Seit März wird in Russland wieder verstärkt Werbung für den Militärdienst mit Zeitvertrag gemacht, Anzeigen erscheinen in großer Zahl in sozialen Netzwerken, aber auch in Plakatform im öffentlichen Raum, sogar in Schulen und Kindergärten (wo die Väter im Fall eines Vertragsabschlusses mit besonderen Vergünstigungen für ihre Kinder belohnt werden sollen).
Ein Video des Verteidigungsministeriums allerdings sorgte für Unmut – vor allem bei Taxifahrern, Fitness-Trainern und Wachleuten.
Die Online-Zeitung MSK1.RU (eine inländische Boulevardzeitung für die Region Moskau, kein regimekritisches Blatt) berichtet:
Am 19. April stellte das Verteidigungsministerium auf seinem offiziellen Telegram-Kanal einen neuen Werbespot vor, der dazu aufruft, als Vertragssoldat Militärdienst bei den Streitkräften der Russischen Föderation zu leisten. Das Video verbreitete sich blitzschnell in allen sozialen Netzwerken und rief stürmische Reaktionen hervor.
Wir berichten, was über die drei Schauspieler bekannt ist, die darin auftreten. Und wir haben mit Vertretern der Berufe gesprochen, die in dem Videoclip als unmännlich dargestellt werden.
Du bist doch ein Kerl. Sei einer.
In dem 46 Sekunden kurzen Clip schlüpfen drei Schauspieler in die Rolle eines Wachmanns im Supermarkt, eines Fitness-Trainers und eines Taxifahrers. Bilder von ihrem alten Arbeitsplatz werden im Film durch neue Bilder ersetzt, wo man sie in Soldatenuniform und marschierend in der Truppe sieht. Im Lauf des Videoclips werden rhetorische Fragen gestellt: „War das wirklich dein Traum, ein solcher Verteidiger zu werden?“, „Liegt darin wirklich deine Stärke?“, „Wolltest du wirklich einen solchen Weg wählen?“ Anschließend treten stolz Männer in Tarnuniformen und mit Z-Abzeichen ins Bild, in der Hand Maschinengewehre. Darunter stehen die Worte: „Du bist doch ein Kerl. Sei einer.“
Zum Schluss taucht dann vor den Augen des Zuschauers die Nummer der Hotline des Verteidigungsministeriums auf, bei der man sich als Vertragssoldat melden kann, und die Höhe des monatlichen Soldes – 204.000 Rubel.
War das wirklich dein Traum, ein solcher Verteidiger zu werden?
Liegt darin wirklich deine Stärke?
Wolltest du wirklich einen solchen Weg wählen?
Die drei Schauspieler, die in dem Clip den Wachmann, den Taxifahrer und den Fitness-Trainer gespielt haben, lehnten es ab, MSK1.RU Auskunft zu geben. Laut Casting-Direktorin Alexandra ist ihnen untersagt, öffentlich über die Aufnahmen zu sprechen. Aber wir erzählen ihnen trotzdem von ihnen.
Diese „Erzählung“, die in ziemlich süffisantem Ton verfasst ist, ergibt: Der Schauspieler, der den Wachmann in der Gemüseabteilung des Supermarktes spielt, hat Jura studiert, dann bei der OMON (Spezialeinheit der Polizei) und als Bodyguard gearbeitet. Außerdem hat er an mehreren Reality-Shows im russischen Fernsehen teilgenommen, u. a. an einer Heiratsshow. Wegen Körperverletzung stand er 2015 vor Gericht. Der Fitness-Trainer im Film kommt aus Belarus, ist auch im wirklichen Leben Fitness-Trainer und nimmt regelmäßig an Bodybuilding-Wettbewerben teil. Fotos von seinem muskelgestählten Body postet er ausgerechnet auf Instagram, wie die Zeitung hämisch anmerkt – dem sozialen Netzwerk, das seit März 2022 in Russland verboten ist und blockiert wird. Der dritte Schauspieler arbeitet hauptberuflich als Sanitäter und verbreitet auf seinem Account bei „VKontakte“ (das russische Facebook) ebenfalls vorwiegend Fotos von seinem beeindruckenden Bizeps.
Interessanter noch als diese Informationen ist der unüberhörbar boshafte Tonfall, in dem sie dem Leser mitgeteilt werden: Schaut her, wie es hinter der Fassade aussieht.
Reaktionen aus dem realen Leben
Was sagen aber nun Männer, die tatsächlich als Wachleute, Fitness-Trainer und Taxifahrer arbeiten, zu diesem Videoclip? Auch das haben die Reporter von MSK1.RU recherchiert – hier einige von ihnen dokumentierte Reaktionen.
„Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht ganz, weshalb der Beruf eines Wachmanns in diesem Video so abgewertet wird. Als Antwort darauf möchte man fragen: Ja, und wenn ich nun zur Armee gehe, wer wird dann an meiner Stelle arbeiten? Gibt es irgendeine Alternative? Ich denke, wenn alle Wachleute Vertragssoldaten werden, wird sich das sehr negativ auf die Innenpolitik vieler Organisationen auswirken“, sagt Sergej, Mitglied der Wachmannschaft eines Pjatorotschka-Marktes (eine große Supermarktkette, Anm. d. Ü.), und hebt ratlos die Arme.
„Ich glaube nicht, dass Fitness-Trainer zu sein bedeutet, kein Mann zu sein“, ist Alexej Romanow überzeugt, Gründer und Eigentümer der Fitness-Studio-Kette Bright Fit. „Die Berufswahl ist Sache jedes Einzelnen selbst. Das ist sein Recht und seine Wahl.“
„Ich denke, da gibt es nichts zu erörtern. In letzter Zeit versuche ich, die Politik auszublenden, um nicht unnötig deprimiert zu sein, aber als ich mir dieses Video angesehen habe, war ich beschämt und gekränkt“, sagt der Moskauer Taxifahrer Iwan traurig. „Leider sind mir die Hände gebunden – ich kann mir das nur anhören und eine solche Taktlosigkeit an meine Adresse schweigend zur Kenntnis nehmen.“
In der regierungstreuen Zeitung „Argumenty i fakty“ wird das Thema der verstärkten Werbeaktionen ebenfalls aufgegriffen, aber mit rein propagandistischem Vorzeichen. „Ehre und Tapferkeit stehen wieder hoch im Kurs – In Moskau läuft die Anwerbung von Vertragssoldaten“ übertitelt die Zeitung am 3. Mai einen Artikel zum Thema.
Da aber die Ehre allein wohl doch nicht genug zieht, wird ein paar Abschnitte weiter eine detaillierte Übersicht über den materiellen Lohn gegeben: Höhe des Soldes und einmalig gezahlte Extras – zu denen auch eine Sonderzahlung pro vorgerücktem Kilometer im Kriegsgebiet zählt.
„Welche Zahlungen vorgesehen sind“, steht über der Grafik.
Das bedeuten die Zahlen in den ersten beiden Abschnitten von oben nach unten:
195.000 Rubel – einmalige Zahlung bei Vertragsabschluss
40.000 bis 50.000 Rubel – Monatssold während der Ausbildung
ab 204.000 Rubel – Monatssold in der Zone der Spezialoperation
50.000 Rubel – für den Vertragsabschluss in Moskau
8000 Rubel – für jeden Tag aktiver Teilnahme an Kampfhandlungen
50.000 Rubel – für jeden Kilometer Landgewinn als Mitglied der Sturmtrupps
ab 50.000 Rubel – für die Beschlagnahme oder Vernichtung von Waffen oder Kriegstechnik des Gegners
Die hohen Zahlen im unteren Drittel der Grafik sind die Entschädigungssummen, die Verwundete erhalten, die Höhe der Entschädigung hängt von der Schwere der Verwundung ab. Und auch hier zahlt Moskau im Unterschied zu anderen Regionen einen Extra-Bonus. Um diese Extras zu erhalten, muss man selbst kein Moskauer sein. Jeder, der sich jetzt in der Hauptstadt zum Militär meldet, erhält sie, wie zum Beispiel Alexander, der aus dem 1300 km entfernten Krasnodar nach Moskau gekommen ist. „Argumenty i fakty“ zitiert ihn:
„Das ist eine bewusste Entscheidung, ich möchte die russische Souveränität verteidigen und gegen den Faschismus kämpfen“, sagt der 21-jährige Alexander aus dem Gebiet Krasnodar, von Beruf Bauarbeiter. „Ich habe schon meinen normalen Wehrdienst abgeleistet, also, ich kenne die Regeln bei der Armee. Von der Einberufungsstelle in der Hauptstadt haben mir Freunde erzählt, die sind auf demselben Weg zur Spezialoperation gekommen. Ich war noch nie in Moskau, hatte noch nicht mal Zeit, mir die Stadt anzugucken, gleich nach der Ankunft bin ich zur Jablotschkow-Straße. Ich unterschreibe jetzt einen Jahresvertrag, danach sehen wir weiter.“
Im selben Haus in der Jablotschkow-Straße, in dem die Freiwilligen sich zum Militärdienst melden, gibt es praktischerweise auch gleich eine finanzielle Beratung mit Hilfestellung bei Geldproblemen:
Ohne das Gebäude verlassen zu müssen, hat man hier die Möglichkeit, sich bei finanziellen Problemen Rat zu holen, Verschuldungen in Ordnung zu bringen und ungelöste Probleme mit Banken zu klären.