RUSSLAND HEUTE
Lebensbedrohliche Attacken von Hunden
Sie laufen einzeln oder in Rudeln durch Straßen und Parks, bedrohen auf der Suche nach Futter Menschen und greifen sie an, oft mit blutigem oder sogar tödlichem Ausgang: Streunende Hunde sind seit vielen Jahren ein großes Problem in Russland. In der Regionalpresse sind sie ein Dauerthema, und in den letzten Monaten kam es erneut zu mehreren schlimmen Unglücksfällen.

Im April wurde ein achtjähriger Junge in Orenburg von einem Rudel Hunde angegriffen und totgebissen. Mitte Mai fand man in der Nähe von Irkutsk auf dem Gelände eines Gemüselagers die Leiche eines von Hunden zerfleischten Mannes. Und letzte Woche wurde ein fünfjähriges Mädchen in einem öffentlichen Park in Orenburg von einem Hund ins Gesicht gebissen, die Wunde musste genäht werden. Drei Fälle von Hunderten in wenigen Monaten. „Leichtere“ Fälle wie der im Folgenden beschriebene sind alltäglich:
26. Mai 2023. Bei Jekaterinburg wurde eine Datschenbesitzerin von einer Meute streunender Hunde angegriffen, berichtet die Online-Zeitung E1.Ru. Die Frau, heißt es, wurde mit erheblichem Blutverlust ins Krankenhaus gebracht.
Eine andere Frau aus derselben Datschensiedlung erzählte der Zeitung, dass dieses Hunderudel die Besitzer der umliegenden Gärten schon seit dem Winter belästigt. Die Hunde, sagte sie, verstecken sich in der sumpfigen Gegend und ernähren sich von Abfällen.
„Ich habe die Müllabfuhr angerufen und beantragt, die Meute einzufangen. Aber da sagte man mir, dafür hätten sie eine Frist von 30 Tagen. Daraufhin habe ich mich an die Stadtverwaltung gewandt, die haben mich ans Komitee für Ökologie verwiesen, und da ist niemand ans Telefon gegangen“, erzählte die Frau.
https://news.ru/regions/rossiyanku-gospitalizirovali-posle-napadeniya-brodyachih-sobak/
Neues Gesetz gegen Straßenhunde
Nun soll ein neues Gesetz Abhilfe schaffen. Das bisher gültige Gesetz „Über den verantwortungsvollen Umgang mit Tieren“ wurde 2018 mit den besten Absichten erlassen. Es verbietet die Tötung von Straßenhunden und sieht stattdessen vor, dass die Tiere eingefangen, kastriert, gechippt und gegen Tollwut geimpft werden. Anschließend sollen sie durch Tierheime an neue Besitzer vermittelt werden. Wenn das innerhalb einer gewissen Frist (oft nur einige Tage, höchstens mehrere Wochen) nicht klappt, werden die Hunde wieder nach draußen gelassen. Bei der Vermittlung hapert es erheblich, die Mehrheit der Tiere landet wieder auf der Straße (und gerade die gefährlichen, aggressiven sind natürlich schwer vermittelbar). Dort werden sie von den erbosten Anwohnern oft vergiftet, erschossen oder erschlagen.
Es gibt in Russland zu wenige Tierheime für die über 700.000 Straßenhunde (und mehr als eine Million streunender Katzen), und die wenigen verfügen nicht über genügend Geld, um die Hunde längere Zeit unterbringen und verpflegen zu können. Die Kastration lässt man oft, um Geld zu sparen, nicht von Tierärzten, sondern von Studenten durchführen, eine Nachsorge oder Separierung nach der OP gibt es nicht, die Tiere werden gewöhnlich gleich wieder ins Gemeinschaftsgehege gelassen.

Städte und Kommunen veröffentlichen immer wieder Warnungen und Plakate mit Anweisungen, wie man sich gegenüber den Straßenhunden verhalten soll. „Befolgen Sie einige Regeln, um nicht in die Zähne von streunenden Hunden zu geraten“ lautet die Überschrift links. Die Ratschläge wirken nicht besonders beruhigend: „Betreten Sie nicht das Territorium eines Rudels“ (aber woher weiß man, wo es anfängt? Zäune wie auf dem Bild stellen die Hunde gewöhnlich nicht auf), „Zeigen Sie keine Furcht, verteidigen Sie sich aktiv, legen Sie ein dominierendes Verhalten an den Tag“ (leicht gesagt). Rechts oben stehen Anweisungen, was zu tun ist, „wenn Ihr eigener Hund angegriffen wurde“, und links darunter werden die „verletzlichen Stellen eines Hundes“ angezeigt.
