Seit dem 21. Juli 2023 sitzt Igor Girkin, der sich selbst Strelkow nennt (abgeleitet von „strelok“, dem russischen Wort für „Schütze“), in Untersuchungshaft. Ihm wird „Öffentlicher Aufruf zum Extremismus unter Nutzung des Internets“ nach § 280.2 des russischen Strafgesetzbuches vorgeworfen, ein Tatbestand, der mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. Girkin gehört zu den Ultranationalisten oder „Turbopatrioten“, wie sie in Russland auch genannt werden. Er hatte im April einen „Club der zornigen Patrioten“ gegründet, greift schon länger die militärische Führung und auch Putin selbst scharf an und kritisiert ihre Vorgehensweise im Ukrainekrieg als zu zögerlich und schwach (mehr Infos dazu sowie das Manifest der „Zornigen Patrioten“ kann man in einem früheren Beitrag hier lesen: https://bagulnik.de/der-club-der-zornigen-patrioten/).
Igor Girkin-Strelkow, Screenshot von seinem Telegram-Kanal
Auf dem Bild oben sieht man Girkin in markiger Pose vor einer Fahne von „Noworossija“ („Neurussland“), dem 2014 einseitig von Russland proklamierten Staatsgebilde auf ukrainischem Territorium, bestehend aus der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk, ein „Staat“, der außer von Russland selbst nur von Syrien und Nordkorea anerkannt wird. In Donezk war Girkin militärischer Kommandeur der Separatistenbewegung.
Mit der in der Anklageschrift erwähnten „Nutzung des Internets“ ist vor allem sein Telegram-Kanal gemeint, auf dem auch weiterhin, trotz U-Haft und der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, lebhaftes Treiben herrscht – seine zahlreichen Anhänger äußern sich dort, seine Frau ruft zu seiner Befreiung auf und postet gleichzeitig niedliche Fotos von der gerade eingeschulten gemeinsamen Tochter. Am 31. August meldete sich Girkin dann persönlich mit einem Text, in dem er sich selbst als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr vorschlägt und sechs Punkte aufzählt, die ihn seiner Meinung nach zu diesem Amt befähigen und die er als seine „Pluspunkte im Vergleich zum amtierenden Präsidenten unter den Bedingungen der militärischen Spezialoperation“ bezeichnet. Dabei erfährt man unter anderem, woran es liegt, dass die Spezialoperation nicht richtig vorankommt: Putin ist einfach zu gut und anständig für diese harte Welt.
Hier der Text von seiner Telegram-Seite mit allen Pluspunkten, die Girkin nach eigener Einschätzung als besseren Präsidenten und Heerführer qualifizieren:
1. Unser Präsident verzichtet darauf, die Kriegsoperationen zu leiten, er hält sich in militärischen Fragen für nicht kompetent. Ich glaube, dass ich in Militärfragen kompetenter bin als der amtierende Präsident und ganz bestimmt kompetenter als der amtierende Verteidigungsminister, deshalb könnte ich die Verpflichtungen des Oberkommandierenden wie in der Verfassung der Russischen Föderation vorgesehen erfüllen.
2. Unser Präsident ist ein überaus vertrauensseliger Mensch, acht Jahre lang wurde er an der Nase herumgeführt, gemeinsam und einzeln von Obama, Trump, Macron, Merkel, Poroschenko und Selenskyj. Das passierte in Minsk und beim Normandie-Format, in Istanbul und bei vielen anderen Gelegenheiten. Ich für meine Person kann sagen: Seit dem Jahr 2014 habe ich die Personen, die den gegenwärtigen Präsidenten über den Tisch gezogen haben, niemals als teure und geschätzte Partner bezeichnet, ganz im Gegenteil habe ich ihnen nie über den Weg getraut.
3. Der amtierende Präsident ist viel zu gutmütig. Als vor anderthalb Jahren die Spezialoperation begann, konnte er sich schnell davon überzeugen, dass ihn nicht nur die geschätzten westlichen und Kiewer Partner an der Nase herumgeführt hatten, sondern auch die Chefs unserer Sicherheitsbehörden, unserer Geheimdienste und unserer Rüstungsindustrie. Es stellte sich heraus, dass weder das Land noch die Armee noch die Industrie auf einen Krieg vorbereitet waren und dass die sogenannte Ukraine in militärischer Hinsicht keineswegs nur ein hohler Popanz war. Trotzdem blieben alle Führer der genannten Strukturen (und auch anderer, z. B. die der Zentralbank) auf ihren Posten und verblüffen uns weiterhin mit ihrer Inkompetenz.
