RUSSLAND HEUTE

Neue Umfrageergebnisse

Letzte Woche veröffentlichte das Lewada-Zentrum, das einzige von der Regierung unabhängige Meinungsforschungsinstitut in Russland, die Ergebnisse einer Umfrage zur Einstellung der russischen Bürgerinnen und Bürger zu Stalin und verglich die neuen Zahlen mit entsprechenden Umfragen aus den vergangenen zwanzig Jahren. Die positive Bewertung Stalins, so das Resümee, ist vor allem in den letzten vier Jahren stark angestiegen, die negative Beurteilung ganz erheblich zurückgegangen.

Hier die Grafik mit den Ergebnissen aus den Jahren 2001 bis 2023.

Die Frage lautete: Wie stehen Sie persönlich zu Stalin?

Die Farben bedeuten:

dunkelblau: mit Respekt
hellblau: gleichgültig
orange: mit Sympathie
rot: begeistert
hellgrün: feindselig, zornig
mittelgrün: angstvoll
dunkelgrün: mit Widerwillen und Hass
schwarz: Ich weiß nicht, wer Stalin ist.
grau: keine Antwort

Rechts im grünen Bereich sieht man, wie die negative Einstellung im Laufe der Jahre immer mehr zurückgegangen ist. 2001 standen noch 43% der Russen Stalin ablehnend gegenüber. „Respekt“, „Sympathie“ oder „Begeisterung“ empfanden 38%. Einer beträchtlichen Zahl von Bürgern war er gleichgültig (hellblau) oder sie konnten oder wollten die Frage nicht beantworten (grau). Inzwischen gibt es nicht mehr so viele Indifferente, und die positiven Bewertungen sind vor allem seit 2019 stark angestiegen. Nur noch 5% sehen Stalin eindeutig negativ, und eine Mehrheit von 63% hat ein positives oder sehr positives Bild von ihm. Gut ein Viertel der Befragten ist ihm gegenüber gleichgültig oder hat keine Meinung.

Eine weitere Frage, die das Lewada-Institut stellte, lautete:

Sind Sie einverstanden oder nicht einverstanden mit dem Urteil „Stalin war ein großer Staatsmann“?

Die Farben bedeuten:

dunkelblau: überhaupt nicht einverstanden
hellblau: eher nicht einverstanden
grau: teils, teils
orange: eher einverstanden
rot: vollkommen einverstanden
grau: keine Antwort

Wie man an der Verteilung des orange-roten Bereichs sieht, dominiert seit einigen Jahren die Meinung, Stalin sei ein großer Staatsmann gewesen. Die Kritiker, 1992 noch 37%, sind auf 12% zurückgegangen. Rechnet man noch die rund 30% dazu, die Stalin zumindest teilweise attestieren, ein großer Führer gewesen zu sein, ist die Minderheit, die ihn und sein Wirken klar ablehnt, erschreckend klein geworden.

Quelle: https://www.levada.ru/2023/08/15/otnoshenie-k-stalinu/

Neue Denkmäler

Putin hält sich bisher eher bedeckt, was die Rolle Stalins in der russischen Geschichte betrifft. Die Vorschläge, Wolgograd wieder in Stalingrad umzubenennen, die schon seit Längerem und gerade in diesem Jahr zum 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad verstärkt geäußert wurden, hat er nicht aufgegriffen („zu früh“). In seinen historischen Exkursen kommt Stalin kaum vor, da greift er lieber auf Peter den Großen zurück. Ein Grund dafür könnte die Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche durch Stalin sein, die sich nicht wegdiskutieren lässt (laut „Memorial“ mehr als 90.000 ermordete Geistliche, 90% der Kirchengebäude zerstört) – die Kirche aber ist für Putin heute ein wichtiger politischer Verbündeter.

Echte Stalin-Fans lassen sich aber auch davon nicht abhalten und bringen das Kunststück fertig, Stalin allen Fakten zum Trotz als Beschützer der Kirche und der Gläubigen hinzustellen – zum Beispiel Maria Schukschina, eine bekannte Schauspielerin und TV-Moderatorin, Tochter von Wassili Schukschin, der in den 1950er bis 1970er Jahren ein sehr populärer Filmschauspieler, Regisseur und Autor von Romanen und Erzählungen war.