Auf einem anderen Plakat steht „Machen Sie einen Bogen um die Hunde“, und das ist wahrscheinlich der beste Rat.
Das neue Gesetz wurde Mitte Mai in erster Lesung und mit deutlicher Mehrheit (68,9 % dafür) von der Duma angenommen. Es untersagt, die eingefangenen Hunde wieder auf die Straße zu lassen, und überlässt den regionalen Behörden die Entscheidung, ob die Tiere eingeschläfert werden, wenn niemand sie dauerhaft aufnehmen will.
Unterschiedliche Meinungen
Von vielen Menschen wird das Gesetz begrüßt, besonders in der Provinz und dort wiederum vor allem im Norden und Osten des Landes, wo die Hunde durch die langen, harten Winter es noch schwerer haben, Nahrung zu finden, und sich aggressiver verhalten.
Aber es gibt auch andere Meinungen.
In einem Interview mit der „Komsomolskaja Prawda“ äußert sich Wladimir Uraschewski, Tierarzt und Vorsitzender der kynologischen Organisationen Russlands und der Internationalen kynologischen Union. Er bestreitet die Probleme nicht, ist aber gegen die Tötung.
Wer wird am häufigsten Opfer der Angriffe?
Am häufigsten sind es Kinder, weil sie schreien, mit den Armen fuchteln und nicht verstehen, dass der Hund eine Gefahr sein kann. So ein Knirps schwenkt zum Beispiel seine Schaufel, und der Hund versteht das als Aggression. Und greift an. Die zweite Gruppe von Opfern sind ältere Menschen. Wie die Kinder können sie den Hund durch ihr Verhalten reizen und sind nicht imstande, ernsthaft Widerstand zu leisten. (…)
Hilft die Sterilisierung gegen die Aggressivität?
Die Sterilisierung verhindert nur, dass die Hunde sich vermehren, aber gegen die Aggressivität schützt sie nicht. Wenn ein Hund schon einmal jemanden angefallen oder getötet hat, wird er es wieder tun, egal ob sterilisiert oder kastriert.
Der Streit darüber, ob man streunende Hunde füttern soll, geht schon viele Jahre. Aber wenn man im Winter einen hungrigen, halb erfrorenen Hund sieht, ist es da nicht menschlich, ihn zu füttern?
Ja, aber es gibt auch die andere Seite der Medaille. Erstens, womit füttern wir sie? Mit Wurst, die für Hunde lebensgefährlich ist? Oder mit salziger und gewürzter Suppe, die im Sommer bei Hitze schnell schlecht wird und zu Vergiftungserscheinungen führt? Ein Hund braucht eine ausgewogene Ernährung, und das ist ein teures Vergnügen. Zweitens, wenn irgendwo eine dauerhafte Nahrungsquelle auftaucht, rotten sich die Hunde zusammen, um diesen Ort zu bewachen. So ein Hunderudel lebt dann in Ihrem Hof, benutzt den Sandkasten als Toilette, greift Sie und Ihre Kinder an, wenn Sie ins Haus wollen. Und dann tritt ein weiteres Übel auf den Plan: die Dog Hunters. Sie geben den Hunden Gift zu fressen, und Ihre Kinder müssen mitansehen, wie die Tiere unter Qualen sterben.
Als „Dog Hunters“, russisch „догхантеры“, bezeichnet sich eine illegale Bewegung, bestehend aus Leuten, die es selbst in die Hand nehmen, möglichst viele streunende Hunde zu töten, weil die Behörden nicht fähig seien, mit dem Problem fertig zu werden. Es gibt diese Bewegung seit 2006, ihre Anhänger verabreden sich übers Internet bzw. über soziale Medien, um dann gemeinsam auf die Jagd zu gehen.
