Manchmal findet man in der russischen Presse unter all den patriotischen, staatstragenden und den „Leader“ Putin preisenden Artikeln auch einen Beitrag, dem deutlich anzumerken ist, dass der Verfasser bzw. in diesem Fall die Verfasserin einigermaßen genervt auf die ganze Propaganda reagiert und mit der Faust in der Tasche schreibt – wie beim folgenden Artikel aus dem Online-Medium „Moskowskij Komsomolez“ (normalerweise durchaus kremltreu), in dem über Putins Auftritt auf dem Kongress der „Bewegung der Ersten“ berichtet wird. Diese „Bewegung“ ist eine 2022 gegründete neue staatliche Jugendorganisation – Einzelheiten dazu im zweiten Teil dieses Beitrags. Ihr zweiter Kongress fand im Rahmen der großen Ausstellung „Rossija“ statt, die noch bis April 2024 in Moskau läuft und den Errungenschaften Russlands (inklusive seiner „neuen Territorien“) der letzten zwanzig Jahre gewidmet ist.
Hier die Übersetzung des Artikels, mit leichten Kürzungen. Die Fotos stammen von der offiziellen Kremlseite (www.kremlin.ru).
Wladimir Putin kam am letzten Tag des Kongresses auf die Ausstellung, als das Programm bereits absolviert war und die „Ersten“ sich schon entspannen konnten. Während die Teilnehmer auf den Präsidenten warteten, sangen sie Lieder und übten Parolen ein, die bei den nicht allzu zahlreich anwesenden Erwachsenen trübe Erinnerungen weckten. „Keinen Schritt zurück, keinen Schritt auf der Stelle, die ‚Bewegung der Ersten‘ heißt: Alle gemeinsam“ – Sie werden zugeben, das unterscheidet sich kaum von der Devise der Allunions-Organisation der Pioniere, die in sowjetischen Zeiten jeder Schüler kannte.
Im Takt zur Musik wurden die Kinder angehalten, Fähnchen zu schwenken und von Zeit zu Zeit das Wort „Rossija“ zu skandieren. Allerdings fand der Moderator die ganze Zeit, sie wirkten nicht aktiv und glücklich genug. „Lauter, lauter, mehr Emotionen“, verlangte er vom Saal. „Der junge Mann in der dritten Reihe lächelt ja nicht einmal. Reiß dich zusammen, du musst die anderen mit deiner Energie anstecken!“ Der Hauptunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, so erläuterte der Moderator, bestehe darin, dass Erwachsene einen Anlass brauchen, um sich zu freuen – Kinder aber nicht: Sie können einfach so lachen. „Deshalb zeigt eure Emotionen, zeigt eure Zähne! Sagt: Ha-ha-ha!“, forderte der Mann.
Das Zähnezeigen klappt hier schon ganz gut.
Vielen gelangen die Gefühle auf Kommando, aber verständlicherweise nicht allen. Um so mehr als die Kinder in vier Stunden Wartezeit merklich ermüdeten. Für ihre Ausdauer wurden sie ausdrücklich gelobt, und man gab ihnen den Rat, die Arme um ihre Nachbarn zu legen, damit sie im Falle des Falles gehalten wurden und nicht umkippten. Ein Rat, den auch Sergej Kirijenko, stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, Vize-Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa und Putins Berater Maxim Oreschkin befolgten, die gemeinsam mit den „Ersten“ auf die Ankunft des Präsidenten warteten. Als Wladimir Putin dann den Saal betrat, konnte der Moderator endlich zufrieden sein: Die Teilnehmer zeigten einen echten, vollkommen aufrichtigen „Sturm der Gefühle“.
Warten auf Putin – Arm in Arm
Der Präsident schaute über die im Saal Versammelten und sagte, die „Bewegung der Ersten“ habe sich in ihrer erst ein Jahr währenden Existenz in eine „riesige Armee“ verwandelt, die „interessante, schöne Dinge“ mache: Sie pflanzt Bäume, schreibt Briefe an die Front, sammelt Bücher für den Donbass und Noworossija. Putin unterstrich, dass der Kongress der „Ersten“ nicht zufällig auf der „Rossija“-Ausstellung stattfinde, auf der die Errungenschaften des Landes der letzten zwanzig Jahre gezeigt würden. Früher einmal seien die hier vorgestellten Projekte nur irgendjemandes Traum gewesen – wie zum Beispiel die Brücke in Wladiwostok, die man von Ansichtskarten des frühen 20. Jahrhunderts kenne. „Und jetzt gibt es diese Brücke und noch eine weitere und noch viele Errungenschaften, von denen man seinerzeit nicht einmal geträumt hat“, sagte Putin. Er rief die „Ersten“ dazu auf, ihre Ziele konsequent zu verfolgen und ihre Träume zu verwirklichen – dann werde Russland blühen und gedeihen. Anschließend sang der Präsident zusammen mit dem Saal a cappella alle drei Strophen der Nationalhymne.
