RUSSLAND HEUTE

Sie hat es mit Foto auf die offizielle Website des Kreml geschafft. Im Oktober wurde sie 90 Jahre alt, und seit rund zwanzig Jahren ist sie ein beliebter Gast in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, wo sie ehrfürchtig befragt wird, „wie man einen Führer erzieht“. Wera Gurewitsch, die mütterlicherseits von Wolgadeutschen abstammt und am 10. Oktober 1933 in Engels geboren wurde, war Putins Deutschlehrerin, zu der er bis heute Kontakt hält.

Das ist ein Screenshot von der Website des Kreml, auf der man unter dem Stichwort „Persönliches“ eine ausführliche und reich bebilderte Biographie Putins findet. Das Foto von Wera Gurewitsch stammt aus den 1960er Jahren, als sie an der Schule Nr. 193 in Leningrad unterrichtete. Der Text über dem Bild lautet:

Seine Lehrerin Wera Dmitrijewna Gurewitsch erzählte: „In der fünften Klasse ist er noch nicht besonders aufgefallen, aber ich merkte, in ihm steckt Potenzial, Energie, Charakter. Ich erblickte großes Interesse an der Sprache, er begriff leicht. Er hatte ein sehr gutes Gedächtnis, einen beweglichen Verstand. Ich dachte: aus diesem Kerlchen wird mal was. Ich beschloss, ihm mehr Aufmerksamkeit zu widmen, ihm keine Gelegenheit zu geben, mit den Jungs von der Straße Kontakt zu haben.“

Was nicht auf der Kremlseite steht, aber in Interviews nachzulesen ist – der Kontakt mit den „Jungs von der Straße“ war Anlass für die Lehrerin, sich mit Putins Eltern in Verbindung zu setzen und sie darüber zu informieren, dass ihr Sohn in schlechte Gesellschaft geraten sei, dauernd die Schule schwänze und keine Hausaufgaben mache.

2004 schrieb Wera Gurewitsch, inzwischen längst im Ruhestand, ein ganzes Buch über ihren Schüler, der inzwischen der mächtigste Mann des Landes geworden war. Es heißt „Wladimir Putin. Eltern. Freunde. Lehrer“ und war in der ersten Auflage 195 Seiten lang. In späteren Auflagen wurde es kürzer, weil angeblich (ich konnte es nicht nachprüfen) mehr und mehr Abschnitte, die ein nicht so positives Licht auf den Porträtierten warfen, weggelassen wurden.

Das Buch wurde und wird jedenfalls stapelweise an Schulbüchereien verschenkt, und die Autorin tritt bis heute häufig in Schulen und Universitäten auf. 2018 zum Beispiel war sie zu Gast in der Herzen-Universität St. Petersburg, einer pädagogischen Hochschule, wo Studentinnen und Studenten ihr Fragen (nicht nur, aber auch) zu ihrem berühmten Schüler stellen durften. Die Zeitschrift „Pädagogische Nachrichten“ brachte einen ausführlichen Artikel unter der Überschrift „Wie man einen Führer erzieht“. Hier ein Abschnitt daraus.

Jelena, Studentin der Fachrichtung Biologie: „Was glauben Sie, welche Eigenschaften von Wladimir Wladimirowitsch Putin haben Sie gefördert?“

Wera Dmitrijewna: „Ich habe mit ihm von der sechsten Klasse an wie mit einem Erwachsenen geredet. Ich habe auf absolut alle Fragen geantwortet, die er mir gestellt hat. Das Wichtigste, was ich ihm und allen meinen Schülern stets gesagt habe: Nicht die Stellung ziert den Menschen, sondern der Mensch ziert die Stellung, die er innehat. (…) Was du auch tust, du musst deine Arbeit mit ganzem Herzen und ehrlich tun. Wolodja habe ich niemals als Staatsoberhaupt gesehen. Ich dachte, er wird einmal zum goldenen Dutzend der Anwälte gehören, weil er in der Schule alle verteidigt hat. Das lag ihm in der Seele, am Herzen: verteidigen, rechtfertigen. Das ist eine sehr gute Eigenschaft. Er hat sehr früh den Titel ‚Meister im Sport‘ bekommen, schon in der Schule war er der Stärkste, aber nie hat er jemanden als Erster geschlagen. Wenn ein anderer einen Schwächeren physisch oder moralisch beleidigt hat, sagte er immer: ‚Das klären wir schon.‘ Und das haben sie getan. Nie in seinem Leben hat er jemanden angegriffen. Auch jetzt verteidigt er immer alle. Solange er an der Macht ist, werden wir niemals jemanden angreifen – das garantiere ich.“

https://lib.herzen.spb.ru/media/magazines/contents/3/2018/9_12/pedvesti_2018_9_12_page1_2.pdf
Screenshot von der Seite der Zeitung „Pädagogische Nachrichten“ mit der Schlagzeile „Wie man einen Führer erzieht“, rechts unten Wera Gurewitsch

