RUSSLAND HISTORISCH

Quelle: Wikipedia / Public Domain

Das war 1953 die „Frau des Jahres“, die gerade als zukünftige Königin von England proklamierte Elizabeth Windsor, „eine neue Blüte auf einem robusten Stiel“, wie es in der Bildunterschrift heißt. Ihren Namen musste man nicht dazu schreiben, jeder wusste, wer es war.

Es ist ein typisches Cover aus einer Zeit, in der man keine Fotos verwendete, sondern Maler beauftragte, die das Titelbild gestalteten. Die detailreichen, farbenprächtigen Titelbilder des „Time Magazine“ aus diesen Jahrzehnten sind mittlerweile zu begehrten Sammelobjekten geworden. Der berühmteste Künstler, der ein „Time“-Cover geschaffen hat, war Andy Warhol mit einem Michael-Jackson-Porträt 1984, als diese Art von Titelbildern eigentlich schon aus der Mode war.

In der rechten unteren Ecke des Bildes – man braucht schon fast eine Lupe, um die Buchstaben zu entziffern – findet man den Namen des Malers: Boris Chaliapin.

Chaliapin? Schaljapin!

Ja, es ist der Sohn des berühmten Sängers Fjodor Schaljapin. Boris war das dritte seiner insgesamt neun Kinder. Die Mutter, Schaljapins erste Frau, war eine italienische Tänzerin namens Iola Tornaghi, die 1896 mit ihrer Balletttruppe in Nischni Nowgorod gastiert und dort den noch ganz jungen, unbekannten Fjodor Schaljapin kennengelernt hatte. Die beiden heirateten 1898 und bekamen sechs Kinder. 1904 wurde Boris geboren. Hier sieht man ihn auf dem Arm seines Vaters in Moskau 1912.

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Ausbildung und erste Ausstellungen

Boris studierte nach der Schule Kunst in Petersburg und Moskau und ging 1925 nach Paris, wo der Vater für ihn ein Atelier in Montmartre kaufte. In den 1920er Jahren war Fjodor Schaljapin ein weltberühmter Bassist, der an allen großen Opernbühnen der Welt auftrat, an der New Yorker Met ebenso wie an der Mailänder Scala oder der Pariser Oper. Sein Name öffnete dem Sohn natürlich viele Türen, und der Vater half ihm nach Kräften. Eine erste Ausstellung von zehn seiner Bilder fand im Foyer des Londoner Covent-Garden-Opernhauses statt, wo Fjodor Schaljapin gerade ein Gastspiel gab. Auch später organisierte der Vater regelmäßig solche „begleitenden“ Ausstellungen seines Sohnes.

Boris Chaliapin mit seinem Vater vor einem von ihm gemalten Porträt, 1923

Nicht dass Boris das nötig gehabt hätte – er war ein eigenständiger, begabter Künstler, der sich vor allem auf Porträtmalerei spezialisierte. Viele der von ihm Porträtierten kamen aus der Welt der Musik und Kunst: Rachmaninow, Toscanini, Prokofjew, Strawinski, die Primaballerinen Galina Ulanowa und Maja Plissezkaja, die Dichterin Marina Zwetajewa. Den eigenen Vater hat er mehrmals gemalt. Oben sieht man ein Bild aus den 1920er Jahren, das Ölgemälde unten ist 1934 entstanden. Dort schaut uns ein schon etwas älterer Fjodor Schaljapin (61 Jahre, vier Jahre vor seinem Tod) ein wenig skeptisch und nachdenklich an, in ungewohnt ruhiger, in sich gekehrter Haltung. Andere Bilder und Skulpturen (Schaljapin ist oft und von vielen verschiedenen Künstlern porträtiert worden) zeigen den hünenhaften (1,95 m) Sänger meist mit weit ausladender „Mir-gehört-die-Welt“-Gestik, immer scheint er, ob er nun steht, sitzt oder liegt, viel mehr Raum einzunehmen als andere Menschen.

1934 lebte Fjodor Schaljapin schon seit Jahren dauerhaft im Ausland, mit der Sowjetmacht hatte er sich nicht wirklich anfreunden können. Die Sowjets nahmen ihm das übel und erkannten ihm den bereits verliehenen Titel des Verdienten Volkskünstlers wieder ab und untersagten ihm auch die Rückkehr und Wiedereinreise.

Exil und Erfolg in den USA

Auch sein Sohn Boris blieb im Westen. Zunächst lebte er in Paris, 1935 ging er mit Ehefrau Helen und Töchterchen Irina in die USA und baute sich dort bald eine neue, sehr erfolgreiche Karriere auf. 1939 wurde nämlich das „Time Magazine“ auf den Künstler aufmerksam und holte ihn als Illustrator für seine Titelbilder ins Team.

Von 1939 bis 1972 malte er über 400 Cover und verdiente sich so den Ehrentitel „Mr. Time“. In fotorealistischer Präzision und dennoch mit individueller Note porträtierte er viele Politikerinnen und Politiker, Prominente aus der Welt des Films, der Kunst, der Musik und Literatur, typischerweise mit charakterisierenden Details im Hintergrund. Hier sieht man zum Beispiel Ingmar Bergman, hinter ihm einen schwedischen Kiefernwald und Gestalten aus seinen Filmen. Das Cover darunter zeigt Chaliapins Landsmann, den Anfang der 1960er enorm populären Dichter Jewgeni Jewtuschenko; die vorfrühlingshafte Landschaft und der singende Dompfaff sollen wohl das politische Tauwetter in der Sowjetunion symbolisieren.