Putin und Mitglieder der „Ersten“ singen die Nationalhymne.
Aktuell sind 4,7 Millionen Kinder Mitglied in dieser Organisation oder fast 13 % der russischen Bevölkerung im Alter von 6 bis 18 Jahren (insgesamt gehören zu dieser Altersgruppe laut staatlicher Statistikbehörde Rosstat 36,3 Millionen Menschen). Das hört sich ganz beachtlich an, aber in der Bewegung selbst ist man der Ansicht, es sei nicht genug. Deswegen wurde auf dem Kongress der Beschluss gefasst, die Altersgrenze von 18 auf 25 Jahre zu erhöhen. So sei es möglich, die Arbeit in Hochschulen und Colleges erheblich auszuweiten und einen nahtlosen Übergang zur nächsten Stufe der Hierarchie zu organisieren.
Zum Schluss bekamen alle Mädchen und Jungen zur Belohnung für ihre Geduld ein Bild von Putin mit Autogramm.
Eine neue Jugendorganisation
Die „Bewegung der Ersten“, im Juli 2022 von der Duma per Gesetz beschlossen und im Dezember 2022 gegründet, untersteht direkt dem Präsidenten. Damit verfügt der Staat wieder über eine große einheitliche Jugendorganisation, mittels derer er Kinder und Heranwachsende auch außerhalb von Schule und Uni direkt erreichen und beeinflussen kann. Auf der sehr professionell gestalteten Website der Organisation werden als „Werte der Bewegung“ elf Punkte aufgeführt, drei davon betreffen die Erziehung zum Patriotismus: „Historisches Gedächtnis“, „Patriotismus“ und „Dienst fürs Vaterland“. Außerdem findet man die „Starke Familie“, die „Einheit der Völker Russlands“ und einige allgemeingültige Werte, die immer passen („Freundschaft“, „Träume“, „Gerechtigkeit“ usw.). „Wir haben uns zusammengeschlossen, um Russland eine große Zukunft zu garantieren“, heißt es weiter auf der Website.
Jeder Bezirk in Russland hat seine eigene regionale Abteilung, bei „VKontakte“ (das russische Facebook) und Telegram ist die Bewegung ebenfalls vertreten. Es muss eine generalstabsmäßige Planung gegeben haben, um eine landesweite Organisation mit Hunderten von Angestellten und Kursleitern so schnell und effektiv aufbauen zu können.
Wer sich, wie die Journalistin in dem zitierten Artikel, an die Pioniere der Sowjetzeit erinnert fühlt, liegt übrigens ganz richtig, und die Assoziation ist durchaus beabsichtigt. Durch die Erhöhung der Altersgrenze werden demnächst auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen einbezogen, die in der Sowjetunion im Komsomol organisiert waren, damit ist das alte Schema komplett.
Putin selbst erinnerte in einem Grußwort an die „Bewegung der Ersten“ im letzten Sommer ausdrücklich an die sowjetischen Jugendorganisationen, in denen die Eltern der jetzigen „Ersten“ Mitglied waren, und versicherte den Jugendlichen: „Dabei kopiert ihr aber nichts, vielmehr belebt ihr auf zeitgemäßem Niveau die guten, wertvollen Traditionen, darunter auch die der früheren Pionierorganisation. “ (http://kremlin.ru/events/president/news/71265)
Die Mitgliedschaft bei den „Ersten“ ist (noch?) freiwillig. Wenn man sich auf der umfangreichen Website ein wenig umsieht, entdeckt man neben der obligatorischen Vaterlandsliebe und den „traditionellen Werten“ auch viele andere Themen und Projekte, denen die Kinder und Jugendlichen sich anschließen können: die ökologischen Workshops der „Junnaty“, der „Jungen Naturalisten“ z. B., Erste-Hilfe-Kurse, Projekte zur Verkehrssicherheit. Prominent vertreten sind Wissenschaft, Technik, Sport. Eine „Aktion der tausend guten Taten“ erinnert ein wenig an unsere Pfadfinder. Andere Projekte sollen bei der Berufswahl helfen: „Handle – Der Business-Club für junge Unternehmer – für Jugendliche 14+“ heißt es auf dieser Seite, und mit einem Klick auf den grünen Button „Ich will in den Club!“ kann man sich sofort online anmelden.
So sieht der junge Unternehmer der „Bewegung der Ersten“ aus (Screenshot von der Website)
Die neue Bewegung hat auch schon eine eigens für sie komponierte und getextete Hymne (getragener Refrain, flott gerappte Strophen und ein ziemlich nichtssagender Text) und verfügt über einen Internet-Radiosender.