RUSSLAND HEUTE
Ein Interview über Mode im Allgemeinen und Karl Lagerfeld im Besonderen
Am 30. April ist im Alter von 85 Jahren der russische Modeschöpfer Slawa (Wjatscheslaw) Saizew gestorben, dessen große Zeit schon etwas zurückliegt. In den 1980er/1990er Jahren wurde er für seine farbenfrohen Kreationen auch im Westen bekannt. Seine berühmteste Kundin war Raissa Gorbatschowa.
Im Oktober 2012 gab Saizew der russischen Ausgabe der Zeitschrift „Gentlemen’s Quarterly“ (GQ) ein Interview. GQ ist das männliche Pendant zur „Vogue“ und erscheint seit 1958 in den USA beim Medienunternehmen Condé Nast. Seit 2001 gab es auch eine russische Version. „Gab“, nicht „gibt“ – am 9. März 2022 wurde GQ in Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine eingestellt, genauso wie die russische Version der „Vogue“.
2012 wurde Slawa Saizew von „Gentlemen’s Quarterly“ zum „Mann des Jahres“ gewählt. Aus diesem Anlass und weil er damals schon seit 50 Jahren in der Modebranche war, führte GQ Russland ein Interview mit ihm. Hier, mit kleinen Kürzungen, die Übersetzung.

Jewgeni Tichonowitsch (GQ Russland): Heute stehen die Bezeichnungen „Modeschöpfer“ und „Couturier“ nicht mehr so hoch im Kurs. Sie wurden abgelöst von „Designer“ und „Kreativdirektor“, und damit begann eine neue Epoche. Sie beschäftigen sich schon seit einem halben Jahrhundert mit Mode, was denken Sie darüber?
Wjatscheslaw Saizew: Völliger Blödsinn. Wortspielereien, sonst nichts. „Couturier“ bedeutet auf Französisch ja nur „Schneider“, also jemand, der nähen kann. Und ich finde es traurig, dass viele junge Leute heute nur zeichnen können – nähen haben sie nicht gelernt. Überhaupt kommen in Russland die Modeschöpfer von nicht spezialisierten Hochschulen, unser Land bemüht sich nicht um eine wirklich qualifizierte Modeausbildung. Von welcher Mode kann man reden ohne staatliche Unterstützung? Es gibt eine Menge großartiger Künstler, aber Mode, nein, die gibt es nicht.
Aber gerade Sie haben sich ja immer selbst finanziert. Stimmt es, dass Ihr Modehaus von den Einkünften aus dem Vertrieb des Parfums Maroussia lebt?
Das stimmt. Nur lebt es nicht, es überlebt. Wir machen ja alles selbst, bekommen keine Kopeke von anderswoher.
Ist das für Sie nicht eine Tragödie – etwas zu tun, was sich nicht rentiert?
Natürlich ist das eine Tragödie. Das einzige, was mich rettet, ist meine Couturierwerkstatt und die Kunden, die jeden Tag kommen. In diesen Augenblicken weiß ich, dass ich nicht vergebens arbeite. Ende der 1980er träumte ich von Prêt-à-porter, damals war der Vizepräsident von L’Oréal in Moskau zu Besuch – sein Name fällt mir gerade nicht ein. Also, er hat mir gesagt: „Slawotschka, vergessen Sie Prêt-à-porter, Sie müssen sich der Haute Couture widmen.“ Ich habe auf ihn gehört, und jetzt weiß ich, das war richtig.
Für die sowjetischen Machthaber waren Sie immer ein „schwieriges Kind“. In Ihren Interviews erzählen Sie oft, wie Sie mit dem System gestritten haben und auf keinen gemeinsamen Nenner kamen. Man mochte Sie nicht und ließ Sie nicht ins Ausland. Jetzt haben Sie mit der Staatsmacht eigentlich gar keine Berührungspunkte. Atmet es sich leichter?
Von Alltagsproblemen einmal abgesehen, kann ich sagen, ich mache heute alles, was ich will. Die Obrigkeit behindert mich nicht, hilft mir aber auch nicht. (…)
Schauen Sie manchmal auf die westliche Modeindustrie und beobachten, was dort passiert?
Aber selbstverständlich – ich schaue ständig und studiere sie genau. Mir gefallen viele junge Künstler wie etwa Nicolas Ghesquière. Aber ich übernehme niemals etwas – meine Sicht auf die Dinge ist zu verschieden von der Sicht anderer. Ich entlehne prinzipiell nichts, selbst wenn ich es manchmal gern täte.
