Am 8. Januar wurde der Dichter, Essayist und Publizist Lew Rubinstein in Moskau von einem Auto angefahren, als er einen Zebrastreifen überquerte, und so schwer verletzt, dass er bewusstlos, mit Knochenbrüchen und einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus gebracht und operiert werden musste. Er starb wenige Tage später, ohne noch einmal zu Bewusstsein gekommen zu sein. Rubinstein war in den 1970er Jahren als Lyriker und Mitbegründer des Moskauer Konzeptualismus und später als Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel bekannt geworden. Aus seiner Einstellung zum Ukrainekrieg und zu Russlands Politik machte er keinen Hehl, verurteilte die Annexion der Krim, bezeichnete die neuen Republiken als illegal und äußerte seine Kritik an großrussischem Patriotismus und Putinverehrung bisweilen in provokanten Formulierungen. Schon seit Jahren wurde er deshalb der „Russophobie“ bezichtigt und der „Missachtung der heroischen Vergangenheit Russlands“. Zwar hatte man ihn noch nicht zum ausländischen Agenten erklärt, doch „russisch“ war er oft nur noch in Anführungszeichen (der „russische“ Dichter).
Lew Rubinstein, Foto: dzen.ru
Die Berichte und Nachrufe in den russischen Medien fielen dementsprechend gemischt aus. Manche Zeitungen brachten ausführliche Würdigungen seiner Person und seines Werks und zitierten sogar aus seinen Büchern. Andere begnügten sich mit einer kurzen Mitteilung. Die „Literaturnaja Gaseta“, Russlands älteste und größte Zeitung mit dem Themenschwerpunkt Literatur und Kunst, beschränkte sich auf wenige dürre Zeilen zum Tod des „Konzeptualisten und Oppositionellen“, ohne auf sein Leben und sein Werk einzugehen. Dafür wies man aber den Verdacht, es könne sich vielleicht nicht um einen Unfall gehandelt haben, pikiert zurück:
Einige Mitstreiter Rubinsteins aus dem oppositionellen Lager begannen sofort, Verschwörungstheorien zu verbreiten und von einem geplanten Mord an dem Dichter zu reden.
Aber alles ist weit einfacher. Gegen den Fahrer, der vor dem Fußgängerüberweg nicht bremste, ist ein Strafverfahren eröffnet worden. Wie mitgeteilt wird, hat er in den letzten zwölf Monaten neunzehnmal gegen die Straßenverkehrsregeln verstoßen.
Die große russische Nachrichtenplattform Dzen brachte mehr Details über den Unfall und Bilder von der Unfallstelle, die durch eine öffentliche Videokamera überwacht wird:
Einer der bekanntesten Literaten Russlands der letzten Jahrzehnte, der 76jährige Lew Semjonowitsch Rubinstein, wurde am 8. Januar um 12 Uhr mittags in Moskau auf einer völlig leeren Straße mitten auf einem Fußgängerüberweg von einem Auto angefahren. Auf den von der Städtischen Verkehrsabteilung veröffentlichten Bildern ist sehr gut zu sehen, wie Rubinstein die Obraszow-Straße auf dem Zebrastreifen überquert und wie er auf halbem Weg von einem Auto, Marke Volkswagen, erfasst wird. Der Fahrer des Wagens hatte völlig freie Sicht auf den Fußgänger und hätte jederzeit die Geschwindigkeit drosseln oder anhalten können. Aber nichts davon tat er. Die Spuren auf der Windschutzscheibe zeugen von einem sehr starken Aufprall.
Die Boulevardzeitung „Ekspress Gaseta“ brachte einige Tage später eine Reportage über die Begräbnisfeier für Rubinstein, in der der Verfasser Michail Wassiljew ihn als „überzeugten Russophoben“ bezeichnete und mit antisemitischen Klischees um sich warf. Das im Zitat erwähnte Georgsband ist eine militärisch-patriotische Auszeichnung.
Die ganze bessere Gesellschaft war in die Krasnaja-Presnja-Straße geströmt, um einen letzten Blick auf sein in einen Tallit, ein jüdisches Gebetstuch, eingewickeltes Vogelköpfchen zu werfen und um über die Gojim zu lästern, die der Entschlafene so gar nicht geliebt und die er verachtet hatte. (…)
„A sochn vej! Wel wild jetzt das Bannel des Kampfes mit dem velfluchten Putinismus elheben?“, las man in ihren vorquellenden Augen.
