RUSSLAND HEUTE
Die „Militärische Spezialoperation“ im Schulbuch
Anfang dieses Jahres wurde es bereits angekündigt, nun ist das neue einheitliche Geschichtsbuch zur Geschichte Russlands ab 1945 letzte Woche offiziell vorgestellt worden. Ab dem 1. September soll es landesweit im Geschichtsunterricht der 11. Klasse eingesetzt werden. Es wurde mit Spannung erwartet, da auch ein Kapitel zum Ukrainekrieg – der im Buch nur als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird – enthalten ist. Wie nicht anders zu erwarten, wird der Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt, als Präventivschlag, um Schlimmeres zu verhindern. Das Buch ist zum jetzigen Zeitpunkt im Handel noch nicht erhältlich, wurde aber den eingeladenen Medienvertretern zur Besprechung zur Verfügung gestellt.
Im Folgenden ein leicht gekürzter Artikel aus der Moskauer Tageszeitung „Wedomosti“, in dem das letzte Kapitel des Lehrbuchs referiert wird. Die wörtlichen Zitate aus dem Buch sind vollständig.
Einige aufschlussreiche Infos zu den Verfassern des Lehrbuchs habe ich nach dem übersetzten Text angefügt.

Ab September 2023 wird man den Oberstufenschülern erklären, warum die Spezialoperation begonnen wurde
Die „Wedomosti“ hat sich mit dem Kapitel des einheitlichen Geschichtsbuches über den Konflikt in der Ukraine vertraut gemacht
Ab September 2023 wird Geschichte in der Oberstufe nach einem einheitlichen Lehrbuch unterrichtet, dessen Autoren der Präsidentenberater Wladimir Medinski und der Rektor des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) Anatoli Torkunow sind. Das Lehrbuch „Geschichte Russlands“ für Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse informiert über die Zeit von 1945 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Auf dem Umschlag des Buchs sind Mitarbeiter der Weltraumfahrt und die Krimbrücke abgebildet. Das letzte Kapitel ist den Ereignissen gewidmet, die zum Konflikt in der Ukraine und zur Spezialoperation führten. Die „Wedomosti“ hat sich dieses Kapitel, das „Russland heute. Die militärische Spezialoperation“ heißt, genauer angesehen.
Es gibt 17 Abschnitte in diesem Kapitel:
- Die Beziehungen zum Westen Anfang des 21. Jahrhunderts
- Der Druck auf Russland vonseiten der USA
- Der Widerstand gegen die Strategie des Westens gegenüber Russland
- Die Fälschung der Geschichte
- Die Wiedergeburt des Nazismus
- Der ukrainische Neonazismus
- Der Umsturz in der Ukraine 2014
- Die Rückkehr der Krim
- Das Schicksal des Donbass
- Die Minsker Vereinbarungen. Was war das?
- Die Zuspitzung der Situation
- Die militärische Spezialoperation
- Die Konfrontation mit dem Westen
- Die neuen Gebiete
- Die Ukraine – ein neonazistischer Staat
- Die militärische Spezialoperation und die russische Gesellschaft
- Russland – Land der Helden
Im Abschnitt „Die Minsker Vereinbarungen. Was war das?“ heißt es, dass „nach einer Reihe militärischer Niederlagen (Schlacht von Ilowaisk im August 2014) Kiew sich zu Verhandlungen bereit erklärte“ und zunächst die Minsker Vereinbarungen 1 und anschließend die Minsker Vereinbarungen 2 unterzeichnete. „Damals konnte man sich nicht annähernd vorstellen, dass das Streben der Regierungen der größten europäischen Staaten nach Frieden in der Ukraine nur eine Maske war. Was die Kiewer Machthaber betrifft, so interessierte sie das Schicksal der Bewohner des Donbass nicht. In geheimer Absprache mit der NATO führten sie die Teilnehmer am ‚Minsker Prozess‘ einfach an der Nase herum. Letztendlich wurde nur ein Punkt der Vereinbarungen teilweise umgesetzt – eine Feuerpause. Aber auch sie wird von der Ukraine ständig verletzt.“
Es wird darauf hingewiesen, dass die Regierugen Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine „in zynischer Weise einräumten, dass sie die Minsker Vereinbarungen von Anfang an nur als diplomatische Finte betrachtet hätten“, das reale Ziel aber gewesen sei, „der Ukraine die Möglichkeit zu geben, ihre Armee zu vergrößern und zu stärken“.
