Regelmäßig, meist einmal pro Woche am Freitag, veröffentlicht das russische Justizministerium die Neuzugänge auf seiner Liste der „ausländischen Agenten“ („иноагенты“). Das Verzeichnis liest sich inzwischen wie ein Who’s Who von Künstlern, Wissenschaftlern, Medienschaffenden und NGOs.
Gesetzeslage
Das Gesetz, wer als Agent einzustufen ist, wurde in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschärft. In den ersten acht Jahren (2012 bis 2020) betraf es nur juristische Personen, also zum Beispiel einen Verein, eine Stiftung oder eine Organisation, die in irgendeiner Weise politisch tätig waren. Wenn sie Geld aus dem Ausland erhielten – auch wenn es sich nur um Spenden von Privatleuten handelte – , führte das zur Ächtung als „ausländischer Agent“ und zu einer Vielzahl von behördlichen Vorschriften und Schikanen. Bekannte Fälle waren etwa die Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die viel dafür getan hat und tut, die Verbrechen der Stalinzeit aufzuarbeiten, die gemeinnützige Stiftung „Russland hinter Gittern“ („Русь сидящая“), die sich um Strafgefangene und deren Familien kümmert, und das Meinungsforschungsinstitut Lewada.
2020 wurde das Gesetz auch auf natürliche Personen ausgeweitet. Seit Dezember 2022 ist die neueste Version des Gesetzes gültig – nun muss gar kein Geld mehr fließen, es genügt der „ausländische Einfluss“. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt der Interpretation und Fantasie der Behörden überlassen. Mit anderen Worten, mithilfe dieser schwammigen Formulierung kann man jeden und jede, der oder die dem Regime nicht passt, ausgrenzen und seine bzw. ihre Tätigkeit erschweren oder unmöglich machen.
In der Presse und in offiziellen Publikationen werden die Namen dieser Organisationen oder Menschen mit einem Sternchen und einem Hinweis auf ihren „Agenten“-Status kenntlich gemacht: Memorial*, Maxim Galkin*, Zemfira* usw.
Queeres Online-Portal doppelt sanktioniert
Im Februar traf es die Internetseite „Parni+“ („Jungs+“), ein queeres Online-Portal, das seit 2008 existiert und in den letzten Jahren immer wieder Probleme mit der mächtigen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte. Nun wurde die Seite gleich zweifach sanktioniert, zuerst wegen „Propaganda nicht-traditioneller Werte“ (auch ein Gesetz, das kürzlich verschärft wurde), dann folgte die Einstufung als „ausländischerAgent“. Die Website wird seitdem in Russland blockiert. Zwar gibt es technische Möglichkeiten, die Blockade zu umgehen, aber nach russischem Gestz ist das natürlich illegal.
Der Chefredakteur des Portals, Jewgeni Pisemski, gab dazu folgende Erklärung ab:
In den letzten fünf Jahren (es gibt uns seit 15 Jahren) wurde unsere Seite dreimal blockiert. Die beiden letzten Male ist es uns wie durch ein Wunder gelungen, die Blockade mithilfe des Gerichts aufzuheben. 2023 werden wir diese Entscheidung erneut gerichtlich anfechten, obwohl von vornherein klar ist, dass wir keine großen Chancen haben.
Wir werden unsere Arbeit auf jeden Fall fortsetzen, und keine Blockade wird uns stoppen.
Anfang April veröffentlichte die Seite unter dem Titel „Putin hat uns zu Feinden gemacht“ („Путин сделал нас врагами“) eine sehr persönliche Stellungnahme zu der jetzigen Situation im Land, mit pessimistischem Ausblick auf die Zukunft von queeren Menschen in Russland. Dies sind einige Auszüge daraus.
Die russische Propaganda und der Krieg haben Millionen von Familien zerstört. Eltern hassen ihre Kinder, Freunde werden zu Feinden. Am schlimmsten hat es die LGBT-Menschen getroffen.
Screenshot der Website „Parni+“ vom 1. April 2023
Die letzten Jahre der russischen Geschichte haben anschaulich demonstriert, dass es immer noch schlimmer werden kann. All unsere kümmerlichen Versuche, unsere Rechte und Freiheiten zu verteidigen, sind gescheitert. Und parallel dazu hat Putins Staat das Wenige, das wir noch hatten, gründlich vernichtet. (…)
Nachdem das Regime unsere Zukunft, unsere Träume und Pläne zerstört hat, greift es jetzt den letzten Zufluchtsort an. Unsere Familien.