Sein ganzes 76jähriges Leben widmete er der Vernichtung unseres Landes, das erst UdSSR hieß und dann Russländische Föderation. (…) Wie der Teufel vor dem Weihrauch schauerte dieser Dichter beim Anblick des Georgsbandes zusammen. Nach dem dummen Unfall nicht weit von der Synagoge in Marjina Roschtscha und dem darauf folgenden Ableben des Russophoben vergossen alle westlichen Postillen Krokodilstränen.
Und so geht es weiter. Aber erfreulicherweise gab es heftigen Protest und Widerstand. Die bekannte Journalistin Ksenija Sobtschak nannte den Artikel „extrem widerwärtig“. Boris Wischnewski, bis 2021 Fraktionsvorsitzender der Partei „Jabloko“ in St. Petersburg und selber Jude, drohte, die Zeitung zu verklagen, und verglich den Artikel mit den antisemitischen Beschimpfungen im „Stürmer“ des Dritten Reichs. Die „Ekspress Gaseta“ löschte daraufhin den Artikel (aber da war er natürlich schon längst im Internet verbreitet).
Russe oder Jude?
In der 2008 erschienenen Essay-Sammlung „Wortschatz“, einem „Wörterbuch der Schlüsselbegriffe politischer Kultur im zeitgenössischem Russland“ (so nennt es der Verlag), schrieb Rubinstein unter dem Stichwort „Identität“ auch über das schwierige Thema, sowohl Russe als auch Jude zu sein. Hier der kurze, aber aufschlussreiche Essay in meiner Übersetzung. Der Link zum russischen Original steht wie immer am Ende des Textes.
Zum Verständnis: Mit dem „fünften Punkt“ im ersten Abschnitt ist die Rubrik „Nationalität“ im sowjetischen Pass und anderen persönlichen Dokumenten gemeint, die zu Sowjetzeiten obligatorisch war. Wenn die Eltern verschiedenen Nationalitäten angehörten, was häufig der Fall war, zum Beispiel der Vater Jude, die Mutter Russin, konnte man bei Erhalt des ersten eigenen Passes im Alter von sechzehn Jahren auswählen, welcher Nationalität man angehören wollte, musste dann aber für den Rest des Lebens auch dabei bleiben. Problematische Nationalitäten, die häufig „abgewählt“ wurden, waren insbesondere die jüdische, die deutsche und die krimtatarische.
Die „Asers“, die aus Moskau verschwinden sollen, sind Aserbaidschaner oder allgemein Migranten, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien und im Kaukasus als Gastarbeiter nach Russland kommen.
Lew Rubinstein
[IDENTITÄT]
Wer bist du?
Anfang der 70er Jahre gab es unter meinen damaligen Bekannten ein beliebtes Spiel, halb Test, halb Spaß. Einer Person, die neu im Bekanntenkreis war, wurde dreimal dieselbe Frage gestellt: „Wer bist du?“ Die Antworten fielen natürlich verschieden aus. Der eine nannte zum Beispiel zuerst seinen Namen, eine andere ihren Beruf, der dritte sein Geschlecht. Andere sagten noch anderes. Ich erinnere mich, dass ich dreimal hintereinander meinen Vor- und Familiennamen nannte, wofür ich – vermutlich zu Recht – verdächtigt wurde, ein eingefleischter Egozentriker zu sein. Ein junger Mann ist mir im Gedächtnis geblieben, der auf die Frage „Wer bist du?“ dreimal ohne zu zögern erwiderte: „Armenier.“ Zugegeben, das hat mich verblüfft. Erst später fielen mir mehr und mehr Leute auf, für die ihre ethnische Zugehörigkeit der wichtigste, wenn nicht sogar der einzige Punkt ihrer Selbstidentifikation ist. Also nicht nur der berühmte „fünfte Punkt“, der sich tief ins Bewusstsein aller Sowjetbürger eingegraben hat, sondern auch der erste, zweite, fünfte, siebte und siebzehnte.