Oft hing es sehr kurzfristig von der aktuellen politischen Lage ab, wer aufs Cover kam. Das bedeutete, dass Chaliapin unter Zeitdruck malen musste und ihm die zu Porträtierenden auch nicht persönlich Modell saßen, sondern dass er nach Fotos arbeitete. Einmal stellte er in wenigen Tagen gleich zwei Cover fertig – nämlich beide Kandidaten für das Amt des japanischen Premierministers vor einem ungewissen Wahlausgang.

Die ABC’s des „Time Magazine“

Es gab damals noch einen zweiten Russen, auch einen Boris, der für „Time“ Titelbilder in ähnlichem Stil malte: Boris Arzybaschew (oder in der amerikanischen Schreibweise Artzybasheff). Wie Chaliapin war auch er der Sohn eines seinerzeit berühmten, inzwischen allerdings gründlich vergessenen Vaters. Michail Arzybaschew war Anfang des 20. Jahrhunderts einige Jahre lang ein vielgelesener Autor von damals als skandalös geltenden Gesellschaftsromanen. Der Sohn, der auch als Buchillustrator eigenwillige, surrealistisch anmutende Grafiken schuf, war letztlich der erfolgreichere Künstler.

Arzybaschew, Chaliapin und als dritter im Bunde der Amerikaner Ernest Hamlin Baker waren beim „Time Magazine“ die ABC’s (Arzybaschew, Baker, Chaliapin), die zusammen fast tausend Cover gemalt haben.

Hier noch drei weitere von den vielen „Time“-Titelbildern Chaliapins und eins (Adenauer) von Arzybaschew: Königin Wilhelmina 1946, Andrej Schdanow 1946, Charles de Gaulle 1963 und Konrad Adenauer 1954.

Besuch in der UdSSR

Ende der 1950er Jahre konnte Boris Chaliapin zum ersten Mal nach fast vierzig Jahren seine Heimat besuchen – das politische Tauwetter unter Chruschtschow hatte es möglich gemacht. Seine Mutter, die italienische Ballerina und erste Ehefrau Fjodor Schaljapins, wohnte damals noch immer in Moskau. Er half ihr, nach Italien umzusiedeln, wo sein jüngerer Bruder Fjodor, ein Filmschauspieler, lebte (Fjodor Schaljapin jr. spielte mit über achtzig in „Der Name der Rose“ neben Sean Connery den blinden Mönch Jorge de Burgos).

In der Sowjetunion wurde Boris Chaliapin sehr herzlich und mit allen Ehren empfangen, und in der Folgezeit wurden mehrere Ausstellungen seiner Bilder organisiert.

Auf diesem Foto des „Life“-Magazins steht er als offensichtlich gut gelaunter Tourist mitten in Moskau, mit umgehängtem Fotoapparat und eingehakt bei seiner Ehefrau Helen. Im Hintergrund ist das Bolschoi-Theater zu sehen.

Er nutzte seinen Aufenthalt in der Sowjetunion auch, um sich dafür einzusetzen, dass das prächtige Moskauer Haus, das sein Vater 1910 erworben und in dem er bis zu seiner Emigration gewohnt hatte, erhalten blieb und zu einem Museum umgewandelt wurde. Er selbst stiftete eine Reihe eigener Bilder dafür. Auf diesem Foto sieht man links ein Selbstporträt, in der Mitte ein Bild seiner Schwester, und das größere Olgemälde rechts stellt seine Frau dar.

Die Eröffnung des Museums 1988 erlebte er leider nicht mehr – er starb 1979 und wurde in New York, seiner zweiten Heimat, beerdigt.

Zum Schluss noch zwei Bilder, die in ihrer Gegensätzlichkeit veranschaulichen, wie groß die Spannbreite seines Schaffens war und wie flexibel er sich auf unterschiedlichste Anforderungen einstellen konnte: zuerst ein Porträt von Sergej Rachmaninow aus dem Jahr 1929 – und dann eine Werbeanzeige für eine elektrische Schreibmaschine der Firma Remington von 1952.

Quellen, Links, Anmerkungen

Außer bei Wikipedia habe ich viele Informationen und Bilder zu Boris Chaliapin hier: https://artrz.ru/menu/1804660060/1804787378.html und hier: https://dzen.ru/a/YYLF8R1ow2ju0otY gefunden.

Über die Kinder Fjodor Schaljapins hat Radio Svoboda 2015 ein interessantes Feature gesendet, mit alten Radiomitschnitten und Tonaufzeichnungen von Interviews mit den Kindern selbst und mit anderen Zeitzeugen. Man kann die Sendung noch nachhören oder das Transkript lesen: https://www.svoboda.org/a/26921911.html

Man erfährt hier viele wenig bekannte, manchmal kuriose Details aus dem Leben dieser Familie – zum Beispiel, dass Marina, die Halbschwester von Boris, für ihre außergewöhnliche Schönheit bewundert und 1931 in Paris von den dort ansässigen Russen zur „Miss Russland“ in der Emigration gewählt wurde.

Alte Ausgaben des „Time Magazine“ mit Chaliapins Titelbildern kann man oft noch günstig bei Ebay, Periodpaper oder Heritage Auctions ersteigern. Originalgemälde tauchen nicht selten bei den großen Auktionshäusern wie Sotheby’s auf.

Rund 40 Originalgemälde, die den Titelbildern zugrundelagen, hat das „Time Magazine“ der Smithsonian Institution für ihre National Portrait Gallery in Washington geschenkt. Auf deren Website kann man sie sich ansehen: https://npg.si.edu/search/collections?edan_q=boris%20chaliapin

2013 gab es eine Sonderausstellung dieser Bilder in der National Portrait Gallery.