RUSSLAND HEUTE
Stalins Rolle in der russischen Geschichte wird in Russland zunehmend positiv gesehen. Die kurze Zeit, in der versucht wurde, die Verbrechen dieser Epoche aufzuklären und aufzuarbeiten, ist längst vorbei. Erst vor einigen Wochen, zum Jahrestag der Schlacht von Stalingrad, wurde gefordert, Wolgograd wieder in Stalingrad umzubenennen. Letztlich passierte dann allerdings nicht mehr, als dass ein paar Zufahrtsschilder zur Stadt für einige Tage ausgewechselt wurden.

Außerdem bekam Stalin ein neues Denkmal, wenn auch nur im Dreierpack zusammen mit zwei anderen Generälen der Roten Armee, Georgi Schukow und Alexander Wassilewski. Die drei bronzenen Büsten wurden in einer feierlichen Zeremonie enthüllt und eingeweiht – ohne Putin, der erst am folgenden Tag nach Wolgograd kam und der sich generell bei diesem Thema eher zurückhält.
Die Stimmen, die Stalin als großen Feldherrn und bedeutenden Staatsmann preisen und Terror und Hungersnöte als untergeordnete Kollateralschäden kleinreden, werden immer zahlreicher.
Ein Trommler für Stalin
Eine der lautesten Stimmen ist die von Jewgeni Spizyn. Das ist ein Historiker und Publizist, der schon seit Jahren unermüdlich für eine Rehabilitierung Stalins und der Sowjetunion trommelt. Er hat eine fünfbändige Geschichte Russlands für Schulen geschrieben, tritt für ein einheitliches Geschichtsbuch an russischen Schulen ein, das mehr den Patriotismus der Jugend stärken als objektive Informationen liefern soll. Spizyn ist regelmäßiger Gast in Talkshows und betreibt auf Youtube einen eigenen Geschichtskanal mit über 240.000 Abonnenten. Dort „unterrichtet“ er seine Deutung der russischen Geschichte. Eine eigene Reihe ist zum Beispiel den „Legendären Volkskommissaren der Stalinzeit“ gewidmet. Andere Beiträge heißen „Wer ist für den Zerfall der Sowjetunion verantwortlich?“, „Das Baltikum: Geschichte eines Russland-Hasses“, „Eduard Schewardnadse – Aufstieg und Fall eines Judas“.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist für Spizyn – genau wie für Putin – die geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Zu den Totengräbern der Sowjetunion zählt er außer Gorbatschow und Jelzin auch Chruschtschow, dessen liberale „Tauwetter“-Politik für ihn ein Rückschritt war. 2019 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Chruschtschows Matsch“ („Хрущëвская слякоть“) – der Matsch als negative Umdeutung des Tauwetters.