Natürlich haben Millionen von russischen LGBT-Menschen auch früher schon unter der alltäglichen Homophobie gelitten, unter der Ablehnung durch ihre Verwandten. Von manchen sagte ihre Familie sich los, andere versuchte man mit mittelalterlichen Methoden zu „heilen“. Meistens haben wir uns einfach versteckt und ein Doppelleben geführt. Aber trotzdem haben viele Eltern, die von der Orientierung oder Identität ihrer Kinder wussten, Kompromisse gesucht und gefunden. Manchmal hat die Liebe gesiegt, manchmal hat man uns nur zähneknirschend toleriert, in der Hoffnung, dass diese „Laune“ irgendwann wieder vergeht.
Die Katastrophe
Aber dann kam der Krieg. Genauer, er wurde von Putins Regime in unser Leben gebracht. Im Lauf von mehr als 400 Tagen hat er nicht nur ukrainische Städte in Schutt und Asche gelegt und Hunderttausende Leben gefordert. Er hat uns alle verkrüppelt und die Reste dessen, was man noch eine russische Gesellschaft nennen konnte, gesprengt.
Einige wenige LGBT-Menschen haben, so erstaunlich das ist, den Krieg unterstützt, manche von ihnen haben sogar in den Reihen der Besatzungsarmee gekämpft: Sie töten und sterben, „damit es keine gleichgeschlechtlichen Ehen gibt“, wie Putins Beamte und Kommandeure sagen. Viele andere versuchen, nicht aufzufallen, und vermeiden möglichst, Stellung zu beziehen, aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das schwer. (…)
Vaterlandsverräter
Manche von uns sind offen gegen den Krieg aufgetreten und haben als erste unter den Repressionen gelitten. Manche haben das Land verlassen, um nicht ins Gefängnis zu kommen oder eingezogen zu werden. Aber die Mehrheit ist geblieben und versucht, irgendwie zu überleben. Mit der Familie Kontakt zu halten, zu arbeiten, sich mit der Umwelt zu arrangieren.
Dabei zeigte sich, dass selbst die alte, windschiefe und zerbrechliche Welt unserer familiären Beziehungen zerstört ist. Viele unserer Eltern, Großeltern, Geschwister sind für den Krieg. Das waren nicht nur Meinungsverschiedenheiten, das war kein harmloser Zank in der Küche. Es tat sich ein Abgrund auf.
Der typische Fall eines Mannes, der noch rechtzeitig einige Stunden vor seiner Verhaftung als Aktivist das Land mit dem Flugzeug verlassen konnte: „Ich wollte mich vorher noch mit meiner Schwester aussprechen. Früher meinte sie: Du bist krank, aber ich liebe dich trotzdem. Jetzt kam noch dazu: Du hast unsere Heimat verraten.“
Ein Trichter des Hasses
Alle diese Geschichten ähneln sich. Ein Mann hatte seinem Stiefbruder aus Charkow, in dessen Haus eine Rakete aus Belgorod eingeschlagen war, mit Geld geholfen. Seine Mutter sagte, er sei nicht länger ihr Sohn, und brach den Kontakt ab. Ein anderer pflegt seine bettlägerige Mutter, die schaut von morgens bis abends fern. Resultat: Jedes Gespräch zwischen ihnen endet im Streit. Ein anderer hat aus Gewissensgründen seine Stelle bei der staatlichen Propaganda gekündigt und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Für seine Eltern ist er ein Psychopath, ein moralischer Verbrecher, ein Perverser und natürlich ein Opfer der Propaganda, nur eben der der anderen.
