Seit etwa Herbst letzten Jahres verbreitet sich in ganz Russland, in Großstädten wie in der Provinz, eine patriotische Bewegung besonderer Art. Die Teilnehmerinnen – es sind fast nur Frauen, selten auch mal ältere Männer jenseits des wehrfähigen Alters – treffen sich in kleinen Gruppen privat oder in öffentlichen Räumen und stellen in langwieriger Handarbeit Tarnnetze für die russischen Soldaten in der Ukraine her. Wenn man die vielen Artikel in der überregionalen und regionalen Presse liest, gewinnt man den Eindruck, dass mit den Do-It-Yourself-Netzen inzwischen schon die ganze Ukraine und halb Russland bedeckt werden könnten.
Hier Ausschnitte aus einem von unzähligen Berichten zum Thema, über eine Freiwilligengruppe aus Woronesch.
Die Armee der Barmherzigkeit hat ein weibliches Gesicht
Ehefrauen, Mütter, Töchter, Schwestern bilden die unsichtbaren Bataillone der Spezialoperation und sind die unermüdlichen Helferinnen der Soldaten an der Front. Für die Kämpfer nähen und stricken sie, backen Piroggen und gießen Kerzen für die Schützengräben. Eine vielgestaltige Freiwilligenbewegung hat das ganze Land erfasst. Heute wollen wir von den Handwerkerinnen aus Woronesch erzählen, die Tarnnetze knüpfen.
Auf den ersten Blick sieht es einfach aus. Als Grundlage dient ein Fischernetz oder ein Sportnetz – das kann man kaufen oder selber machen. Man teilt es in zwei mal drei Meter große Abschnitte oder in 40 mal 60 Quadrate mit einer Seitenlänge von je fünf Zentimetern. Dieses Netz legt man über ein Gestell, entweder ein eigens dafür gefertigtes aus Holz (ähnlich einer Staffelei), oder man nimmt einfach einen niedrigen Schrank, einen alten Fernseher, einen Zaun – ganz nach Belieben.
Foto: Komsomolskaja Prawda
Als Material verwendet man synthetischen Stoff, der ist leicht und trocknet schnell. Geeignet sind zum Beispiel in Streifen geschnittene alte weiße Tüllgardinen oder Kleiderfutter. Keine intensiven Farben wie Blau, Rot, Rosa, auch keine Tupfen, Blümchen oder Flitter. Nur Naturtöne, zwecks hundertprozentiger Verschmelzung mit der Umgebung.
Den Stoff schneidet man auf Rechtecke von 5 mal 13 Zentimetern zu. Am oberen Rand schneidet man einen Schlitz hinein und befestigt die rechteckigen Streifen dann an den Quadraten des Netzes, indem man das längere Ende durch den Schlitz zieht. Diese Technik heißt „Krawatten knüpfen“.
Eine der Knüpferinnen aus Woronesch namens Irina erklärt, warum diese Netze so dringend benötigt werden:
„Wozu man das braucht? Die buntscheckigen Zeltbahnen aus Stofflappen sind nicht nur eine Tarnung für Fahrzeuge, Ausrüstung und militärische Stellungen. Sie sind auch ein physischer Schutz gegen Granaten und den selbstgemachten Sprengstoff, den die Drohnen des Gegners abwerfen: Man zieht das Netz wie einen Teppich beispielsweise über einen Schützengraben, und es wird zum Abwehrschild gegen die Splitter. Natürlich explodiert die Granate. Aber ÜBER dem Schützengraben und nicht in ihm, vor den Füßen der Soldaten. Und die Splitter fängt das Netz ab. Das erzählen die Soldaten selbst.“
Irinas Kollegin Jelena beeilt sich, den eventuell aufkommenden Verdacht, das russische Verteidigungsministerium tue nicht genug für seine Soldaten, zu zerstreuen:
„Man darf aber nicht denken, dass unsere Armee schlecht ausgerüstet ist und das Verteidigungsministerium zu wenig Tarnnetze hätte“, warnt Jelena. „Das stimmt nicht. Natürlich sorgt man für die Soldaten. Aber Tarnnetze sind wie Verbandsstoff in den Hospitälern Verschleißmaterial. (…) Netze werden nicht gewaschen und nicht geflickt. Dafür haben die Soldaten gar keine Zeit: Sie haben andere Aufgaben.“
Wegen der Größe der Netze – von zwei mal vier bis zu sechs mal neun Metern – und der sperrigen Gestelle ist in Privatwohnungen meist nicht genügend Platz, aber verschiedene öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Büchereien, Kirchengemeinden usw. stellen den nötigen Raum kostenlos zur Verfügung. In einigen Orten verlegten die Knüpferinnen ihre Tätigkeit auch ins Freie, auf Kinderspielplätze und Innenhöfe (nicht immer zur Freude der Anwohner). Natalija berichtet weiter:
„Wir fühlten uns anfangs mehr so wie eine Art Untergrund, arbeiteten unbemerkt. Es gibt ja die unterschiedlichsten Menschen: Womöglich hätten sonst plötzlich Gerüchte aufkommen können, dass man unsere Jungs dort schlecht ausrüstet. Erst als Wladimir Putin in einer seiner Reden den freiwilligen Helfern dankte, traten wir sozusagen aus dem Dunkel ins Licht.
