Letzte Woche feierte man in Moskau den 90. Jahrestag der Metro. Am 15. Mai 1935 wurde die erste Linie, die „Sokolnitscheskaja“, mit 13 Stationen in Betrieb genommen.

Wenige Tage vor diesem Jubiläum sickerte durch, dass zur Feier des Tages eine kleine Sensation geplant war: die Enthüllung eines großen Reliefs in der Metrostation Taganskaja, mit Stalin als siegreichem Feldherrn und Freund der Jugend im Mittelpunkt. In einer Ecke der Station, die zur stark frequentierten „Ring-Linie“ gehört, hinter einem unscheinbaren Wellblechzaun und einer Plastikfolie mit dem Signet der Metro, hatte man dort in aller Heimlichkeit das Werk fertiggestellt – während die Passanten glaubten, dort fänden irgendwelche Ausbesserungsarbeiten statt.

Die Renaissance von Stalin-Denkmälern ist in Russland seit etlichen Jahren zu beobachten (hier habe ich schon einmal darüber berichtet), aber bisher standen diese meist in irgendwelchen Provinzstädten und wurden auf private, nicht staatliche Initiative aufgestellt. Ein solches Denkmal an zentraler Stelle in Moskau, errichtet im Auftrag der Stadt, hat schon eine andere Dimension.

Stalins Metro

Die Moskauer Metro und Stalin gehören eng zusammen, deshalb zunächst ein kurzer Blick zurück. Mit dem Bau der Metro sandte Stalin eine Botschaft an die Welt: Seht her, wozu wir, die noch junge Sowjetunion, imstande sind – wir schaffen die schönste und prächtigste Untergrundbahn, die man je gesehen hat.

Die Zeitung „Vetschernjaja Moskwa“ vom 14. Mai 1935 mit Fotos von Stalin und Kaganowitsch und dem Untertitel „Gruß an die ruhmreichen Erbauer der Metro!“

Tatsächlich ist die Moskauer Metro nicht nur ein enorm praktisches und billiges Fortbewegungsmittel, sondern auch ein Wahrzeichen der Stalinzeit und ihrer pompösen Architektur und bis heute eine Touristenattraktion. Vor allem die frühen, noch zu Stalins Lebzeiten gebauten Stationen prunken mit Mosaiken an Wänden und Decken, mit Keramikmedaillons, bunten Glasfenstern und bronzenen Statuen in breiten, an antike Wandelhallen erinnernden Gängen.

Und natürlich war auch er selbst, der diesen monumentalen Bau initiiert hatte, in seiner Metro präsent – durch Porträts in Mosaiken und Fresken, durch Zitate an den Wänden, durch lebens- und überlebensgroße Statuen an prominenten Stellen. Eine Station wurde sogar nach ihm „Stalinskaja“ benannt.

Entstalinisierung

1953 starb Stalin. 1956 hielt Chruschtschow seine berühmte Rede auf dem 20. Parteitag, in der er den „Persönlichkeitskult“ anprangerte und die Entstalinisierung einleitete. In den darauffolgenden Jahren wurde auch die Metro gründlich von Stalin „gesäubert“. Die Station „Stalinskaja“ wurde 1961 in „Semjonowskaja“ umbenannt. Eine dort aufgestellte drei (nach anderen Quellen sogar fünf) Meter hohe Statue mit der Widmung „Dank an den großen Stalin für eine glückliche Kindheit“ war schon vorher entfernt worden.

Im Verlauf eines knappen Jahrzehnts verschwanden zügig sämtliche Stalinbilder, Stalinstatuen, Stalinzitate. Wenn sie Teil eines größeren Ganzen gewesen waren, wurde dieses Ganze entsprechend abgeändert, was manchmal zu skurrilen Ergebnissen führte. So befindet sich zum Beispiel in der Station Dobryninskaja ein riesiges Wandmosaik, auf dem junge Leute dargestellt sind, die ursprünglich ein Porträt von Stalin trugen. Das Mosaik als Ganzes ließ man intakt, nur Stalins Kopf wurde fein säuberlich herausgeklopft und an seiner Stelle Juri Gagarin mit Kosmonautenhelm eingefügt. Gagarin hatte 1961 den ersten Flug in den Weltraum absolviert und war der Held des Tages; 1950 allerdings, als die Station Dobryninskaja eröffnet wurde, gab es noch gar keine Raumfahrt und Gagarin war erst 16 Jahre alt.

Ausschnitt aus einem Wandmosaik in der Station Dobryninskaja mit Gagarin-Porträt an der Stelle, an der zuvor Stalin abgebildet war, Quelle: moscowwalks.ru

Stalins Rückkehr

Aber nun ist Stalin zurück. Wellblechzaun und Folie wurden pünktlich zum 15. Mai entfernt, zum Vorschein kam ein großes, figurenreiches Relief: Stalin steht im Zentrum, eingerahmt von jungen Leuten und Kindern, die ihm Blumen bringen. Über ihm schwebt Lenin, links im Hintergrund sieht man die Basiliuskathedrale, rechts den Spasski-Turm. Im Sockel sind die vier Städte dargestellt, denen Stalin 1945 als ersten den Titel „Heldenstadt“ verliehen hat: Leningrad, Stalingrad, Odessa und Sewastopol.