Im Abschnitt „Die Rückkehr der Krim“ heißt es, dass der Frieden auf der Krim nur durch die Stationierung eines Teils der russischen Schwarzmeerflotte und durch die Kräfte der Spezialoperation gerettet wurde. „Die ‚höflichen Leute‘, ein Spitzname, den die Ortsansässigen den russischen Soldaten gaben, sorgten für Ordnung und Sicherheit“, erklärt das Lehrbuch. Es habe zahlreiche Unterabteilungen der ukrainischen Armee und des ukrainischen Sicherheitsdienstes auf der Krim gegeben, die aber demoralisiert gewesen seien und sich geweigert hätten, die Befehle Kiews auszuführen.
Im Abschnitt „Das Schicksal des Donbass“ ist zu lesen: „Es gab im Donbass im Unterschied zur Krim kein russisches Militär, vielmehr fand dort ein Volksaufstand statt: Es formierte sich eine Freiwilligenbewegung zur Verteidigung des Heimatlandes, der sich Afghanistan-Veteranen, Polizisten, Lehrer und Bergleute anschlossen.“
Die Konfrontation Russlands mit dem Westen verschärfte sich, wie die Autoren des Schulbuchs schreiben, als Joe Biden in den USA an die Macht kam, die Führung der Ukraine wechselte, der Beschuss des Donbass sich intensivierte und es keine Fortschritte bei der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen mehr gab. Als Russland sich an die Regierung der USA und an die NATO mit dem Vorschlag wandte, eine neue Vereinbarung zu unterschreiben, die die Interessen Russlands berücksichtigte, „antwortete der Westen in höhnischer Form mit einer Absage“.
Weiter heißt es: Kiew „äußerte offen den Wunsch, sich mit Atomwaffen auszurüsten“ und „verankerte den Eintritt in die NATO als Staatsziel in der Verfassung der Ukraine. Die Rückgabe der Krim (in Übereinstimmung mit der Militärdoktrin der Ukraine) wurde durch Kiew zur Aufgabe Nr. 1 erklärt“, schreiben die Autoren. Wenn die Ukraine nach einem Beitritt zur NATO einen militärischen Konflikt auf der Krim oder im Donbass provozieren würde, dann, so heißt es, befände sich Russland gemäß den NATO-Statuten im Zustand des Krieges mit den Mitgliedern des Blocks – von den USA und England bis zu Deutschland und Frankreich.
„Das wäre dann womöglich das Ende der Zivilisation. Das konnte man nicht zulassen“, heißt es im Lehrbuch.
Im Abschnitt über die Spezialoperation schreiben die Verfasser, der russischen Regierung sei klar gewesen: „Eine Verzögerung der Hilfeleistung für den Donbass kann zur Wiederholung der Tragödie vom Juni 1941 führen. Damals überfielen die zur Offensive konzentrierten deutschen Truppen ohne Kriegserklärung und unter Missachtung des Nichtangriffspaktes die UdSSR. Russland hatte einfach nicht das Recht, eine Wiederholung dieser tragischen Ereignisse zuzulassen“, wird im Buch gesagt. (…)
Im Abschnitt „Die Konfrontation mit dem Westen“ liest man: „Der Westen überschüttete das ukrainische Regime mit Geld und Waffen“, und gegen Russland „wurden beispiellose Sanktionen eingeführt, wobei der Westen mit allen Mitteln versucht, die Wirtschaft Russlands zu zerstören“. Besonders wird unterstrichen, dass diese Sanktionen „absolut illegal“ seien. Auf ausländische Firmen in Russland werde Druck ausgeübt, und im Grunde gehe es „um eine ökonomische Blockade unseres Landes, verbunden mit einem direkten Diebstahl russischer Aktiva“.
