobilisierung durchgeführt, wenn es doch heißt „Krieg haben wir nicht“ und die sogenannte „Spezialoperation“ keinerlei juristischen Status besitzt? Auf welcher Grundlage werden Bürger, die ihre militärische Einheit verlassen haben, dann vor Gericht zur Verantwortung gezogen?
Frage 33 beklagt die veraltete Technik und die „Verschwendung“ moderner Waffen in anderen, weniger wichtigen Kriegsgebieten.
(33) Wohin ist unsere nagelneue Kampftechnik verschwunden, mit der man in den Jahren vor dem Krieg so geprotzt hat? Warum werden T-54/55-Panzer und D-20-Geschütze an die Front gebracht, die noch zu Lebzeiten Jossif Stalins im Einsatz waren? Wer hat die weitaus modernere, „unnötige“ sowjetische Ausrüstung und Munition in gewaltigem Umfang (und gewöhnlich umsonst) über all die Syriens, Libyens, Sudans und die sonstigen afrikanischen Republiken „ausgeschüttet“? Wer hat das zu verantworten? Wo sind die versprochenen „Kampfroboter“? Wo die „Zehntausende arabischer Freiwilliger, die uns für die ihnen erwiesene Hilfe dankbar sind“ und die dem Präsidenten vom Verteidigungsminister versprochen wurden?
Frage 34 spricht die feindselige Haltung Kasachstans an.
(34) Wie konnte es geschehen, dass Kasachstan, das buchstäblich einen Monat vor Beginn der Spezialoperation durch unsere Friedenskräfte vor einem Bürgerkrieg gerettet wurde, nun immer schneller und ganz unverhohlen ins Lager der Feinde der Russischen Föderation wechselt, dabei seine zunehmende Russophobie demonstriert und sich nach und nach allen Sanktionen anschließt?
Frage 37 kritisiert die fehlende Definition der Kriegsziele.
Wann werden verständlich – für die ganze Gesellschaft – und offiziell die Ziele der militärischen Spezialoperation und die Bedingungen für einen erfolgreichen Abschluss der Operation formuliert?
Frage 39 schließlich nimmt das Luxusleben der russischen Elite im Westen ins Visier.
(39) Wie kommt es zu den regelmäßigen (durch Videos und Fotos bestätigten) Berichten der ausländischen Presse über den fröhlichen Zeitvertreib nächster Verwandter der höchsten staatlichen und militärischen Führungspersonen der Russischen Föderation in Kurorten und Vergnügungszentren von Ländern, die sich gegenüber Russland offen feindlich zeigen, die sich den antirussischen Sanktionen angeschlossen haben und die sogenannte ukraine mit allen Mitteln unterstützen, bis hin zur Lieferung moderner Waffen? Wann zieht der Präsident endlich die nötigen Konsequenzen hinsichtlich der Anforderungen an Amtspersonen?
Anmerkung: Die „ukraine“ ist kein Tippfehler – Strelkow schreibt sie zum Zeichen seiner Verachtung immer klein und setzt sie meist noch in Anführungszeichen.
Und so sieht das erste oder (laut Strelkow) „inoffizielle“ Emblem der zornigen Patrioten aus, das ihren Telegram-Kanal schmückt.