Stalinrelief in der Metrostation Taganskaja, 2025, Quelle: Wikipedia

Das Relief ist keine Neuschöpfung, es ist die Nachbildung eines alten Reliefs, das sich früher ebenfalls in der Station Taganskaja befand und Mitte der 1960er Jahre entfernt und zerstört wurde. (Nach einigen Quellen wurde erst nur die Figur Stalins entfernt und durch ein Wappen oder durch eine Leninfigur ersetzt, danach, als das Werk einem Durchbruch im Wege stand, komplett.)

Alte Archivaufnahmen wie die folgende dienten als Vorlage für die Kopie.

Fotografie des ursprünglichen Reliefs, Quelle: Wikimedia Commons

Leider scheinen keine besseren Fotos zu existieren, auch keine Farbaufnahmen. Doch selbst auf dieser nicht besonders scharfen Fotografie sieht man die Qualitätsunterschiede. Das Original war sehr viel feiner im Detail, die Gesichtszüge Stalins waren besser getroffen. In Material und Farbgebung passte es zum Gesamtbild der künstlerischen Gestaltung der Station. In den Gängen der Taganskaja sind nämlich sechzehn spitz zulaufende („Pylonen“), meterhohe Majoliken zu sehen, hellblau und weiß glasiert, die die verschiedenen Militärgattungen der Sowjetarmee darstellen, Infanterie, Marine, Flieger, Panzerfahrer usw. In der Mitte befindet sich jeweils ein Medaillon mit dem Porträt eines Vertreters der betreffenden Militärgattung.

Metrostation Taganskaja mit blauweißen Majolikapylonen, Quelle: Wikipedia

In ähnlicher Ausführung muss man sich das Originalrelief vorstellen.

Reaktionen: Experten, Presse, Politiker

Mehrere Kunstexperten meldeten sich sogleich zu Wort und bemängelten die schlampige und billige Ausführung des neuen Reliefs. Jelisaweta Lichatschowa, ehemalige Direktorin des Schtschussew-Architekturmuseums und bis vor kurzem des Puschkin-Museums, äußerte sich besonders abfällig:

Wir sehen hier gar kein Replikat. Das ist ein Fake. Das ist eine Fälschung, sowohl was das Material betrifft wie auch in Bezug auf seine Bedeutung. (…) Was in den 1950er Jahren geschaffen wurde, war nicht nur sowjetische Kunst, es war eine Skulptur aus Porzellan, sogenannte Weißware, eine ästhetisch und technisch komplizierte Arbeit.

Aber was jetzt in der Metro eingebaut wurde, ist ein schlampig mit einem 3D-Drucker fabrizierter Klotz, grob angemalt, damit er wie glasiertes Porzellan aussieht. (…) Und während eine billige Imitation der Stalinskulptur „Likes“ sammelt und Diskussionen auslöst, verschwinden gleichzeitig die echten Artefakte der Sowjetepoche vor unseren Augen.

(Zitiert und übersetzt nach dem auf der Website des Radiosenders Svoboda/Radio Liberty am 19. Mai 2025 erschienenen Beitrag von Alexandra Wagner.)

In einem Artikel des russischen Online-Nachrichtendienstes Regnum zollen die Autorinnen dagegen dem neuen Stalin ihre unverhohlene Bewunderung – allerdings weniger dem Kunstwerk als dem gut aussehenden Mann:

Vor dem Hochrelief „Das dankbare Volk – seinem Führer und Feldherrn“ verlangsamen fast alle den Schritt. Viele bleiben stehen, fotografieren, machen fröhliche Selfies.

Keine siebzig Jahre sind vergangen, seit der Vater der Völker in seine unterirdischen Empire-Gemächer in der Station „Taganskaja“ der Moskauer Metro zurückgekehrt ist und aussieht, als hätte er vom Wasser des Lebens getrunken – jugendlich, hochgewachsen, schlank, aus der einen Perspektive dem jungen Saddam Hussein ähnelnd, aus der anderen Omar Sharif in Sidney Lumets Film „The Appointment“.

https://regnum.ru/article/3965433

Tatsächlich war Stalin bekanntlich klein, schmächtig und pockennarbig.

Die meisten Menschen interessierten sich aber mehr für die politische als für die künstlerische Bedeutung. Die liberale (inzwischen bedeutungslos gewordene) Partei „Jabloko“ protestierte und erinnerte an die Opfer des stalinistischen Terrors. Die kommunistische Partei KPRF schickte eine Delegation, die dem auferstandenen Stalin Blumensträuße zu Füßen legte. Die Passanten zückten reihenweise ihre Handys, filmten und machten Selfies mit Stalin. In den sozialen Medien entbrannte eine lebhafte und kontroverse Diskussion über die unerwartete Rückkehr des „Vaters der Völker“ und des „Freundes der Kinder“.