Die im Westen eingefrorenen Aktiva Russlands werden hervorgehoben, und es wird angemerkt, man könne „den Gesamtschaden nicht abschätzen, aber möglicherweise gehe es um eine Trillion Dollar“. „Eine derart dreiste Räuberei wäre selbst Napoleon bei der Kontinentalsperre gegenüber England im Traum nicht eingefallen. Er führte Krieg mit dem Staat, aber er rührte nicht die Privatvermögen der Engländer an. Im Grunde genommen unterscheiden sich die Handlungen des Westens in nichts von der Plünderung unserer Museen durch die nazistischen Besatzer während des Großen Vaterländischen Krieges“, unterstreichen die Verfasser des Lehrbuchs.
Im Abschnitt über die Ukraine schreiben sie: „Heute wird jede abweichende Meinung in der Ukraine streng verfolgt, die Opposition ist verboten, und alles Russische wird als feindlich bezeichnet.“
Weiter wird von der „Dekommunisierung“ berichtet, davon, dass in der ukrainischen Armee „die in der ganzen Welt verbotene Symbolik der SS weit verbreitet“ sei. „Weit verbreitet sind auch die Losungen ‚An den Galgen mit Moskowien‘, ‚Schlag das Russenpack‘, ‚Tod den Moskowitern‘, ‚Ein toter Russe ist ein guter Russe‘.“
Im Abschnitt über die neuen Territorien heißt es: „Der Westen setzt darauf, dass der Krieg nur auf dem Schlachtfeld gewonnen werden kann“, „der Westen braucht die Niederlage Russlands“, deshalb seien Russland keine anderen Alternativen geblieben: Aus diesem Grund habe man die Teilmobilisierung ausgerufen und die Referenden „über die Zukunft des Landes“ in den Gebieten Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschje durchgeführt und anschließend die Verträge über ihren Anschluss an Russland unterzeichnet. „Buchstäblich in den ersten Tagen nach der Konstituierung der neuen russischen Gebiete begann Russland bereits mit ihrem Wiederaufbau“, heißt es im Lehrbuch.
Weiter schreiben die Autoren, dass die ukrainischen Streitkräfte die eigenen Bürger „als menschlichen Schutzschild“ benutzt hätten, indem sie „militärische Stellungen mitten in Wohnvierteln“ errichteten. „Eine solche barbarische Taktik auf eigenem Territorium wurde in der Geschichte bisher noch von keiner Armee weltweit angewendet“, unterstreicht das Lehrbuch.
Anschließend wird den Schülern aufgegeben, aus allem Beschriebenen Schlüsse zu ziehen, und sie werden ermahnt: „Wenn ihr heutzutage irgendeine Information über das, was in der Ukraine geschieht, zu Gesicht bekommt, dürft ihr nie vergessen – weltweit werden wie am Fließband ununterbrochen inszenierte Werbeclips, Filmschnipsel, gefakte Fotos und Videos produziert.“ Dann werden die Schüler aufgefordert, darüber nachzudenken, „weshalb, wozu und wofür“ und in wessen Interesse „populäre Blogger“ das alles veröffentlichen.
Das Kapitel endet mit dem Abschnitt „Russland – Land der Helden“. Dort gibt es kurze kommentierte Biographien von Teilnehmern der Spezialoperation. (…) „Ärzte, Lehrer, Beamte, Volontäre, Kriegskorrespondenten und natürlich unsere Soldaten – sie sind die echten, nicht erfundenen Helden unserer Zeit.“
Eine Karte mit den neuen Territorien, Fragen und Aufgaben zum Inhalt des Kapitels und Auszüge aus den Reden des Präsidenten sind ebenfalls enthalten. In einer Rubrik „Interessante Details“ erfährt man: „Im 17. Jahrhundert trat die Bevölkerung der künftigen ‚ukrainischen Länder‘ (Region Poltawa, Saproschje, Region Tschernigow) freiwillig dem russischen Staat bei als Teil eines einheitlichen Volkes.“ Und Bogdan Chmelnizki habe einen Vertrag mit Moskau als „Hetman des russischen Heeres“ unterschrieben.