Wie in einen Trichter zieht dieser Hass uns immer tiefer hinunter und zerstört die letzten sozialen Verbindungen. (…)
Screenshot der Website mit der Kennzeichnung „18+“, die laut Gesetz für alle Publikationen vorgeschrieben ist, die „nicht-traditionelle Lebensformen propagieren“
Wir leben in verschiedenen Koordinatensystemen, unsere Weltbilder haben immer weniger gemeinsame Schnittmengen. Im einen gab es die Verbrechen in Butscha und die Bombardierung von Mariupol, da ist dieser ganze Krieg verbrecherisch und tragisch. Im anderen retten „unsere Jungs“ die Russen vor den Nazis, die russische Armee tut nur Gutes und muss siegen. Diese beiden Bilder wenigstens vorläufig miteinander zu versöhnen ist seit einem Jahr so gut wie unmöglich. (…)
In „ihrem“ Weltbild, in dem Russland recht hat, sind wir keine Subjekte mehr. Und sind wir erst einmal Verräter, ausländische Agenten und Opfer der amerikanischen Propaganda, dann werden wir auch wieder zu Perversen, zu Opfern und LGBT-Propagandisten. Deine Mutter, die dich schon so akzeptiert hatte, wie du bist, nennt dich wieder voller Wut einen Perversen. Dein Vater, der sich mit der Situation halbwegs versöhnt hatte, glaubt nun, die verfluchten Angelsachsen hätten dich zuerst verdorben und dann zu ihrem Einflussagenten gemacht. Die Oma, der du akribisch auseinandersetzen wolltest, dass Solowjow lügt, geht nicht mehr ans Telefon. Und dein Bruder, der in den Krieg gezogen ist … Ja, alles klar. (…)
Aber auch wenn wir diese schlimmen Zeiten überleben, wird der Abgrund tief sein. Ein großer Teil der LGBT-Emigranten wird nicht nach Russland zurückkehren, selbst wenn sich hier wieder einiges zum Guten wendet. Weil sie sich inzwischen an das neue Leben gewöhnt haben und nicht wieder von vorn anfangen wollen. Und die, die im Land geblieben sind, werden so viel Kraft fürs Überleben brauchen, dass sie nicht imstande sein werden, das Verlorene wieder zurückzuholen.
Und wie äußert sich Putin selbst zum Thema Homosexualität und LGBT-Menschen?
Vor zehn Jahren hatte er in einem Interview noch behauptet:
Sie (die Homosexuellen, d. Ü.) sind absolut vollwertige und gleichberechtigte Bürger der Russischen Föderation.
Das war allerdings wenige Monate vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi, als ihm daran gelegen war, Russland vor der Weltöffentlichkeit als tolerantes, modernes Land zu präsentieren. Das schon damals gültige Verbot der „Propaganda für nicht-traditionelle Lebensformen“ begründete er mit dem Schutz von Kindern. Was er in diesem Interview sonst noch sagte, klang nicht wirklich überzeugend:
Ich versichere Ihnen, dass ich mit solchen Leuten zusammenarbeite, manchmal zeichne ich sie mit staatlichen Orden für ihre Leistungen in verschiedenen Bereichen aus. Unsere Beziehungen sind absolut normal, ich kann da nichts Besonderes sehen. Man sagt ja, Tschaikowski sei homosexuell gewesen, zwar lieben wir ihn nicht gerade dafür, aber er war ein großer Musiker, und wir alle lieben seine Musik. Na, und? Man sollte aus einer Mücke keinen Elefanten machen. In unserem Land braucht man nichts zu befürchten, es passiert nichts Schreckliches.
In einem anderen Interview, das er der BBC im Januar 2014 gab, also kurz vor der Eröffnung der Spiele in Sotschi, betont er die Großzügigkeit der russischen Regierung, die im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ihre Homosexuellen am Leben lässt:
Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass sich in Russland niemand wegen seiner nicht-traditionellen Orientierung vor Gericht verantworten muss, im Unterschied zu mehr als zwei Dritteln der Staaten der Welt. In 70 Ländern der Welt wird man wegen Homosexualität vor Gericht gestellt. In 7 Ländern wird dafür die Todesstrafe verhängt. (…) Bei uns müssen sich Menschen mit nicht-traditioneller Orientierung nicht als Menschen zweiter Klasse fühlen, denn sie werden in keiner Weise diskriminiert.
Inzwischen ist auch diese scheinheilig-gönnerhafte Pose Vergangenheit, alles „Nicht-Traditionelle“ ist Teufelswerk. In seiner in jeder Hinsicht erschreckenden Rede bei der offiziellen Aufnahme der vier annektierten „Volksrepubliken“ in die Russische Föderation im September 2022 sprach Putin davon, dass im Westen schon Grundschulkindern alle möglichen Perversionen aufgezwungen und Glauben und traditionelle Werte ausgelöscht würden. Das sei eine „auf den Kopf gestellte Religion“ und „offener Satanismus“.
„Unsere Werte“, sagte er am Schluss dieser Rede, „sind Menschlichkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl.“