Reaktionen: Soziale Medien

Die positiven Reaktionen überwiegen – aber vielleicht scheuen auch viele davor zurück, öffentlich Kritik an einer Maßnahme der Regierung zu äußern. Auf der Bloggerplattform des Nachrichtenportals dzen.ru erschien ein Beitrag, in dem der Verfasser vorsichtig Kritik übte und von Russlands „problematischer Vergangenheit“ sprach. Innerhalb weniger Tage gab es dazu über 400 Kommentare, aus denen ich einige ausgewählt und übersetzt habe – ohne Anspruch auf Repräsentativität. Aber die darin geäußerten Meinungen und Argumente habe ich schon oft gelesen und gehört. Manche (wie zum Beispiel der Vorwurf der Gerontokratie oder der Vergleich mit einer überstandenen schweren Krankheit) sind auch recht überraschend und originell. An den Anfang habe ich einen Kommentar gestellt, der einige Fakten und Zahlen zur Einordnung liefert, und gleich im Anschluss eine sehr typische, immer wiederkehrende Reaktion.

In den Jahren der stalinistischen Repressionen wurden rund 700 Erbauer und Mitarbeiter der Moskauer Metro Opfer des Terrors. Rund 140 von ihnen wurden erschossen. Als erster Adolf Petrikowski, Chef der Moskauer Metro, unter dem die Züge von Sokolniki bis Park der Kultur in Betrieb genommen wurden. Er wurde auf eine Erschießungsliste gesetzt, die Stalin am 20. August 1938 persönlich abzeichnete. Erschossen wurde er auf dem Exerzierplatz „Kommunarka“.
Keinem der durch das Stalinregime ermordeten Mitarbeiter der Moskauer Metro hat man dort ein Denkmal errichtet.
Aber für den schnurrbärtigen Menschenfresser stellt man eins auf.

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Ich bin es leid, die endlosen Phrasen von den Millionen in den Lagern Umgekommenen zu lesen, von den Millionen Repressierten, Umgesiedelten und so weiter. Wenn man versucht, seriöse wissenschaftliche Studien zu dieser Frage zu finden, stößt man auf Solschenizyn (ein echter Volksfeind), auf Memorial und sonstige sich als liberal aufplusternde Regierungsfeinde. Ja, es gab Opfer, die Zeiten waren hart, es ging um die Existenz unseres Landes (genauso wie heute), aber es waren keineswegs Abermillionen sinnloser Opfer. Stalin ist eine Größe der Geschichte, unserer und der Weltgeschichte, man darf nicht so tun, als hätte es ihn nicht gegeben, er hat unvergleichlich viel mehr Gutes getan. Und egal, wieviel Blödsinn Mao in China verzapft hat, man vergisst ihn nicht und ehrt ihn, und das ist richtig so. Und Wolgograd muss in Stalingrad umbenannt werden.

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Alles, was historischen und kulturellen Wert hat, sollte erhalten werden. Wenn dieses Basrelief große Kunst ist, soll man es wiederherstellen.
Allerdings – werden denn auch die verlorenen Denkmäler der Kirchenarchitektur wiederhergestellt, die unter dem heißgeliebten Jossif Wissarionowitsch auf barbarische Weise zerstört wurden? Meiner Meinung nach sind die hundertmal wertvoller als derartige Statuen.

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Stalin wirft man Repressionen vor, aber ist nicht Genosse Lenin schuld am „roten Terror“? Denkmäler für Lenin stehen in jeder Stadt und niemand protestiert.

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Die Größe Stalins nicht zu begreifen, bedeutet, unsere Geschichte nicht zu kennen. Wie hätte Stalin, ohne hart, sogar grausam zu sein, die UdSSR innerhalb von zehn Jahren auf den Großen Krieg vorbereiten können?

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Soll er von mir aus wieder aufgestellt werden. Das sind alles nur Konvulsionen der Gerontokratie. Etwas anderes haben sie uns nicht anzubieten. Aber mit denen ist sowieso bald Schluss. Der jetzigen Generation sind diese ganzen Stalins und Lenins sowas von egal. Man muss in der Realität der Gegenwart leben und darf sich nicht an die Vergangenheit klammern.

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Es gibt keine problematische Vergangenheit, was für ein Stuss. Eine Reproduktion ist das nicht, es ist eine billige synthetische Fälschung statt der monumentalen bildhauerischen Komposition aus Keramik – ein erbärmlicher Anblick, armselig. Wie die Macht, so die Monumente.

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Sollen sie ihn wiederaufstellen. Das ist wie die Geschichte einer Krankheit, Russland hat Stalin überstanden, wie ein Mensch den Krebs überlebt, und ist wieder gesund geworden. Aber diese Krankheit kann keiner vergessen, selbst wenn er die Fotos wegwirft, auf denen er nach der Chemotherapie kahlköpfig ist. Mag dort eine schöne Installation des wichtigsten Symbols für die Krankheit stehen, die das große Russland überstanden hat.

Alle Kommentare und den dazugehörigen Beitrag findet man unter diesem Link: https://dzen.ru/a/aB-aAvfp8Ud0XVqn?sid=369639942205542407