Das Lehrbuch enthält QR-Codes, mit denen man die Reden des Präsidenten abrufen kann.
https://www.vedomosti.ru/society/articles/2023/07/19/985928-starsheklassnikam-budut-obyasnyat-pochemu-nachalas-voennaya-operatsiya
Putins Chefhistoriker: Wladimir Medinski
Wladimir Medinski (*1970), einer der beiden Autoren des Buches, mutmaßlich der einflussreichere, war von 2012 bis 2020 Kulturminister Russlands, er ist Mitglied von Putins Partei „Einiges Russland“, Vorsitzender der „Russischen Militärhistorischen Gesellschaft“ und gilt als „Chefhistoriker“ des Kreml. Tatsächlich ist er allerdings gar kein Historiker, er hat Journalistik und Politikwissenschaften am MGIMO, dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen, studiert. Medinski hat drei akademische Abschlüsse erworben, zwei in Politikwissenschaft, einen dritten mit einer historischen Arbeit zum Thema „Objektivitätsprobleme bei der Darstellung der Geschichte Russlands im 15. bis 17. Jahrhundert“. Darin ging es ihm vor allem darum, negative Berichte zeitgenössischer Russlandreisender aus dem Westen (wie z. B. Sigismund von Herberstein) als absichtliche Lügen mit dem Ziel, Russland herabzusetzen, anzuprangern. Schon in den beiden ersten Arbeiten wurden ihm zahlreiche Plagiate und Fehler nachgewiesen, ohne dass ihm aber der Doktortitel aberkannt worden wäre. Die letzte Arbeit wurde von russischen Historikern heftig kritisiert und als unwissenschaftlich bezeichnet.

2014 protestierten 226 italienische Hochschullehrer(innen) und Intellektuelle in einem offenen Brief gegen die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Universität Venedig an Medinski, allerdings ohne Erfolg. Medinski verzichtete daraufhin zwar auf eine Reise nach Italien, aber Silvia Burini, Vizerektorin der venezianischen Universität Ca‘ Foscari, brachte ihm die Urkunde persönlich nach Moskau. (Die Zusage von Finanzhilfen durch das russische Kulturministerium für ein Slavistikzentrum in Venedig dürfte dabei eine Rolle gespielt haben.) Auch russische Historikerinnen und Historiker schrieben nun einen empörten Brief, in dem es u. a. hieß, die akademische Ehrung einer so fragwürdigen Person werde den Ruf der Universität Venedig schädigen.
https://newrepublic.com/article/117896/vladimir-medinsky-russias-culture-minister-putin-toady
Aber das alles hatte keinerlei negative Auswirkungen auf Medinskis Karriere – Putin hält seine schützende Hand über ihn. Er schreibt weiterhin Bücher zur russischen Geschichte, hat sogar einen historischen Roman verfasst, der verfilmt wurde und im staatlichen Fernsehen lief. Auf YouTube hält er Vorlesungen zur Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert. Er spricht sich dafür aus, Denkmäler für Stalin zu errichten. Damit hatte er zwar noch keinen Erfolg, dafür konnte er aber ein Denkmal für Michail Kalaschnikow, den Erfinder des berühmten Maschinengewehrs, durchsetzen. Es wurde 2017 in Moskau aufgestellt, und bei der feierlichen Einweihung hielt Medinski eine Rede, in der er die Kalaschnikow ein „kulturelles Markenzeichen Russlands“ („культурный бренд России“) nannte.
https://lenta.ru/news/2017/09/19/kalash/

Der zweite Autor des Lehrbuchs, Anatoli Torkunow (*1950), ist, wie im Artikel erwähnt, Rektor des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, an dem Medinski studiert hat. Als Experte für russische Geschichte ist Torkunow bisher nicht hervorgetreten. Er hat Orientalistik studiert, sein Spezialgebiet ist Korea, darüber hat er auch promoviert und zahlreiche Arbeiten veröffentlicht. In jungen Jahren war er laut russischer Wikipedia auch mal kurze Zeit (1971 – 1972) im diplomatischen Dienst in Pjöngjang tätig.
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