RUSSLAND HEUTE
Am 12. März gab Wladimir Putin dem Fernsehmoderator und Generaldirektor von „Russia Today“ Dmitri Kisseljow ein langes Interview (gut anderthalb Stunden), das einen Tag später im russischen Staatsfernsehen auf „Rossija 1“ gezeigt wurde. Eine Äußerung daraus machte auch hier schnell die Runde und wurde in vielen Medien und Talkshows aufgegriffen und zitiert: Es sei absurd, erklärte Putin, von Verhandlungen zu reden, nur weil der Ukraine gerade die Munition ausgehe.
Aber nicht nur diese, auch etliche andere Äußerungen Putins in diesem Gespräch sind aufschlussreich und geben Einblick in seine Gedankenwelt. Einige Stellen habe ich herausgegriffen und übersetzt. Das gesamte Interview steht auf der Website des Kreml, sowohl als Video wie auch als Text (Link am Ende).

Sanktionen und Wettrüsten
Zu Beginn sprechen die beiden über die wirtschaftliche Lage Russlands und versichern sich gegenseitig, dass es dem Land bestens geht und die Wirtschaft trotz oder sogar wegen der „Spezialoperation“ wächst. Dann kommt Kisseljow auf die Sanktionen des Westens zu sprechen und fragt, ob es nötig sei, besondere Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
W. Putin: Dafür besteht überhaupt keine Notwendigkeit. Wir – Regierung, Zentralbank, Sicherheitsrat – analysieren alles, was unsere Feinde tun. Vieles geschieht ja gar nicht aus politischen oder militärischen Erwägungen, obwohl damit argumentiert wird, sondern einfach aus Gründen der Konkurrenz …
D. Kisseljow: Einer skrupellosen, unehrlichen Konkurrenz.
W. Putin: Einer unehrlichen Konkurrenz , die sich hinter irgendwelchen politischen Begründungen versteckt oder militärischen Charakter hat. So war es beim Flugzeugbau, so passiert es in sehr vielen anderen Wirtschaftszweigen.
Aber was soll’s, wir leben in dieser Welt, wie sie ist, und haben uns angepasst. Wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Und bis jetzt – das sieht man an den Ergebnissen unserer Arbeit – sind wir durchaus erfolgreich.
D. Kisseljow: Aber die Heimtücke des Westens erschöpft sich nicht in Sanktionen. Hier ein Zitat aus Ihrer Rede [vom 29.2.2024 zur Lage der Nation]: „Der Westen versucht, uns in ein neues Wettrüsten hineinzuziehen, um uns zu zermürben und den Trick zu wiederholen, der ihnen in den 1980er Jahren mit der UdSSR gelungen ist.“ Wie stabil sind wir eigentlich unter den Bedingungen eines Wettrüstens?
W. Putin: Wir müssen unbedingt für jeden in die Verteidigung gesteckten Rubel den maximalen Gegenwert bekommen. Tatsächlich hat in den Zeiten der UdSSR niemand diese Ausgaben beziffert, leider hat sich niemand bei uns um Effektivität bemüht. Die Verteidigungsausgaben machten damals ungefähr 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Sowjetunion aus.
Ich werde mich nicht auf unsere Statistik berufen, sondern beziehe mich auf Angaben des Stockholmer Instituts: Danach betrugen unsere Verteidigungsausgaben im letzten Jahr 4 Prozent, in diesem Jahr 6,8 Prozent, das heißt, sie sind um 2,8 Prozent gewachsen. Grundsätzlich ein beträchtlicher Anstieg, jedoch absolut kein kritischer. In der Sowjetunion waren es 13 Prozent, und bei uns jetzt 6,8.
Man muss dazu sagen, die Verteidigungsausgaben kurbeln die Wirtschaft an, machen sie dynamischer. Aber natürlich gibt es Grenzen, das verstehen wir. Die ewige Frage: Was ist gewinnbringender – Kanonen oder Butter? Das behalten wir im Blick.
Kinder sind wichtiger als Geld
Mit einer Episode aus Putins persönlicher Biographie leitet Kisseljow zu dem für Russland schwierigen Thema der zu niedrigen Geburtenrate über. (Dass der Vergleich mit dieser Geschichte an den Haaren herbeigezogen ist, scheint beide nicht zu stören.)
D. Kisseljow: Ende der 90er – das ist eine bekannte Geschichte, die Sie selbst erzählt haben – retteten Sie Ihre Kinder aus einer Feuersbrunst: Sie liefen in das brennende Haus in den ersten Stock. Und erst danach fiel Ihnen ein, dass dort irgendwo auch noch Geld lag. Das Geld verbrannte im Feuer. Das spricht für Ihre Prioritäten: zuerst die Kinder, dann das Geld.
Vielleicht sollte man im landesweiten Maßstab ähnlich vorgehen? Keine läppischen 14 Trillionen, sondern aufs Ganze gehen und ein Programm schaffen, das die Situation ein für allemal umkrempelt?