Zum 140. Geburtstag Stalins schrieb Spizyn im Dezember 2019 einen Artikel für die „Literaturnaja Gaseta“, halb Huldigung, halb Rechtfertigung. Ich zitiere den ersten Abschnitt.
Niemand wurde mehr verleumdet
Es gibt wohl in der ganzen Weltgeschichte keine Gestalt, die mehr verleumdet wurde als Jossif Wissarionowitsch Stalin, dessen 140. Geburtstag in diesen Dezembertagen von der ganzen progressiven Menschheit gefeiert wird. Allen anständigen Menschen mit wenigstens minimaler Bildung ist die gigantische Rolle Stalins in der Geschichte unseres Landes, ja der ganzen Welt, offenkundig. Ihnen muss man nicht erklären, wie sehr Stalin sich um den Aufbau der großen Sowjetmacht und den historischen Sieg über den europäischen, nicht nur den deutschen Nazismus und japanischen Militarismus verdient gemacht hat. Das begreifen nur die nicht, die seit langem schon die grandiose Epoche der Stalinzeit auf die berüchtigten politischen Repressionen „unschuldiger Opfer“ , auf die bolschewistische Tyrannei verkürzen und für die die Geschichte der Sowjetmacht zusammenschrumpft auf den Mangel am ach so begehrten Toilettenpapier, das zum Sinn ihrer erbärmlichen Existenz wurde.
https://lgz.ru/article/-52-6719-25-12-2019/net-bolee-obolgannoy-figury/
Eine liberale Gegenstimme
Jewgeni Spizyn bekommt in Russland viel Beifall, aber es gibt auch Gegenstimmen, und manche werden sogar in der russischen inländischen Presse veröffentlicht. In der „Nesawissimaja Gaseta“ erschien im Januar 2023 ein leidenschaftliches Plädoyer, die Geschichte nicht zu beschönigen und die Verbrechen Stalins nicht zu vertuschen. Der Autor ist Alexander Zipko, der in den 1980er Jahren für Gorbatschows Reformpolitik eintrat. Er ist inzwischen 81 Jahre alt und lebt in Moskau.
Die „Nesawissimaja Gaseta“ („Unabhängige Zeitung“) gehört zu den großen überregionalen Zeitungen Russlands. Unabhängig ist sie zwar auch nicht mehr, aber sie schlägt einen gemäßigteren, sachlicheren Ton an als viele andere Zeitungen. Zipko hat dort in den vergangenen Jahren eine Reihe von Artikeln veröffentlicht.
Hier einige Abschnitte aus dem langen Text, in dem Zipko sich nicht nur, aber vorwiegend mit Spizyn auseinandersetzt.
Die Straße zum Friedhof der Geschichte
Es stimmt nicht, dass den Russen die Freiheit fremd ist. Unter Stalin gab es eine Freiheit, die es in Russlands Geschichte noch nicht gegeben hatte – die Freiheit zu denunzieren, seine Nachbarn und Arbeitskollegen in den Gulag zu schicken. Und die militärische Spezialoperation brachte uns eine Freiheit, die es nach dem August 1991 nicht gegeben hatte. Ich meine die Freiheit, Stalin als herausragenden Staatsmann Russlands zu verherrlichen, die Freiheit, sich nicht mehr an die Repressionen der Stalinzeit erinnern zu müssen, an die Leiden des Volkes, an die Ermordung von Menschen im Namen von Sozialismus und Staatsdisziplin.
Heute nämlich sind, so erzählt uns auf dem Youtube-Kanal von Andrej Karaulow der „renommierte Historiker“ Jewgeni Spizyn, „die Repressionen Stalins die effektivste Methode, die Staatsdisziplin zu stärken, eine eiserne Sowjetmacht zu erschaffen“. Die Reformen Chruschtschows aber, sein Tauwetter, die Amnestie für Millionen Menschen, die Möglichkeit für Millionen Arbeiter, aus den Baracken der Stalinzeit in neue fünfstöckige Häuser umziehen zu können, die Rettung des Landes vor einer Hungersnot durch den Ankauf von Getreide in Kanada – das alles ist nur Chruschtschows Matsch und schädlich für den russischen Menschen. (…)
Jewgeni Spizyn sagt: Wenn wir die liberalen Fehler Chruschtschows und Gorbatschows wiederholen und an der Hysterie über die Stalinschen Repressionen festhalten, dann wird das jetzige Russland verschwinden so wie die UdSSR verschwunden ist. Mit anderen Worten, aus der Sicht dieses zweifellos talentierten und fleißigen Historikers brauchen die Russen die Wahrheit über die eigene Geschichte nicht. Denn wenn das Nationale auf die Wahrheit trifft, dann, so meint er, wird alles zusammenbrechen.
Es gibt also nichts Schädlicheres für den russischen Menschen als die Wahrheit über sich selbst und die eigene Geschichte. Ich persönlich glaube nicht, dass die Wahrheit über Stalin die UdSSR zugrunde gerichtet hat. Im Gegenteil, nach Chruschtschows Kritik an Stalins Personenkult hat die UdSSR noch 35 Jahre ruhig weiterexistiert. (…)
Wer heute Stalin rehabilitieren will (…), berücksichtigt etwas Wesentliches nicht: Wir rechtfertigen dann heute nicht nur die Repressionen, den Mord an Menschen, sondern auch die hinter den Repressionen stehende Philosophie des Todes. Bis heute haben wir nicht begriffen, dass unser Marxismus und besonders der Bolschewismus und Lenins Obsession, mit seinen Feinden abzurechnen, in Wahrheit eine Philosophie des allerbanalsten Verbrechens ist, eine Philosophie des Mordes. (…) Lenins Kampfgefährte Grigori Sinowjew sagte in einer Rede auf dem Parteitag in Petrograd am 17. September 1918: „Von den 100 Millionen Einwohnern Sowjetrusslands müssen wir 90 Millionen auf unsere Seite bringen. Die restlichen, mit denen nicht zu reden ist, müssen vernichtet werden.“ (…)
Es gibt für uns keine Alternative zu dem Weg, den „der Liberale Chruschtschow“, wie Jewgeni Spizyn ihn nennt, eingeschlagen hat. Das ist der Weg der normalen Marktwirtschaft, der normalen europäischen Demokratie, der europäischen Werte Freiheit, menschliches Leben, Recht usw. Es gibt keine Alternative zu den Werten der westlichen Zivilisation. Wenn Stalin für Alexander Sinowjew „unserer Jugend Flug“ war, so ist Stalin heute für uns die Straße ins Grab der Geschichte.
Zipko bezieht sich im letzten Satz auf ein Buch des ehemaligen Dissidenten und späteren Stalin-Verehrers Alexander Sinowjew (1922 – 2006): „Stalin, unserer Jugend Flug“. Der Buchtitel wiederum zitiert ein bekanntes Lied aus der Stalinzeit.

Wenn man mehr über und von Alexander Zipko lesen möchte, so findet man unter diesem Link ein sehr aufschlussreiches SPIEGEL-Interview mit ihm aus dem Jahr 2016: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/145101382