In den russischen Internet-Foren tummelt sich rund um die Uhr eine besondere, nicht allzu zahlreiche, aber durch ihr lautes Getöse auffallende Spezies, die sich äußerst besorgt um die nationale Frage zeigt. Die einen schreien: „Was machst du hier überhaupt, Jude, wenn dir hier alles nicht passt!“ Soll heißen, fahr doch in dein Israel. Die anderen mahnen: „Da seht ihr, in welchem Land und unter welchen Menschen ihr lebt. Wie könnt es ihr hier aushalten?“ Das heißt, beide sagen eigentlich ein und dasselbe mit mehr oder weniger denselben Worten. Einmal las ich folgenden Kommentar: „Ihr Artikel ist äußerst interessant. Aber Ihre hartnäckige Abneigung, das jüdische Thema anzusprechen, scheint mir ein wenig seltsam.“ Was kann man darauf entgegnen? Zurückfragen, weshalb und mit welcher Begründung ich gerade über dieses Thema schreiben soll? Wieso beanstandet niemand, dass ich nicht über die Preise von Erdöl schreibe oder über die Militärreform? Wirklich nur aus dem einen Grund, dass mein Familienname so lautet, wie er lautet, und nicht anders? Seltsam, weiß Gott. Und es stimmt ja auch gar nicht – ich schreibe über dieses Thema, eben jetzt zum Beispiel. Aber der, der diesen Kommentar verfasst hat, hatte offensichtlich etwas anderes im Sinn. Er meinte damit, dass ein Mensch mit einer bestimmten Abstammung über nichts anderes schreiben, sprechen, denken kann und soll als über die spezifischen Probleme seiner ethnischen Herkunft. Vermutlich hat das einer von denen geschrieben, die auf die Frage „Wer bist du?“ dreimal ihre Nationalität nennen.
Aber wer bin ich denn? Also, in eben dem bewussten Sinne.
Nein, auf diese Frage werde ich nicht antworten. Erstens, weil ich überzeugt bin: Die ethnische Zugehörigkeit – wie übrigens auch die religiöse – ist eine höchst intime Angelegenheit jedes Individuums und Bürgers. Zweifellos hat jeder das Recht, seine ethnische Herkunft publik zu machen, aber er ist dazu nicht verpflichtet. Genau wie eine Frau sich ihre Lippen schminken oder es lassen kann – es ist ihre Sache. Und zweitens werde ich nicht darüber sprechen, weil aus Sicht der ums Nationale so besorgten Personen jeglicher Schattierung sowieso alles klar ist, was mich betrifft, und für die nicht so Besorgten existiert diese Frage gar nicht. So dass es eigentlich niemanden gibt, dem ich antworten könnte. Außer vielleicht mir selbst.
Aber wenn ich mich plötzlich doch entscheiden sollte zu antworten, so würde ich ungefähr Folgendes sagen.
Die ganze Lebenserfahrung in meinem Land hat mir eines lange und gründlich vermittelt – dass ich kein Russe bin. Ich bin ein Nichtrusse, ein Umstand, den man schon einem Europäer nicht erklären kann und einem Amerikaner noch weniger. „Also du sagst, du bist Jude. Was bedeutet das? Dass du den Sabbat heiligst und in die Synagoge gehst?“ „Nein. Weder das eine noch das andere.“ „Und welche Sprache hast du von Geburt an gehört? Welche Sprache haben deine Eltern gesprochen?“ „Selbstverständlich Russisch.“ „Ich begreife nichts.“ Ja, das ist nicht zu begreifen. Aber ich bin kein Russe. Das weiß ich sicher. Meine ganze Kindheit war geprägt durch endlose Hinterhof-Schlägereien wegen der „nationalen Frage“.
Niemand hat sich zu diesem Thema treffender geäußert als die großartige Lidija Ginsburg. Folgendes hat sie einmal geschrieben: „Der gesellschaftliche Anstand verbietet es, seine Herkunft zu verleugnen. Doch es ist eine unmögliche Situation, wenn ein Mensch sagen kann ‚Ich bin Russe‘ und am nächsten Tag Opfer eines Pogroms gegen Juden werden kann.“ Das unterschreibe ich.
Das ist die negative Erfahrung. Aber soll ich mich darauf beschränken? Was ist mit meiner geliebten Großmutter, deren Muttersprache Jiddisch war? Was mit ihrem zerfledderten Gebetbuch? Ihren Liedern und Redensarten? Ihrem gefüllten Fisch? Und was mit den zahlreichen älteren Verwandten, die sich an Feiertagen in unserem Haus versammelten und am großen Esstisch hebräische Lieder sangen?