W. Putin: Man muss beobachten, wie sich das entwickelt. Anfang der 2000er haben wir eine Reihe demographischer Maßnahmen in Gang gebracht, darunter die Einführung des Mutterkapitals und einige andere Dinge, die ein sichtbares positives Ergebnis gebracht haben. Wir können also die nötigen Ziele erreichen. (…)
Zum Beispiel haben wir jetzt das „Jahr der Familie“ ausgerufen. Wir haben ein neues nationales Projekt namens „Familie“ mit Elementen, die wir früher nie angewendet haben. So sind beispielsweise 75 Milliarden Rubel für die Regionen eingeplant, in denen die Geburtenrate niedriger als im Landesdurchschnitt ist. Hauptsächlich betrifft das die zentralen Regionen Russlands und den Nordwesten. 75 Milliarden sind eine ansehnliche Summe. Man muss sie nur sinnvoll verwenden.
14 Trillionen Rubel entsprechen knapp 140 Millionen Euro, das ist die Gesamtsumme, die Putin im Lauf der nächsten sechs Jahre für Familien mit Kindern bereitstellen will.

Die Geschichte vom selbstlosen Vater Putin, der zuerst seine kleinen Töchter rettet und erst danach an sein Geld denkt, stammt ursprünglich aus dem 2000 erschienenen Buch „Putin. Der ‚Deutsche‘ im Kreml“ von Alexander Rahr. Putin, so berichtet Rahr, habe 1996 auf seiner Datscha bei Petersburg Urlaub gemacht und sei gerade mit Freunden in der Sauna gewesen, als das Feuer ausbrach. Erst nachdem er die Kinder aus dem Fenster der ersten Etage zu seinen Freunden hinuntergereicht habe, sei ihm der Aktenkoffer eingefallen, der seine ganzen Ersparnisse enthielt und inzwischen komplett verbrannt war.
Alexander Rahr, der Autor des Buches (und mehrerer weiterer Bücher über Putin), ist für deutsche TV-Zuschauer kein Unbekannter: Er nahm bis Kriegsbeginn im Februar 2022 regelmäßig als Russland-Experte an Talkshows teil und betätigte sich außerdem als Lobbyist für Gazprom. Inzwischen scheint er den Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach Russland verlegt zu haben, wo er jetzt oft Interviews als Deutschland-Experte gibt.
Verhandlungen: Wunschvorstellungen und Fakten
An dieser Stelle des Gesprächs kommt die anfangs erwähnte und in unseren Medien vielzitierte Äußerung vor. Mit dem „Staatsstreich“, von dem Putin spricht, ist die „orangene Revolution“ gemeint, die Bürgerproteste in der Ukraine 2013/2014, die er als einen von außen gesteuerten Putsch betrachtet. Putin stellt die gesamte aktuelle Situation auf den Kopf, indem er Sicherheitsgarantien für Russland fordert, das überhaupt nicht bedroht ist, statt sie der angegriffenen Ukraine zuzugestehen.
W. Putin: Sind wir bereit zu Verhandlungen? Ja, wir sind bereit. Aber wir sind nur zu Verhandlungen bereit, die nicht auf irgendwelchen Wunschvorstellungen nach der Einnahme psychotroper Substanzen beruhen, sondern auf den Fakten, wie sie nun einmal vorliegen. Das zum einen.
Zweitens. Man hat uns schon viele Male wer weiß was versprochen. Man hat versprochen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, und dann sehen wir sie an unseren Grenzen. Man hat versprochen, und ich will da gar nicht in die historischen Details gehen, dass der innere Konflikt in der Ukraine mit friedlichen, politischen Mitteln gelöst werden würde. Wie wir uns erinnern, kamen drei Außenminister nach Kiew gereist, aus Polen, Deutschland und Frankreich, versprachen, diese Vereinbarungen zu garantieren – und einen Tag später gab es einen Staatsstreich. Man versprach, die Minsker Verträge einzuhalten, und erklärte dann öffentlich, man habe gar nicht beabsichtigt, diese Versprechen zu erfüllen. Man nahm sich nur eine Auszeit, um das Bandera-Regime in der Ukraine aufzurüsten. Man hat uns alles Mögliche versprochen, deshalb sind bloße Versprechen hier nicht ausreichend.
Jetzt Verhandlungen nur deshalb zu führen, weil ihnen die Munition ausgegangen ist, das wäre von unserer Seite aus ziemlich absurd. Trotzdem sind wir zu einem ernsthaften Gespräch bereit, und wir wollen alle Konflikte, ganz besonders diesen Konflikt, mit friedlichen Mitteln lösen. Aber für uns muss eindeutig klar sein, dass das keine Pause ist, die der Gegner für eine neue Aufrüstung nutzt, sondern dass es sich um ein ernsthaftes Gespräch mit Sicherheitsgarantien für die Russische Föderation handelt. (…)
D. Kisseljow: Glauben Sie wirklich, dass so etwas möglich ist?
W. Putin: Ich sage das nur ungern, aber ich glaube niemandem.
Zur Russischen Föderation, das hat Putin immer wieder betont, gehören für ihn unwiderruflich die Krim und die vier neuen Republiken in der Ukraine.
