RUSSLAND HEUTE
Zum zweiten Mal in seiner Amtszeit als Präsident hat Putin ein „Jahr der Familie“ ausgerufen. Das erste Mal war es 2008, nun ist es das kommende, 2024. Vor sechzehn Jahren bestand die ideale Familie noch aus Vater, Mutter und zwei Kindern, inzwischen ist die erwünschte Mindestanzahl der Kinder – betrachtet man die Bilder und Werbeplakate – auf drei oder manchmal sogar vier gestiegen.



Die niedrige Geburtenrate in Russland ist schon lange ein Problem. Kinderreiche Familien – als solche gelten Familien mit mindestens vier oder mehr Kindern – findet man vorwiegend in den nicht-russischen Ethnien, unter Jakuten, Burjaten, Tschetschenen usw.
Auf dem Treffen des 1993 von der Russisch-Orthodoxen Kirche gegründeten „Weltkonzils des russischen Volkes“ Ende November 2023, das unter der Maxime „Gegenwart und Zukunft der Russischen Welt“ stand, äußerte sich Putin zu diesem Thema wie folgt:
Die äußerst schwierigen demographischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, kann man auf keinen Fall nur mit Hilfe von Geld, Sozialleistungen oder Spezialprogrammen bewältigen. Ja, die Zahlen der „Demographie-Ausgaben“ im Budget sind beeindruckend, aber das ist längst nicht alles. Viel wichtiger sind die Wertmaßstäbe im Leben eines Menschen. Grundlage für die Familie, für die Geburt eines Kindes sind Liebe und Vertrauen, ist eine feste sittliche Stütze. Das dürfen wir niemals vergessen.
In vielen unserer Völker wird Gottseidank die Tradition der starken Mehrgenerationen-Familie bewahrt, einer Familie, in der vier, fünf oder mehr Kinder aufwachsen. Erinnern wir uns daran, dass es auch in russischen Familien, bei vielen unserer Großmütter und Urgroßmütter, sieben, acht oder sogar mehr Kinder gab.
Lassen Sie uns diese großartigen Traditionen schützen und wiederbeleben. Kinderreichtum, eine große Familie müssen die Norm werden, Lebensvorbild für alle Völker Russlands. Und die Familie ist nicht nur Basis von Staat und Gesellschaft, sie ist ein spirituelles Phänomen, eine Quelle der Moral.
Die Unterstützung von Familie, Mutterschaft, Kindheit muss in ausnahmslos allen Sphären staatlicher Verwaltung stattfinden, durch unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik, durch Infrastruktur, Aufklärung und Bildung und natürlich durch den Gesundheitsschutz. Alle gesellschaftlichen Gruppierungen und auch unsere traditionellen Religionen sind für die Stärkung der Familie unentbehrlich. Die Bewahrung und Vermehrung des Volkes von Russland ist unsere Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte, und ich füge hinzu: für alle zukünftigen Generationen. Es ist die Zukunft der Russischen Welt, des tausendjährigen ewigen Russland.
http://kremlin.ru/events/president/news/72863
Die Jugend sieht es anders
Eine Umfrage unter jungen Leuten von 18 bis 23 Jahren in verschiedenen Regionen Russlands ergab leider nicht die von Putin erwünschten Antworten und Überzeugungen, wie die „Nesawissimaja Gaseta“ berichtet:
Insgesamt ist eine Abwendung vom traditionellen Modell der Familie mit den typischen Merkmalen wie Kinderreichtum und engem Zusammenhalt der Generationen zu beobachten. Eine verpflichtende Legalisierung der Ehe wird abgelehnt, man orientiert sich auf wenige oder gar keine Kinder sowie auf die Kernfamilie. (…)
Unter den traditionellen Familienwerten sind für die junge Generation gegenseitige Unterstützung, Toleranz und Geborgenheit besonders wichtig. Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit nehmen die letzten Plätze in ihrem Wertesystem ein (nur 9 % finden sie wichtig).
https://www.ng.ru/education/2023-11-15/8_8877_education1.html
Der Artikel zitiert noch eine weitere Untersuchung zum Thema. Hier gaben 70,9 % der befragten jungen Leute an, dass die Familie für sie die wichtigste Priorität im Leben habe. 84,2 % wollten Kinder haben, allerdings die meisten davon, rund 82 %, höchstens zwei.
Neues Schulfach „Familienkunde“
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, plant das Bildungsministerium die Einführung eines Schulfachs „Familienkunde“ („Семьеведение“), entweder als eigenständiges Fach oder als Modul der bereits etablierten und obligatorischen Gesellschaftskunde. Im Unterricht soll über die Familie „als wichtigste soziale Institution der russländischen Gesellschaft“ gesprochen werden, der Akzent soll auf „Fragen der familiären Werte, der Förderung kinderreicher Familien und des moralischen Klimas in russländischen Familien“ liegen – so formulierte es die stellvertretende Bildungsministerin Tatjana Wassiljewa. Allerdings ergeben sich einige praktische Probleme: Wer soll und darf dieses Fach unterrichten, solange es dafür noch keine Ausbildung und keinen Studiengang gibt? Dazu heißt es im Artikel der „Nesawissimaja Gaseta“:
Befürchtungen weckt die Auswahl der Lehrkräfte, die dann in der Schule über derart heikle Themen sprechen sollen. Was, wenn der Lehrer verwitwet oder geschieden ist? Oder ein prinzipieller Frauenfeind? Oder ein nicht weniger prinzipieller Anhänger der „Childfree“-Bewegung? Die Moskauer Bevollmächtigte für Kinderrechte Olga Jaroslawskaja erklärte kürzlich, „Familienkunde“ dürfe in der Schule nur von kinderreichen Vätern oder Müttern unterrichtet werden. Aber vemutlich wird es einfach der Lehrer für Gesellschaftskunde sein, der dieses Modul gemäß der neuen Verordnung unterrichten wird.
https://www.ng.ru/education/2023-11-15/8_8877_education1.html
Schulbücher zumindest sind schon auf dem Markt, wie z. B. dieses hier: „Familienkunde – Grundlagen des Familienlebens“, links das Lehrerhandbuch, rechts das Buch für die Schülerinnen und Schüler der Klassen 9 bis 11.

