RUSSLAND HEUTE

Mitte April, kurz vor oder nach dem orthodoxen Osterfest, besuchte Putin seine Truppen irgendwo bei Cherson oder Luhansk – genauere Zeit- und Ortsangaben wurden nicht gemacht – und überreichte den Kommandeuren dort eine kleine zusammenklappbare Ikone, die Kopie eines antiken Feldaltars, der laut Putin „einem der erfolgreichsten Verteidigungsminister des Russischen Imperiums gehörte“.

Foto: www.kremlin.ru

Über die Bedeutung dieses Geschenks sprach Alexander Dugin in einem Interview mit dem Isborsker Klub vom 19. Mai. Dugin ist einer der bekanntesten nationalistischen Ideologen, er selbst bezeichnet sich als Philosoph und Denker. Einige Jahre lang (2010 – 2014) hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Moskauer Lomonossow-Universität inne, den er wieder abgeben musste, nachdem er zum Mord an Unterstützern der Ukraine aufgerufen hatte. Er propagiert ein eurasisches Imperium unter Führung Russlands. Im August 2022 wurde auf ihn ein Sprengstoffattentat verübt, bei dem seine Tochter Darja ums Leben kam.

Der Isborsker Klub, auf dessen Website das Interview erschien, ist ein ultrarechter Think Tank, gegründet 2012, zu dem viele Politiker, Journalisten und Wissenschaftler gehören, auch Dugin selbst.

Hier diejenigen Aussagen Dugins aus dem Interview, die sich mit der von ihm postulierten religiösen Dimension des Ukrainekrieges und der tieferen Bedeutung dieses Feldaltars beschäftigen. Die Machtvertikale wird dabei gleich noch um eine Ebene aufgestockt.

Dieser unser Krieg ist ein theologisches Phänomen. Wir wenden uns an den Heiligen Georg den Siegreichen, dessen Gedenktag wir kürzlich begangen haben, an den Erzengel Michael, an unseren Herrn Jesus Christus und an seine Mutter, die Hochheilige Jungfrau, an alle Heiligen mit der Bitte, uns den Sieg zu schenken – und dass wir das tun, heißt nichts anderes, als dass die philosophische, geistliche, intellektuelle Avantgarde dieses Kampfes dessen religiöse Bedeutung erkannt hat. Uns wird bewusst, wie wichtig jetzt die Himmelsvertikale ist, die Fürsprache der Engel, das Mitwirken Gottes an unserem Kampf der höchsten Kräfte.

(…)

Dass der Präsident eine Ikone als Geschenk überreicht hat, ist ein sehr wichtiges Zeichen. Ja, er hat auch einige Leute geehrt, andere befördert, wieder anderen mehr Munition bewilligt. Aber am wichtigsten war, er hat gezeigt, dass die Himmelsvertikale – die durch ihn, als die höchste Person im Staat, hindurchgeht – sich durch ihn bis auf die einfachen Kämpfer niedersenkt. Das ist ein sehr wichtiges Moment. Es ist die Heiligung des Krieges, seine Verwandlung in einen Heiligen Krieg. Natürlich, viele merken an, dass es etwas seltsam ist, von einer heiligen militärischen Spezialoperation zu reden. Aber wir wissen doch alle, dass ein Krieg stattfindet. Es wird Zeit, sich von diesem Euphemismus zu verabschieden. Es gab eine militärische Spezialoperation, sie hat begonnen wie eine militärische Spezialoperation, aber sie hat sich längst zu einem vollwertigen Krieg mit dem Westen entwickelt, einem echten Krieg, davon sprechen längst alle, ohne sich zu genieren.

Ich sehe es so: Die Ikone, die der Präsident an die Front gebracht hat, erklärt uns, was geschieht. Es findet ein Heiliger Krieg statt, der Präsident als erste Person des Landes fährt an die Front und überbringt der Front eine Ikone. Das bedeutet, schaut her, er selbst sagt uns: „Das ist ein Heiliger Krieg, ein Krieg des Volkes, Staat und Volk sind jetzt eine Einheit, ich bin mit euch, Soldaten, Krieger, Ehefrauen, Mütter, Väter, die ihr eure Kinder verloren habt, ich bin ganz und gar mit euch, ich bin einer von euch.“ (…)

Alexander Dugin auf einer Konferenz 2018, Foto: Wikimedia Commons

Noch etwas, ich bin überzeugt, dass die „Theologie des Krieges“, von der wir heute sprechen, in unserer Gesellschaft viel mehr Geltung und Gewicht haben muss. Ich denke, viele Dinge, viele Programme, sogar viele Äußerungen von einzelnen Personen und viele Formulierungen unserer Presse, die wir bisher gewohnt waren, sind absolut unvereinbar mit der Kultur eines Landes und einer Gesellschaft, die sich im Zustand dieses Heiligen Krieges befinden. Wir müssen unsere Gesellschaft an die theologischen Kriterien eines Heiligen Krieges anpassen, und das unverzüglich. Der Versuch, bei dieser militärischen Spezialoperation das Volk nicht zu behelligen, die breiten Massen nicht hineinzuziehen, ist nicht geglückt. Das funktioniert nicht, das ruft bei vielen nur Unverständnis hervor.

Unser ganzes Informationssystem, unsere Kultur muss auf den Krieg eingestimmt werden – nur Kriegslieder, nur geistliche Predigten. Zargrad, Spas – solche Sender müssen meiner Meinung nach Schritt für Schritt das gesamte sonstige Fernsehen ersetzen. Manche sagen vielleicht, das ist zu langweilig, die Leute werden sich das nicht angucken. Na gut, wenn sie es nicht sehen wollen, sollen sie es lassen, dann können sie ja zum Beispiel ihren Gemüsegarten bestellen, an die Front gehen oder Tarnnetze knüpfen. Es gibt genug, womit sie sich beschäftigen können, statt die sinnlosen und empörend stümperhaften TV-Produktionen zu sehen, die die Würde des Menschen beleidigen. Ja, ernsthafte Dinge sind für die, die daran nicht gewöhnt sind, meist langweilig und einschläfernd. Kein Problem. Sie werden sich daran gewöhnen.

https://izborsk-club.ru/24329

Offiziell ist es in Russland eigentlich immer noch verboten, von einem „Krieg“ zu sprechen, es heißt weiter „militärische Spezialoperation“ oder meist abgekürzt „SWO“ („Spezialnaja Wojennaja Operazija“). Aber Alexander Dugin braucht sicher kein Gerichtsverfahren zu fürchten. Wenn der Ausdruck „Krieg“ oder noch besser „Heiliger Krieg“ aus der richtigen, der ultrapatriotischen Ecke kommt, wird er stillschweigend toleriert.

Die von Dugin erwähnten Sender Zargrad und Spas (= Erlöser) sind beides private Fernsehstationen mit religiös-nationalistischer Ausrichtung. Zargrad gibt es seit 2015, er gehört dem Unternehmer Konstantin Malofejew. Seit 2017 ist Zargrad nicht mehr als Fernsehsender, sondern nur noch im Internet zu empfangen. Spas ist eng mit der Russisch-Orthodoxen Kirche verbunden und sendet bereits seit 2005, vorwiegend zu religiösen Themen.