Geopolitische Verschiebungen
Putin glaubt nicht nur niemandem, er traut anderen auch alle Missetaten zu, die er selber begeht. So befürchtet er, dass polnische Truppen unter dem Vorwand, die Grenze der Ukraine zu Belarus schützen zu wollen, dauerhaft ukrainisches Territorium besetzen – was zu schwerwiegenden „geopolitischen Folgen“ führen könne.
W. Putin: Ich denke, die polnischen Truppen würden nie wieder von dort abziehen. Das ist meine Meinung. Sie träumen davon, sich die Gebiete zurückzuholen, die sie als ihr historisches Eigentum betrachten und die ihnen vom „Vater der Völker“ Jossif Wissarionowitsch Stalin weggenommen und der Ukraine gegeben wurden. Natürlich wollen sie diese Gebiete wiederhaben. Und wenn offizielle polnische Einheiten erst dort eingedrungen sind, werden sie kaum wieder abziehen.
Dann aber könnten auch andere Länder, die durch den Zweiten Weltkrieg einen Teil ihres Territoriums verloren haben, ihrem Beispiel folgen.

Welche anderen Länder er außer Polen meint, sagt er nicht. Finnland, das sich Karelien zurückholen will? Deutschland, das Anspruch auf Kaliningrad erhebt?
Putins Alptraum: Die „Zerstückelung“ Russlands
Eine ständig wiederkehrende Behauptung oder Befürchtung ist die Vorstellung, der „kollektive Westen“, die „unfreundlichen Länder“, die USA oder alle zusammen hätten es darauf abgesehen, Russland zu „zerstückeln“, es durch eine Aufteilung in lauter kleinere Republiken zu entmachten. Das russische Wort dafür lautet „rastschlenjenie“ („расчленение“), gehört mittlerweile zum festen Vokabular der Propaganda und suggeriert eine existentielle Bedrohung Russlands von außen, gegen die man zusammenstehen, sich rüsten oder sogar präventiv Krieg führen müsse.
W. Putin: Sie wollen so ein riesiges Land wie Russland nicht an ihren Grenzen haben. Wir sind das größte Land der Welt der Fläche nach, das größte Land Europas der Bevölkerung nach – nicht im Weltmaßstab und nicht zu vergleichen mit China oder mit Indien, aber in Europa am größten -, und jetzt stehen wir auch noch an fünfter Stelle, was die Wirtschaftskraft angeht. Wozu brauchen sie einen solchen Konkurrenten? Sie denken: Nein, lieber, wie es einige amerikanische Experten vorgeschlagen haben, in drei, vier, fünf Teile spalten – so wird es für alle besser sein. Davon gehen sie aus.
Und zumindest ein Teil der westlichen Eliten war, verblendet von Russophobie, erfreut, als man uns soweit brachte, dass wir versuchten, den 2014 vom Westen entfesselten Krieg in der Ukraine gewaltsam zu stoppen, und die militärische Spezialoperation begannen. Sie freuten sich sogar, glaube ich. Weil sie meinten, jetzt könnten sie uns endgültig erledigen, jetzt könnten sie Russland mit dieser Flut von Sanktionen, mit einem uns erklärten Sanktionskrieg und mit Hilfe westlicher Waffen und ukrainischer Nationalisten erledigen. Daher auch die Losung: „Russland eine strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld zufügen.“

Aber auch diejenigen „westlichen Eliten“, die Verhandlungsbereitschaft signalisieren, sind in Putins Augen nicht vertrauenswürdig oder sogar – weil schlauer und schwerer durchschaubar – besonders gefährlich.
W. Putin: Aber später kam die Erkenntnis, dass das unwahrscheinlich ist, und noch später, dass das unmöglich ist. Sie begriffen, dass sie uns keine strategische Niederlage zufügen konnten, dass sie ohnmächtig waren – ungeachtet der Stärke der allmächtigen Vereinigten Staaten, auf die sich verlassen hatten. Sie merkten, dass sie ohnmächtig waren gegenüber der Einigkeit des russländischen Volkes, gegenüber den robusten Grundlagen des russischen Finanz- und Wirtschaftssystems und seiner Stabilität, gegenüber der wachsenden Stärke der Streitkräfte der Russischen Föderation.
Und da wurden sie nachdenklich – die klügeren jedenfalls – und überlegten sich, dass man die Strategie gegeüber Russland ändern müsse. So kam die Idee auf, die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen, Wege zu finden, um diesen Konflikt zu beenden, zu überlegen, wo hier die tatsächlichen Interessen Russlands liegen. Diese Leute, nebenbei gesagt, sind gefährlich. Leute, die sich von niedrigen Prinzipien leiten lassen, kann man leichter bekämpfen.
http://kremlin.ru/events/president/news/73648
Leider ist zu befürchten, dass Putin von seiner Sicht der Dinge zutiefst überzeugt ist und sich und Russland wirklich für existentiell bedroht hält.