Es dürfte aber wohl noch einige Zeit dauern, bis sich die „traditionellen Familienwerte“ im Sinne Putins durchsetzen – wenn überhaupt. Der Präsident selbst ist bekanntlich seit 2014 geschieden, ob und wie kinderreich er ist, hält er geheim – neben den beiden Töchtern aus der Ehe mit Ljudmila Schkrebnjowa, geschiedene Putina, wiederverheiratete Otscheretnaja, soll er noch eine dritte Tochter mit einer Petersburger Geschäftsfrau haben und zwei bis vier Kinder aus der Beziehung mit der Turnerin und Olympiasiegerin Alina Kabajewa. Darüber wird aber in Russland öffentlich nicht geschrieben oder gesprochen.
Die Geburtenrate lag in Russland 2020 bei 1,5 Kindern pro Frau und ist seitdem noch weiter gesunken (zum Vergleich: Deutschland 1,53, USA 1,64). Dass sie nicht noch niedriger ausfällt, ist den nicht-russischen Völkern der Russischen Föderation zu verdanken, die deutlich kinderreicher sind als die ethnischen Russinnen. Und über die Hälfte der in Russland geschlossenen Ehen, 51 %, endet mit der Scheidung (in Deutschland 44 %). Es besteht also Handlungsbedarf.

Auf diesem Werbeplakat steht unter der Überschrift „Das Jahr 2024 wurde zum Jahr der Familie erklärt“ ein Putin-Zitat: „Familie – das ist Liebe, Glück, die Freude der Vaterschaft und Mutterschaft. Familie ist das feste Band mehrerer Generationen, wo der Respekt vor den Älteren und die Fürsorge für die Kinder immer verbinden und das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Zuversicht geben.“
Orden und Denkmäler für die Familie
Seit 2008, dem ersten offiziellen „Jahr der Familie“, verleiht Putin alljährlich den Orden „Elternruhm“ („Родительская слава“). Um diesen Orden zu erhalten, müssen die Familien mindestens vier Kinder haben und nachweisen, dass sie sich, wie der Begleittext lautet, „um die Institution der Ehe und um die Erziehung von Kindern besonders verdient gemacht haben“. Zusätzlich gibt es auch eine finanzielle Belohnung; anfangs waren es 50.000 Rubel, 2013 wurde der Betrag auf 100.000 Rubel erhöht und seit 2022 beläuft er sich auf 500.000 Rubel (ca. 5100 Euro). Bis 2021 spendierte Putin den Familien auch ein gemeinsames Essen im Kreml und posierte mit ihnen für ein Erinnerungsfoto, so wie hier im Jahr 2018 mit einer elfköpfigen Familie aus der Republik Chakassien in Sibirien.

In den beiden letzten Jahren nahm er nur noch per Videoschaltung an den Feierlichkeiten teil.
Auch den schon unter Stalin verliehenen Mutterorden führte Putin wieder ein. 1944 war die erste „Mutter-Heldin“ („Мать-Героиня“) mit diesem Orden ausgezeichnet worden. Bis 1991 erhielten ihn rund 430.000 Frauen; nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde er zunächst nicht mehr verliehen. Im August 2022 verfügte Putin per Erlass, dass Mütter mit zehn und mehr Kindern diesen Orden wieder bekommen sollten. Die erste, die den neu aufgelegten Orden erhielt, war die Ehefrau des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, Medni Kadyrowa (Mutter von bislang 12 Kindern, laut Wikipedia).
Es gibt mittlerweile auch Denkmäler für die vorbildliche kinderreiche Familie. Das erste wurde 2008, also im ersten „Jahr der Familie“, in Saransk aufgestellt. Eine leicht veränderte Variante, vom selben Bildhauer geschaffen, steht seit 2016 in Twer.