Uraschewski schlägt noch einige Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vor, vor allem seien die Tierheime in der Pflicht, alles zu tun, um die eingefangenen Hunde zu vermitteln. Sie wieder auf die Straße zu lassen, sei keine Option:
Den Hund wieder zurück auf die Straße zu schicken, bedeutet, ihn in den sicheren Tod zu schicken. Neun von zehn freigelassenen Hunden sterben im Lauf des folgenden Jahres. Deshalb muss man für den Hund unbedingt ein neues Heim finden.
Eine ganz andere und sehr rigorose Meinung vertritt Uljana Skoibeda, Mitarbeiterin und Kolumnistin der „Komsomolskaja Prawda“. Sie spricht aber vermutlich für viele Menschen, die sich bedroht fühlen.
Im Grunde ist ein streunender Hund wie ein Wolf in der Stadt. Aber einen Wolf schießt man ab, und dem Hund küsst man den Hintern und lässt ihn wieder nach draußen. Ja, vorher päppelt man ihn noch auf, damit er ein paar Schwangere mehr anfällt. Die Menschen, die sich dieses Programm ausgedacht haben (einfangen – sterilisieren – impfen – freilassen) sind Verrückte oder Schädlinge. Sie werfen das Volk den Hunden bewusst zum Fraß vor.
In allen Ländern der Welt, die wir entwickelt nennen (bzw. überhaupt in allen Ländern der Welt außer Indien, der Türkei und der Ukraine) fängt man die Hunde ein, ohne sie wieder freizulassen: ein Straßenhund gilt als eine Art Verkehrsstörung, man fängt ihn und … wie es weitergeht, hängt davon ab, wie viel Geld zur Verfügung steht.
Reiche Länder halten die Hunde bis zu einem halben Jahr und versuchen in dieser Zeit, sie unterzubringen. Arme Länder schläfern sie sofort ein.
Welche Variante unser Land wählen wird, weiß ich nicht. Die erste und wichtigste Aufgabe ist, die Straßen von Millionen sich vermehrender Streuner zu säubern, und dann muss der Staat Maßnahmen ergreifen, damit die Hunde nicht von neuem auftauchen:
- es muss verboten sein, Hunde frei laufen zu lassen, weil sich in den Dörfern Rüden und Hündinnen ungestört auf der Straße paaren; wenn die Welpen ertränkt werden – gut so, aber oft laufen sie frei herum, und die Vermehrung herrenloser Tiere geht von vorne los;
- den Besitzern muss die Euthanasie gesunder Tiere, die das jetzige Gesetz verbietet, erlaubt sein – die Leute sehen sich sonst gezwungen, überflüssige Tiere auszusetzen, weil die Tierärzte ihnen die Hilfe verweigern („auf der Datscha zurückgelassen“ heißt das dann);
- es muss Vorschrift sein, alle Hunde sofort nach der Geburt mit einem elektronischen Chip zu versehen, damit im Fall des Falles festgestellt werden kann, wer das Tier ausgesetzt oder herausgelassen hat; Tiere ohne Chip haben als Streuner zu gelten und müssen eingefangen werden;
- die Fütterung streunender Hunde auf der Straße soll der Beihilfe zum Mord an Menschen gleichgestellt werden;
- bei Übertretung dieser Verbote muss es hohe Geldstrafen geben, mindestens in Höhe eines Monatslohnes.
https://www.kp.ru/daily/27507.3/4766957/
Tierschützer kritisieren das Gesetz
Es gibt in Russland viele private, sehr engagierte Tierschutzorganisationen, die befürchten, die Tötung der Straßenhunde werde sich mit dem neuen Gesetz als schnellste und scheinbar einfachste Lösung durchsetzen. Sie plädieren stattdessen für eine bessere Kontrolle, für eine verpflichtende Registrierung aller Hunde bzw. ihrer Besitzer, für eine Leinenpflicht auf der Straße und eine finanzielle Unterstützung der Kastration. Den Behörden werfen sie vor, in großem Umfang Gelder, die für den Bau von Tierheimen und für die Kastration gedacht waren, veruntreut zu haben.
Auf diesem Plakat einer Tierschutzorganisation ist zu lesen: „Keine Euthanasie, sondern Mord! Versteckt euch nicht hinter schönen Worten!“

Eine Petition im Internet gegen das neue Gesetz hat über 130.000 Unterschriften gesammelt. Aber es gibt auch Petitionen, die den straffreien Abschuss der Hunde fordern.