RUSSLAND HEUTE

Ein Denkmal der Freundschaft?

Auf dem Palastplatz mitten in St. Petersburg steht jedes Jahr ein riesiger Weihnachtsbaum. Im Dezember 2022 war es eine 25 Meter hohe echte Tanne, die Bürgermeister Alexander Beglow aufstellen ließ. Sie war umwunden mit Lichtergirlanden und behängt mit nostalgischem Christbaumschmuck im Stil der 1950er Jahre. Nur wenige Schritte entfernt glitzerte diesmal noch ein anderes „Kunstobjekt“, wie es in der russischen Presse genannt wurde: eine Lichtinstallation aus zwei miteinander verschlungenen Herzen, ein größeres für St. Petersburg, ein kleineres für Mariupol.

Foto: dnr-news.ru

Die Herzen sollten, wie in der Petersburger Lokalpresse zu lesen war, die Einheit, Freundschaft und Liebe der in den beiden Bruderstädten lebenden Menschen symbolisieren. Eine fast identische Installation war bereits im September 2022 im Stadtpark von Mariupol aufgebaut worden, als Geschenk der Bruderstadt St. Petersburg. Vom russischen Brudervolk war Mariupol bekanntlich kurz zuvor gnadenlos zerbombt worden. Zum kleinen Bruder hatte der Petersburger Bürgermeister Mariupol erst im Mai ernannt, nach der Eroberung und Besetzung durch die russische Armee.

Reaktionen der Bevölkerung

Die Installation auf dem Palastplatz war zwar schnell ein beliebtes Fotomotiv, ihrer Symbolik wurde aber von vielen Menschen zwiespältig gesehen. Reporter der Petersburger Internetzeitung „Bumaga“ – deren Website seit März 2022 in Russland blockiert wird – befragten Einheimische und Touristen, was sie a) vom Sinn und b) vom Design der Doppelherzen hielten. Hier einige Antworten auf die beiden Fragen.

Jara, Petersburgerin: Eine abstoßende, widerliche Installation. Ich denke, das ist sehr zynisch: zuerst die Stadt zerstören und sie dann zur Bruderstadt machen.

Jetzt lockt diese Installation die Leute an, weil sie neu ist und alle im Fernsehen Werbung dafür machen. Und natürlich, sich mit dem Winterpalast im Hintergrund in so einem Herzchen zu fotografieren, das finden viele „Wow“. Wenn es einfach Herzen ohne Aufschrift wären – warum nicht. Abgesehen davon, dass dafür wahrscheinlich ein Haufen Geld verbraten wurde.

Denis, Petersburger: Schicke Installation. Und gerade jetzt sehr aktuell. Wenn man bedenkt, was für ein Mist gerade passiert, sind die Herzen doch einfach klasse. Liebe und Mitgefühl muss es zu allen Zeiten geben. Ich bin sehr froh, dass unsere Städte Bruderstädte sind. Jetzt müssen wir uns nur noch mit Kiew verbrüdern, dann geht alles wieder seinen normalen Gang und wird super!

Mascha, Petersburgerin: Cringe. Mir gefällt das nicht, und ich empfinde Scham, wenn ich das sehe. Ich halte es für falsch, das aufzustellen. Die Leute sollen die Schönheit des Winterpalastes und des Schlossplatzes sehen, die Säule, den schönen Weihnachtsbaum, aber ohne Politik. Die Menschen sind müde von der Politik. Ständig zwängt man ihnen Politik auf, man redet von nichts anderem mehr.

Als diplomierte Designerin kann ich sagen, das ist scheußlich. Total altmodisch: eine Schrift wie aus den 2000ern, die Form der Herzen uninteressant.

Sascha, Touristin: Ich verstehe es so, dass es die Völkerfreundschaft symbolisiert. Ich kann nicht behaupten, dass es mir gefällt, aber ich habe auch nichts dagegen. Die Menschen sollen Freunde sein – aus allen Ländern und Städten. Man muss sich klar machen, dass es nicht die Einwohner der Städte sind, die Krieg führen, sondern die Regierungen.