Maria Schukschina, Screenshot von YouTube

Gemeinsam mit einem nationalistischen „Fonds zur Bewahrung des kulturellen Erbes“, der sich den markigen Namen „Russischer Recke“ („Русский Витязь“) gegeben hat, setzt sich Maria Schukschina seit geraumer Zeit dafür ein, dass Stalin an prominenter Stelle ein Denkmal errichtet wird. In Wolgograd wurde die von ihr vorgeschlagene Skulptur nicht aufgestellt, man begnügte sich dort mit einer kleinen Büste, auch in Woronesch und anderen Städten wollte man sie nicht haben. Aber nun hat das von dem Bildhauer Michail Krassilnikow geschaffene, acht Meter hohe bronzene Standbild doch noch einen festen Platz gefunden – allerdings nur auf dem privaten Betriebsgelände einer Firma für Regalsysteme in Welikije Luki, einer Stadt in Nordwestrussland.

In der Online-Ausgabe des „Moskowski Komsomolez“ erschien vor einer Woche ein Interview mit Schukschina zu diesem Ereignis (mit einem bemerkenswerten P.S. des Journalisten am Ende des Interviews). Hier Ausschnitte daraus.

In Welikije Luki wurde auf dem Territorium des Unternehmens „Mikron“ feierlich ein acht Meter hohes Denkmal für Stalin enthüllt. Zur Einweihung kam die Schauspielerin Maria Schukschina und bezeichnete Stalin als „von Gott geschenkt“. Wir fragten Maria, wofür sie dem Führer der Völker dankbar ist, unter dem 1933 ihr Großvater, der Vater von Wassili Schukschin, wegen „Verschwörung gegen den Kolchos“ erschossen wurde. (…)

Was macht Stalin in Ihren Augen so groß?

Seine Bedürfnislosigkeit! Nach seinem Tod waren von all seinem Besitz nur eine Militärjacke und ausgetretene Stiefel übrig. Dieser Mann hat so wenig an sich selbst gedacht, er hat nur für das Wohl des Landes und der Menschen gearbeitet – und das ist für mich die wichtigste Eigenschaft eines Staatslenkers. Er hatte überhaupt keine persönliche Habe. Keine Brillanten, keine Schlösser, keine Villen, keine Wagenparks, keine Hubschrauber, keine Jachten. Nichts!

Nun, und weiter schätze ich die Fähigkeit Stalins, zehn Jahre vorauszuschauen. Stalin hat die Verfolgung der Kirche faktisch gestoppt. Schon zu Lebzeiten Lenins hat er das versucht, 1923. Und 1936 hat Stalin Abtreibungen verboten. Laut Volkszählung wuchs die Bevölkerung unter Stalins Regierung um 60 Millionen Menschen. Aber in den Chruschtschow-Jahren wurden seine Erfolge wieder zunichtegemacht.

Einweihung des Stalin-Denkmals in Welikje Luki, Foto: mk.ru

In Ihrer Rede zur Einweihung des Denkmals nannten Sie Stalin „einen von Gott geschenkten Führer“ …

Als rechtgläubiger Mensch achte und verehre ich Iossif Wissarionowitsch Stalin. Viele Diener der Kirche bezeichnen den Stalinismus als göttliche Vorsehung. Die Moskauer Patriarchen Sergius und Alexius wie auch der heilige Erzbischof Luka Wojno-Jassenezki nannten Stalin einen von Gott geschenkten Führer. Und nicht nur sie, auch Marschall Rokossowski, der unter Stalin inhaftiert war, hat im Gespräch mit Chruschtschow, als der von ihm verlangte, Stalin mit Schmutz zu übergießen, kategorisch abgelehnt und gesagt: „Genosse Stalin ist für mich ein Heiliger.“ Danach wurde der Marschall aller seiner Posten enthoben.

(…)

Gab es Kritik an Ihnen nach der Einweihung des Denkmals?

Das war keine Kritik, das war Wut! Ich durfte mir alle möglichen liberalen Phrasen anhören, von Organisationen, die als ausländische Agenten eingestuft sind. In deren Rhetorik bedeutet ein Denkmal für Stalin gleich die Rückkehr zu den Repressionen. Das ist eine Diskreditierung unserer Geschichte, aber so was hat bei denen seit dreißig Jahren Methode. Zu persönlichen Beleidigungen gegen mich sind sie vorläufig noch nicht übergegangen. Aber bald, das spüre ich, werden sie sich auch das nicht mehr verkneifen, wie üblich. Und Stalin hassen und fürchten sie bis heute.