Ich dagegen bin längst nicht so gutmütig, was ich in der Praxis beweisen kann.
4. Unser Präsident hat sehr viele Milliardäre und Geschäftsleute als Freunde, denen er (aufgrund seiner oben erwähnten Gutherzigkeit und Großmut) nichts abschlagen kann. Als Ergebnis fließt immer mehr Kapital aus der Russischen Föderation ab, und die Rüstungsproduktion wächst weitaus langsamer als das Kapital der Präsidentenfreunde. Ich dagegen habe nicht einmal einen Millionär zum Freund, auch bei Unternehmern sieht es eher mau aus. Überhaupt habe ich nicht allzu viele Freunde, und die, die ich habe, sind nicht reich. Also brauche ich auf Wünsche von Freunden, die der russischen Wirtschaft schaden, nicht einzugehen.
5. Wladimir Wladimirowitsch ist eine hochmoralische Persönlichkeit, er hält immer sein Wort und löst alle Versprechen ein, die er den Leuten gegeben hat, die ihn Ende der „wilden“ Neunziger an die Macht gebracht haben. Ich aber habe niemandem etwas versprochen und kann deshalb alle persönlichen Verpflichtungen aller russischen Präsidenten von 1991 bis zum heutigen Tag ignorieren, wenn ich der Meinung bin, dass das für Volk und Staat von Nutzen ist.
6. Ich bin nicht so sportlich und gesund, wie Wladimir Wladimirowitsch es in meinem Alter war, deshalb, liebe Wähler, kann ich euch schon aus physischen Gründen keine zwanzig und mehr Jahre zur Last fallen, selbst wenn ich plötzlich den Wunsch verspüren sollte, mich mit euch auch noch nach Bewältigung der militärischen Krise und ihrer schweren Folgen abzuplagen.
Die „Nesawissimaja Gaseta“, die im Rahmen des in Russland noch Möglichen meist recht ruhig und besonnen berichtet, veröffentlichte in den letzten Wochen mehrere Artikel zu Strelkow. Vorgestern, am 5. September, erschien ein bemerkenswerter Leitartikel unter der Überschrift „Der Fall Igor Strelkow und die patriotische Kampfansage an die Macht“, der das Dilemma, in dem sich Russlands Machthaber befinden, gut auf den Punkt bringt. Die wichtigsten Abschnitte daraus habe ich übersetzt:
Igor Strelkow hat sich sogar aus dem Untersuchungsgefängnis heraus in einen der wichtigsten „Newsmaker“ im öffentlichen politischen Raum verwandelt. (…)
Diese stürmische Betriebsamkeit erinnert an die Protestbewegung und die Massenunruhen in Moskau rund um den Bolotnaja-Prozess. Neue Politiker tauchen auf, Komitees werden gegründet, Absichtserklärungen veröffentlicht, bald schließt man sich für die gemeinsame Sache zusammen, um sich dann doch wieder zu trennen und nie wieder am selben Tisch zu sitzen. Man nimmt an Wahlen teil, entwickelt politische Strategien, es kandidieren Leute, deren Namen man sich merken muss. Die liberale Opposition im Land, die sich nicht im System integrieren konnte, ist mittlerweile zersprengt; manche sitzen im Gefängnis, viele sind emigriert. Nun merkt man, dass die Nationalpatrioten ähnliche Aktivitäten entwickeln. Rund um Strelkow bilden sich sogar schon konspirative Theorien: Ist seine von ihm selbst ausgerufene Kandidatur vielleicht das Resultat irgendwelcher Absprachen mit der Staatsmacht, grob gesagt – ein Schachzug in einer Polittechnologie, die die Präsidentschaftswahlen im Visier hat?