Manchmal allerdings bin ich doch ein Russe: wenn ich die Staatsgrenze meiner Heimat überschreite. Nur im Ausland kann ich überzeugt, ohne mich verstohlen umzuschauen und vielsagend zu hüsteln, sagen, ja, ich bin Russe. Was denn auch sonst? Etwa ein Chinese?
Und es gibt noch einen Aspekt der ethnischen Identität, das ist die Scham. Wenn ich irgendeine Gemeinheit aus dem Mund des einen oder anderen Ultra-Juden höre oder lese wie: „Das russische Volk ist ein Volk von Schweinen und Sklaven“, dann schäme ich mich als Jude. Und wenn ich auf den Mauern und Zäunen meiner Heimatstadt lese: „Asers raus aus Moskau“ oder auch das scheinbar neutrale: „Russische Familie sucht Wohnung zu mieten“, schäme ich mich als Russe und Moskauer. Ich erinnere mich, wie einmal in Tallinn, im Kreis von Esten, jemand von den Anwesenden etwas ziemlich Widerliches über die Eigenschaften und Charakterzüge faselte, die angeblich typisch für die russische Nation seien. Ich fragte ihn: „Warum sagst du das in meiner Gegenwart?“ „Aber du bist doch kein Russe“, sagte er naiv. „Doch“, sagte ich. „In diesem Sinn bin ich Russe.“ Er entschuldigte sich und wechselte das Thema.
Lew Rubinstein bei einer Lesung aus einem seiner Bücher (Screenshot von YouTube)
Ich will nicht behaupten, dass mich dieses Thema gar nicht berührt oder interessiert. Aber es interessiert mich eher in ethnographisch-folkloristischer Hinsicht. Schließlich sind familiäre Überlieferungen, Anekdoten, Redensarten, Lieder unterhaltsam und lehrreich. Und erst die Küche! Nebenbei, zur Küche. Ein Bekannter von mir, ein Regisseur und Tatare, aufgewachsen in Taschkent, sagte mir, in seiner Vorstellung sei Nationalität gleichbedeutend mit den Gerüchen aus der Küche, wie er sie seit seiner frühen Kindheit in Erinnerung habe. Gut möglich.
Folklore ist ein entsakralisierter Mythos. Das Problem ist, dass für viele, die im Stadium des archaischen Stammesbewusstseins steckengeblieben sind, nicht die Folklore, sondern der Mythos allem zugrunde liegt. Und wo der Mythos ist, da sind auch die kausalen Zusammenhänge und die Schlussfolgerungen andere als die, die in der modernen Welt üblich sind. Deshalb ist die sakrale Frage „Zu welchem Stamm gehörst du?“ für diese Menschen die wichtigste und letzte Frage, und die Antwort darauf erlaubt es, auch alle übrigen Fragen ohne Umwege zu lösen. Verschieden sind nur Perspektive und Kontext. Du bist klug und talentiert, weil du Jude bist. Du bist großzügig und weitherzig, weil du Russe bist. Du bist gemein und berechnend, weil du Jude bist. Du bist bösartig und stumpfsinnig, weil du Russe bist. Wortverbindungen wie zum Beispiel „ein echter russischer Kerl“ können je nach Kontext und Intonation nicht nur verschiedene, sondern sogar völlig entgegengesetzte Bedeutungen bekommen.
Aber alles das will ich nicht sagen. Wozu? Darüber ist schon so viel gesagt und geschrieben worden. Manchen, wie zum Beispiel mir, ist das mehr oder weniger offensichtlich. Bei anderen kannst du reden und reden, sie bleiben sowieso bei ihrer Meinung. Aber sollte mir einmal die Frage „Wer bist du?“ sehr nachdrücklich gestellt werden, dann antworte ich so, wie ich früher geantwortet habe: Ich nenne dreimal meinen Vor- und Familiennamen. Und dann mag jeder diese Antwort so interpretieren, wie es ihm gefällt.
Das Buch „Wortschatz“ („Словарный запас“) von Lew Rubinstein findet man im russischen Original in der Internetbibliothek „ImWerden“. Man kann es online lesen oder im pdf-Format herunterladen. Der zitierte Essay steht auf S.33-36.