Die Netze werden durch Vertrauensleute in die Zone der militärischen Spezialoperation gebracht. Zum Beispiel durch andere Freiwillige – solche, die humanitäre Hilfsmittel dorthin transportieren. Oder mit der Ärztekolonne, die in die Hospitäler geschickt wird. Einige Kommandanten geben persönlich konkrete Bestellungen durch eine Telegram-Gruppe auf: Wir brauchen so und so viele Netze mit diesen oder jenen Maßen in der Farbe ’schmutziger Winter‘, so und so viele in der Farbe ’schmutziger Herbst‘. Die Soldaten holen sie dann selbst aus unseren Werkstätten ab. Anschließend bekommen wir ein Foto als Beweis, dass das Netz angekommen ist und seine zweckgemäße Verwendung findet. (…) Die Farbe ‚Winter‘ bedeutet viel Weiß mit schwarzen Einsprengseln. ‚Herbst‘ sind rote Flecken mit kupferfarbenen Schattierungen und ein bisschen Grün. ‚Sommer‘ ist ein sattes dunkles Grün. Wir knüpfen vorwiegend zwei mal drei Meter. Die Kämpfer können sie zusammenbinden, wenn sie ein größeres Stück benötigen – um zum Beispiel einen Panzer zu tarnen.
Wichtig ist – betonen Sie das! -, dass wir unsere Tarnnetze NICHT verkaufen. Wenn jemand Netze zum Verkauf anbietet, hat das mit unserer Freiwilligenbewegung nichts zu tun. Alle nötigen Materialien – die Schnüre für die Netze, den Stoff, die Farben – kaufen wir für unser eigenes oder gespendetes Geld. Oder bekommen sie geschenkt.“
Ein industriell gefertigtes Tarnnetz kostet 2500 bis 3000 Rubel, der Selbstkostenpreis für ein handgefertigtes Netz beträgt 700 bis 800 Rubel.
Manche Gruppen sind nicht auf eine Tätigkeit spezialisiert. Die Bewegung „Ptitschki DMD“ aus Domodedowo bei Moskau zum Beispiel teilt auf ihrer Website mit:
Unsere Freiwilligen fertigen in Handarbeit folgende Dinge an: Tarnnetze, Tragen, Anzüge, Sturmhauben und Mützen aus Vlies, gestrickte Socken, Mullbinden, getrocknete Früchte und Beeren.
Screenshot von der „VKontakte“-Seite der „Ptitschki“
Der Name „Ptitschki“ bedeutet „Vögelchen“, die Buchstaben „DMD“ stehen nicht nur für „Domodedowo“, sondern auch für „Vertrauen, Barmherzigkeit, Tat“ („Доверие – милосердие – дело“).
Fast ebenso verbreitet wie das Knüpfen von Tarnnetzen ist die Herstellung von Kerzen für die Schützengräben. Dafür braucht man weder viel Platz noch muss besonderes Werkzeug oder Material beschafft werden. Man nimmt alte Konservendosen, spült sie aus, schneidet Karton oder Wellpappe in Streifen und steckt die Streifen zusammengerollt in die Blechdosen. Dann wird ein Docht eingesetzt, Paraffin erhitzt, bis es flüssig wird, und in die Zwischenräume gegossen. Zum Schluss klebt man noch ein Etikett mit einem Herzchen oder einer Aufschrift auf die fertige Dosenkerze („Wir lassen unsere Jungs nicht im Stich“, „Wärme von unseren Herzen“ u. ä.). Das kann jedes Kind – und deshalb wird das auch oft in Schulen praktiziert. Die Kerzen sollen in der kalten Jahreszeit in den Schützengräben wärmen, angeblich brennen sie bis zu acht Stunden.
Screenshot von „Rossija 1 – Tambow“ (russisches Fernsehen)
Kriegsentscheidend wird das alles eher nicht sein. Aber es fördert vermutlich den Patriotismus, das Gefühl, wir müssen alle zusammenstehen, um unser Vaterland zu verteidigen (auch wenn das gar nicht angegriffen wird), wir machen uns nützlich und müssen nicht untätig abwarten. Und wer derart beschäftigt ist, kommt nicht auf dumme Gedanken. Es ist schon auffällig, wie oft im Interview betont wird, dass das Verteidigungsministerium selbstverständlich genug für die Soldaten tue.
Übrigens sind diese Freiwilligenbewegungen keineswegs nur in Russland verbreitet – auf der anderen, der ukrainischen Seite gibt es sie auch. Auf diesem Foto sitzen ukrainische Jugendliche aus Krywyj Rih zusammen und basteln genau die gleichen Schützengrabenkerzen, mit blaugelben Herzen und fast identischen Aufschriften, nur hier auf Ukrainisch.
Quelle: https://one.kr.ua/ru/news/43392
Zum Schluss noch ein Link zu einem Artikel in deutscher Sprache aus der „Moskauer Deutschen Zeitung“ mit der Überschrift „Im Netz der Freiwilligen“. Nur in Moskau, heißt es dort, gibt es schon rund 40 Gruppen von Knüpferinnen.