Leider lag sie mit ihrer Vorhersage falsch.

An der diesjährigen Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz nahm Putins Lehrerin als Ehrengast teil. Reporter des staatlichen Fernsehkanals „Rossija 1“ führten ein kurzes Interview mit ihr, das im Fernsehen gezeigt und auch von den Nachrichtenagenturen zitiert wurde:

Bei der Siegesparade in Moskau war auch Wera Gurewitsch anwesend – die Lehrerin Wladimir Putins. Sie ist fast 90, hat viel im Leben gesehen und begreift, in welch schwieriger Phase sich jetzt Russland und ihr Schüler befinden.

„Natürlich mache ich mir Sorgen, und nicht nur ich. Er selbst sorgt sich bestimmt auch, nur weiß ich – er wird es sich niemals anmerken lassen, dass er besorgt ist“, sagte Wera Gurewitsch in einem Interview mit Pawel Sarubin, dem Moderator der Sendung „Moskau. Kreml. Putin“. „Ich gratuliere allen zum Feiertag, zum baldigen Sieg, den wir erringen werden.“

Auf die Frage, ob Putin aus Lehrersicht alles richtig mache, antwortete Wera Gurewitsch, dass sie kein Recht habe, „diese Situation zu bewerten“. „Jetzt ist wohl eher er mein Lehrer“, sagte sie. „Er weiß es am besten, er steht an dem Platz, an den er gehört“, fügte Wera Gurewitsch hinzu.

https://www.vesti.ru/article/3351648
Schüler Wladimir und seine Lehrerin Wera bei ihrem letzten persönlichen Treffen vor zwei Jahren, Foto: lenta.ru

Es gab noch eine zweite Lehrerin, die Putin die deutsche Sprache nahebrachte: Mina Judizkaja-Berliner, die ihn in den beiden letzten Schuljahren unterrichtete. Sie emigrierte bereits in den 1970er Jahren nach Israel, 2017 starb sie dort im Alter von 96 Jahren. Bei einem Staatsbesuch Putins in Israel 2005 war sie sein Gast, er schenkte ihr zunächst eine Uhr und eine Biographie von sich mit Widmung und dann noch eine Eigentumswohnung in Tel Aviv.

„Bald darauf erschien bei mir jemand von Putin aus Moskau. Erst hatte ich Angst und wollte ihn nicht hereinlassen. Aber Wolodja hatte mich bei unserem Treffen gebeten, meine Adresse aufzuschreiben. Dieser Mann hatte eine Kopie von dem Blatt und zeigte sie mir. Das beruhigte mich. Er sagte mir, Putin sei ein sehr dankbarer Mensch. Wer ihm einmal etwas Gutes getan habe, den vergesse er nicht. Weiter sagte er, die Begegnung mit mir habe einen großen Eindruck auf Putin gemacht“, erzählt Mina Judizkaja.

https://www.newsru.com/russia/05oct2007/tella.html

Wie israelische Journalisten kürzlich herausgefunden haben, kamen die 240.000 Dollar für die Eigentumswohnung allerdings weder von Putin persönlich noch von der russischen Regierung, sondern stammten von einer Offshore-Firma des Oligarchen Roman Abramowitsch, der schon öfter größere Geldsummen an die russisch-jüdische Gemeinde in Israel gespendet hat und außerdem an diversen von Putin gelenkten finanziellen Transaktionen beteiligt war bzw. ist (mehr dazu hier: https://www.vesty.co.il/main/article/ryu9p59z2 und hier: https://www.derstandard.de/story/2000145140258/abramowitsch-schenkte-putins-lieblingslehrerin-eine-wohnung-in-israel). Putin selbst besitzt ja bekanntlich nicht mehr als das Nötigste – zumindest auf dem Papier.