Im Westen ist die Epoche der großen Couturiers mit dem Tod von Gianfranco Ferré und Saint-Laurent zu Ende gegangen. Jetzt sind Sie – der Mann, den man im Ausland in den 70ern den roten Dior genannt und auf eine Stufe mit den besten Modeschöpfern der Epoche gestellt hat – ein lebendes Denkmal dieser Zeit geworden …
Zu solchen Vergleichen kann ich Ihnen Folgendes sagen. 1974 hat die ausländische Presse eine Liste der bedeutendsten Modeschöpfer Westeuropas veröffentlicht. Nummer eins war Charles Frederick Worth, Nummer zwei Paul Poiret, auf Platz drei und vier folgten Gabrielle Chanel und Christian Dior, und die Liste wurde beschlossen mit Slawa Saizew. Es waren insgesamt nur fünf. Stellen Sie sich vor – ich, ein Sowjetmensch, und Westeuropa! Kossygin hat mich seinerzeit kalt abgefertigt, in Regierungskreisen mochte man mich gar nicht. Deshalb konnte ich auch nur wenig für mein Land bewirken – in der Sowjetzeit hat man mir dazu keine Möglichkeit gegeben, und in der postsowjetischen Zeit war kein Geld da. Ich habe mich immer mit dem Gedanken getragen, die Produktion einer für alle erschwinglichen Kleidung zu begründen. Jetzt versuche ich, diesen Traum zu verwirklichen, es gibt schon Verhandlungen mit Herstellern, schauen wir, was sich ergibt.
Sie haben nie verhehlt, dass Sie das Leben eines Einsiedlers führen. Hilft Ihnen das bei der Arbeit?
Ich weiß nicht, ob es mir hilft oder nicht, aber ich bin gern allein. Ich hasse diese ganzen Partys – immer ein und dasselbe, die Gesichter immer gleich, leeres Geschwätz ohne Inhalt – nur fressen und sonst nichts. Die Mädchen sehen inzwischen eins wie das andere aus.
Und wie sehen die Männer in Russland aus? Karl Lagerfeld etwa hat ja kürzlich gesagt, sie seien allesamt hässlich und schlecht angezogen. Er ist übrigens auch so ein Einsiedler und auch ein Mann aus der Epoche der Granden der Modewelt, wohl der einzige, der im Westen übriggeblieben ist.
Karl Lagerfeld ist eine besondere Persönlichkeit. Ich erkenne an, dass er unglaublich talentiert ist, aber als Mensch ist er unangenehm im Umgang, versteht niemanden außer sich selbst. Ich habe ihn einige Male in Paris getroffen, in einem Buchgeschäft. Er hat mich sogar zu seiner Fotoausstellung nach Köln eingeladen. Natürlich bin ich hingefahren, habe einen schwarzen Anzug angezogen. Aber dann hat er mich gar nicht empfangen und tut seitdem so, als würde er mich nicht erkennen. Was die russischen Männer betrifft – sie ziehen sich inzwischen besser an. Die Frauen auch. (…)
Sie haben einmal gesagt, dass Sie immer davon geträumt haben, Schauspieler zu werden und nicht Modedesigner. Und wenn die Sowjetmacht nicht Ihren Vater, der im Krieg in deutsche Gefangenschaft geriet, als Vaterlandsverräter betrachtet hätte, dann hätten Sie eine Schauspielschule besuchen können. Welches dramaturgische Fach hat Sie interessiert?
Mir hat immer die Operette gefallen. Ich habe gesungen und getanzt. Ich hatte wirklich eine gute Stimme. Ich habe ein Angebot vom Sweschnikow-Chor bekommen, aber meine Mutter wollte das nicht. In der Schule und am Institut war ich immer vorneweg – ganze Schauspiele habe ich aufgeführt. Jetzt, nach einem leichten Schlaganfall, kann ich nicht mehr singen. Selbst das Sprechen fällt mir schwer – wegen dieser Probleme bin ich aus der Fernsehsendung „Das Modeurteil“ ausgestiegen. Dafür habe ich jetzt Zeit, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, parallel dazu versuche ich mich an Fotomalerei am Computer. Wissen Sie, alles liegt in Gottes Hand. In meinem Leben hat sich alles so gefügt, wie es sich fügen sollte.
https://www.gq.ru/heroes/dizajner-goda-vyacheslav-zajcev-est-hudozhniki-a-mody-net
Nur zwei Tage nach Saizews Tod ist am 2. Mai ein anderer bekannter russischer Modedesigner nach schwerer Krankheit gestorben, Valentin Judaschkin, er wurde nur 59 Jahre alt. Internationale Berühmtheit erlangte er 1991 durch eine Kollektion, die sich an das Design der Fabergé-Eier anlehnte. 2008 beauftragte ihn die russische Regierung, die Uniformen der Armee neu zu gestalten (mit der Ausführung seiner Ideen war er allerdings höchst unzufrieden – zu billig). Letztes Jahr wurde Judaschkin von der Pariser Fashion Week ausgeschlossen, weil er sich nicht vom russischen Angriffskrieg distanziert hatte.