Jede Verschwörungstheorie verlangt eine komplizierte Deutung von Ereignissen, die man auch einfacher erklären kann. Die liberale Opposition lässt sich leicht anprangern: Sie sympathisiert mit dem Westen, bekommt Geld aus dem Ausland, agiert im Interesse von Washington und Brüssel, will das Land in die bösen Neunziger zurückwerfen. Bei Igor Strelkow, der aufgrund von Extremismus-Verdacht festgenommen wurde, funktionieren diese Mechanismen nicht. Er war schon 2014 im Donbass. In seinen Ansichten findet man nichts Prowestliches. Er ist vermutlich der letzte Mensch, dem man das Etikett „ausländischer Agent“ anpappen kann. Mehr noch, das Bezirksgericht von Den Haag hat ihn in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen des Absturzes der malaysischen Boeing verurteilt. Insgesamt also das Profil eines Politikers, der bei einem eventuellen Einzug in die Duma rechts von sich nur noch die Wand hat.
Zudem sitzt Igor Strelkow im Untersuchungsgefängnis und wird angeklagt nach demselben Paragraphen, nach dem sonst Politiker mit liberalen Ansichten zu Haftstrafen verurteilt werden. Es ist aufschlussreich, dass dies nach dem „Prigoschin-Aufstand“ geschehen ist. Dieser Aufstand wurde zu einer Art „point of no return“ im Umgang der Staatsmacht mit einer elementaren patriotischen Bewegung. Die Regierung hat gesehen, wie dieser Teil der Gesellschaft zu handeln imstande ist, der Marsch auf Moskau wurde für sie zu einer präzedenzlosen Provokation. Strelkow ist ein Mann mit Kampferfahrung, mit einer soliden Reputation, Charisma und politischem Potenzial. Solche Leute werden, wie sich zeigt, zu einer Quelle der Gefahr.
Periodisch kommen der Staatsmacht Ideen (oder kamen, muss man jetzt wohl richtiger sagen), wie sie derartige spontane politische Bewegungen ins System integrieren könnte. Jedes Mal endete das mit einem Misserfolg. Der Flirt mit den Liberalen führte zu Massenprotesten, die die Regierung als direkten Weg zu einer orangen Revolution interpretierte. Der Flirt mit den Nationalpatrioten endete mit dem Marsch der Wagner-Söldner auf die Hauptstadt. Die Liberalen fluten das Internet mit Enthüllungsmaterial, die Patrioten greifen sofort zur Waffe. Beide Arten des Diskurses sind gefragt: Die Videos im Internet werden geschaut, und entschlossene Männer mit kriegerischer Rhetorik finden immer Anhänger. Verhaftungen und Verbote lösen das Problem. Aber sehr wahrscheinlich nur vorläufig, die elementare Unzufriedenheit findet neue Formen.
Mit dem am Anfang des Artikels erwähnten „Bolotnaja-Prozess“ sind die Massenverhaftungen gemeint, die nach den Unruhen und den gegen Wahlfälschung gerichteten Protesten auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz in den Jahren 2011/2012 stattfanden.
Screenshot vom Telegram-Kanal Girkin-Strelkows
„Helden müssen in Freiheit sein!“ steht über diesem Bild, weiter heißt es: „Zur Unterstützung des Helden von fünf Kriegen – des Oberst Igor Strelkow!“ Seine Anhänger verabreden sich mit dieser Telegram-Nachricht zu einer Videokundgebung auf einem YouTube-Kanal namens „Leben – um der Heimat zu dienen!“ Strelkow im Zentrum ist umringt von namentlich bezeichneten Unterstützern, ganz rechts sieht man seine Ehefrau Miroslawa Reginskaja.
Vor zwei Tagen wurde von seinen wirklich sehr rührigen Anhängern schon wieder ein neuer Telegram-Kanal für ihn eröffnet, wo seine Fans ihre „Erinnerungen, Gedanken, Eindrücke zu ihrem Kommandeur, Politiker, Freund und Kollegen“ formulieren können. „Die Strelkower über Strelkow“ („Стрелковцы о Стрелкове“) heißt der Kanal, der schon am ersten Tag knapp 2000 Abonnenten fand: https://t.me/Strelkovtsy_o_Strelkove
Nachtrag April 2025: Inzwischen wurde Girkin im Januar 2024 wegen extremistischer Äußerungen („Aufrufe zum Extremismus im Internet“ hieß es im Urteil) zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt, die er im Lager Kirow-Tschepezk verbüßt. Ein Antrag auf vorzeitige Entlassung auf Bewährung wurde im Januar 2025 abgelehnt.