Ich kann nur sagen, dass es vom Design her überhaupt nicht hierhin passt. Der Winterpalast ist ein historischer Bau, alle Gebäude hier sind im klassischen Stil, sogar an die Tanne hat man extra Spielsachen gehängt, die an die Kindheit erinnern. Hier sieht die Installation einfach albern aus. Und das Material, aus dem sie gemacht ist, wirkt sehr billig.

Bogdan, Petersburger: Die Idee finde ich ziemlich blöd, sie gefällt mir gar nicht, weil das ja bedeuten soll, wir sind verpflichtet, die Mariupoler in unsere große Familie aufzunehmen und ihnen materiell zu helfen, Häuser für sie zu bauen. Das ärgert mich, weil ich hier gemeldet bin und meine Steuern zum Budget der Stadt beitragen.

Ich habe überhaupt keine emotionale Beziehung zu dieser Stadt (Mariupol). Ich finde, unsere Stadt sollte ihr Geld für die eigenen Bürger ausgeben und nicht für die Bürger irgendwelcher neu angeschlossener Gebiete, die überhaupt nichts mit uns zu tun haben. Wir haben auch so schon Probleme mit dem Schnee, der nicht geräumt wird. Denen zu helfen, auf Kosten einer Verschlechterung meiner Lebensqualität, das gefällt mir absolut nicht.

In die weihnachtliche Atmosphäre der Stadt passt das auch nicht. Ich persönlich assoziiere Mariupol mit Bombardements und einem Krieg, an dem eher Russland schuld ist. Das kommt negativ rüber. (…)

Natalja, Touristin: Ich bin aus Tjumen nach Petersburg gekommen und habe diese Installation gerade jetzt zum ersten Mal gesehen. Ich finde, es ist nichts Schlechtes daran: sehr niedlich und weihnachtlich verziert. Insgesamt kann ich sagen, sehr gefühlvoll. Natürlich ist es traurig zu sehen, was gerade passiert, aber solche Installationen sind gerade in diesen Zeiten nötig, um zu zeigen, dass wir alle Menschen sind und vor allem, dass wir einander alle lieben.

https://paperpaper.io/ya-chuvstvuyu-styd-kogda-vizhu-eto–chto-p/

Protest und Vertuschung

Eine Woche standen die Herzen auf dem Palastplatz, dann ging am 18. Dezember um 12 Uhr mittags ein Anruf bei der Petersburger Polizei ein, dass eine unbekannte junge Frau sich am neuen Kunstwerk zu schaffen mache.

Am Ort des Geschehens eingetroffen, nahmen die Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane eine siebzehnjährige Petersburgerin fest, die verdächtigt wird, Aufschriften auf dem Kunstobjekt angebracht zu haben, die die Handlungen der Streitkräfte der Russischen Föderation diskreditieren.

https://neva.today/news/2022/12/19/409270

Um den genauen Wortlaut der diskriminierenden Aufschrift zu erfahren, muss man auf andere Kanäle als offizielle Verlautbarungen ausweichen, zum Beispiel auf den Telegram-Kanal von Xenia Sobtschak – nirgends in der lokalen Presse wird das mitgeteilt. Es war wohl zu peinlich, was da in schwarzen Buchstaben auf dem Mariupol-Herz stand: „Mörder, ihr selber habt es zerbombt. Judasse.“

Die Herzen wurden schnellstens abgebaut und fortgeschafft. Das junge Mädchen, es geht noch zur Schule, hat jetzt eine Anklage wegen Diskreditierung der Streitkräfte am Hals. Anfang Januar brachte man das Kunstobjekt gesäubert wieder an seinen alten Platz und stellte einen uniformierten Wachmann daneben.

https://www.svoboda.org/a/za-nadpisj-pro-ubiyts-na-serdechke-s-mariupolem-zaderzhali-shkoljnitsu/32182938.html

In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar verschwanden die Herzen dann endgültig, weil, wie die Stadtverwaltung auf Anfrage mitteilte, die mit der Lieferfirma vertraglich vereinbarte Frist für die Installation abgelaufen sei.

https://meduza.io/news/2023/01/20/v-peterburge-ubrali-dva-serdtsa-simvol-pobratimstva-s-mariupolem-mesyats-nazad-na-nem-napisali-ubiytsy-vy-razbombili-ego