Aber die stalinistischen Repressionen haben doch auch Ihre Familie getroffen …

Mein Großvater ist 1933 erschossen worden. Und die Familien einiger Leute, die bei der Einweihung des Denkmals dabei waren, haben gelitten, ich weiß. (…) Ich verstehe schon, die moralische Entscheidung ist nicht einfach. Aber dafür, dass mein Großvater erschossen wurde, kann ich den Mann, der unser Land und die Kirche gerettet hat, nicht hassen.

(…)

Alle wünschen sich, dass wir jetzt, wo der Patriotismus wieder wie unter Stalin in den 1930er Jahren erstarkt ist, in der Spur bleiben und nicht wieder umschwenken. Als deutlich wurde, dass es statt einer zweiten Weltrevolution einen Weltkrieg geben würde, wusste Stalin, dass er nur siegen kann, wenn er sich auf die russische Kultur und Geschichte und auf das russische Volk stützt. Alle Heiligen, die man zuvor geächtet hatte, wurden rehabilitiert. 1938 drehte man den Film „Alexander Newski“, weil er gegen die Deutschen gekämpft und sie besiegt hatte. Das war ideologische Juweliersarbeit, entschlossen und zielgerichtet ausgeführt. (…)

Homepage des Vereins „Russischer Recke“ („Русский Витязь“), Screenshot

In unserem Land wird Stalingrad mit Blut und Opfern assoziiert. Das ist eine bewusste Irreführung. Aus uns Russen macht man mit Absicht Barbaren und Monster. Das hat nur ein Ziel: uns das Gefühl von Schuld, Scham und Furcht einzupflanzen, um uns dann nach Belieben zu manipulieren. (…) Man nimmt uns die Achtung vor unserer Geschichte, den Stolz darauf. Aber wenn man nichts hat, worauf man stolz sein kann, ist man ein Knecht und Sklave.

Das Thema der Reue wird benutzt, um alles Sowjetische herabzusetzen: Erfahrungen, Errungenschaften, den Sieg. Und so kommt es, dass wir das Denkmal auf einem Privatgelände in Welikije Luki einweihen. Die Beamten fürchten sich, Verantwortung zu übernehmen. Es ist klar, dass solche Denkmäler vorläufig noch auf privatem Territorium stehen werden.

Nach unseren Informationen könnte es in diesem Jahr noch drei bis vier neue Denkmäler für Stalin in Russland geben. Was glauben Sie, können wir bald mit der Einweihung eines solchen Denkmals im Zentrum der Hauptstadt rechnen?

Stalin gebührt ein Denkmal direkt auf dem Roten Platz. Aber damit rechne ich frühestens in 10 bis 15 Jahren.

P. S. In der Familie des Redakteurs, der dieses Interview geführt hat, wurden während der stalinistischen Repressionen drei Menschen erschossen, darunter ein Priester, zwölf wurden entkulakisiert und in die Verbannung geschickt.

https://www.mk.ru/politics/2023/08/16/mariya-shukshina-obyasnila-otkrytie-pamyatnika-stalinu-pri-kotorom-rasstrelyali-ee-deda.html

Bei der Einweihungsfeier des Stalin-Denkmals war auch ein russisch-orthodoxer Priester der Eparchie Welikije Luki zugegen. Er segnete das Denkmal, besprengte es mit Weihwasser und hielt eine Ansprache, in der er sich allen Ernstes zu der Aussage verstieg, von der Ermordung vieler Geistlicher durch Stalins Regime habe die Kirche ja auch profitiert, da sie auf diese Weise neue Heilige und Märtyrer bekommen habe.

Inzwischen hat die orthodoxe Kirche eine Untersuchung dieses Vorfalls veranlasst und erklärt, dass der Priester nicht in ihrem Auftrag an der Feier teilgenommen habe und dass seine Worte über die neuen Märtyrer „gotteslästerlich“ („кощунственными“) seien: https://lenta.ru/news/2023/08/18/stalin/