RUSSLAND HEUTE

Überschwemmung von Nowa Kachowka

„Kaskowa Dibrowa“ steht auf Ukrainisch auf diesem Tor, das bedeutet „Märchenhafter Eichenwald“. Das mit Schnitzereien verzierte Eingangstor führte in einen Vergnügungspark für Kinder mit einem kleinen Zoo in der Stadt Nowa Kachowka. Am 6. Juni sind Park und Zoo in den Fluten des gebrochenen Kachowka-Staudamms untergegangen.

Nowa Kachowka, eine kleine Stadt am Dnipro, liegt im russisch besetzten Gebiet der Region Cherson. Es ist eine junge Stadt, erst Mitte der 1950er Jahre zusammen mit dem gleichnamigen Wasserkraftwerk gebaut. Unmittelbar am Flussufer wurde damals ein großer Park mit vielen seltenen Bäumen und Sträuchern angelegt – der Faldsinski-Park, benannt nach seinem Schöpfer, dem Landschaftsarchitekten Sergej Faldsinski.

Karte: Google Maps

In den 1990er Jahren schuf dann der Unternehmer und Bildhauer Michail Nawrozki (gestorben 2018) auf dem mittlerweile ziemlich heruntergekommenen Gelände einen Märchen- und Skulpturenpark für Kinder. In einem Interview mit dem russischen Exilsender „Radio Svoboda“ erinnert sich seine Witwe Jelena:

Dieser Ort ist einzigartig, weil es dort eine Vielzahl von natürlichen Quellen gibt, die im Winter wie im Sommer eine gleichbleibende Temperatur haben. Es ist ein sehr malerischer Ort. Überhaupt ist Nowa Kachowka eine Perle der Region Cherson, eine Gartenstadt, sie wird auch Stadt der tausend Quellen genannt. Michail hat damals zinslose Kredite bekommen und 1992 angefangen, den „Märchenwald“ aufzubauen. Ursprünglich befand sich hier ein verwahrloster Park, eigentlich nur noch eine Müllhalde. Mit LKWs hat er den ganzen Abfall abtransportieren lassen. Dort saßen damals die Obdachlosen an den Quellen und tranken Eau de Cologne. Er hat alles wieder in Ordnung gebracht. Anfangs gab es im Park nur seine Holzskulpturen.

Das waren rund 150 von Nawrozki geschnitzte Märchenfiguren wie der gestiefelte Kater und lustige Tiere. Bald kamen Karussells, Springbrunnen, Teiche, eine Wassermühle und ein Restaurant mit ukrainischen Spezialitäten hinzu – und vor allem viele Tiere, manche in Gehegen und Käfigen, manche freilaufend und -schwimmend. Auf dem Gelände fanden regelmäßig Veranstaltungen für Kinder, Familien und Schulklassen statt.

Die Hauptattraktion waren die Tiere, die die Kinder nicht nur anschauen, sondern auch füttern, streicheln oder auf ihnen reiten durften. Es waren mehr als 300: Waschbären, Schildkröten, Esel, Ziegen, Schafe, Ponys, Chinchillas, Flughörnchen, Pfauen, viele Enten und Schwäne.

Gleich zu Beginn des Krieges im Februar 2022 wurde Nowa Kachowka und das Wasserkraftwerk von den Russen besetzt. Die Situation für die Tiere wurde mit der Zeit unerträglich, wie Jelena Nawrozkaja berichtet:

Der Park befindet sich ganz in der Nähe des Kraftwerks, nur zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Vormittags gegen 11 sahen wir, wie die russische Militärtechnik sich Richtung Nowa Kachowka bewegte: ganze Kolonnen waren es, am Himmel begleitet von Flugzeugen und Hubschraubern. Um 12 Uhr mittags hatten sie schon ihre Fahne am Kraftwerk gehisst und am Eingang zum Märchenwald einen Panzer aufgestellt. (…)

Rund um den Staudamm fanden ununterbrochene Kämpfe statt – ein ständiges Krachen und Schießen. Splitter regneten herab. Die Tiere hatten furchtbare Angst.

Jelena Nawrozkaja wandte sich immer wieder an die russische Verwaltung mit der Bitte, die Tiere herauszuholen und an einen sicheren Ort zu bringen.

Der Haken war wieder der, eine Erlaubnis für den Abtransport der Tiere zu bekommen, denn inzwischen war der Park komplett vermint worden. Sie hatten sogar die Wege mit Baumstämmen verbarrikadiert und Schützengräben ausgehoben.

Am 6. Juni 2023, als der Staudamm brach, wurde Jelena am frühen Morgen von einer Mitarbeiterin des Zoos angerufen:

Sie schluchzte immerfort und konnte gar nicht aufhören. Sie sagte mir: Sie haben den Staudamm gesprengt, der ganze Park ist überschwemmt. Sie schickte mir ein Video, das sich dann durchs ganze Internet verbreitete. (…)

Um sechs Uhr morgens stand das Wasser im Märchenwald schon bis zum Dach des Restaurants, es schwappte auf den benachbarten Sportplatz. Auf dem Gelände trieben Gebäudeteile und tote Tiere, und das Wasser stieg immer noch.

Am folgenden Tag kehrte die Mitarbeiterin in den Park zurück, in der Hoffnung, einige überlebende Tiere zu finden. Aber nur den Enten und Schwänen war es gelungen, sich zu retten (darunter auch ein fünf Tage altes Schwanenküken). Am Leben geblieben sind auch einige wärmeliebende Tiere (ca. 60), die eine Angestellte des Zoos schon zu Beginn des Winters mit zu sich nach Hause genommen hatte, weil es im Zoo keine Beleuchtung und keine Heizung mehr gab.

Screenshot von der Facebook-Seite des Zoos mit überlebenden Tieren

Der russische Bürgermeister der Stadt behauptete, alle Tiere (ungefähr 300) seien schon im November 2022 aus dem Park evakuiert worden. Die russische Propaganda behauptete ebenfalls, das habe auch der Direktor des Safariparks „Taigan“ auf der Krim, Oleg Subkow, erklärt. Aber Subkow selbst sagt in einem Video auf seinem Youtube-Kanal, man habe Tiere aus der „Station der jungen Naturforscher“ in Kachowka herausbringen können. Nowa Kachowka und Kachowka sind aber zwei verschiedene Orte. (…)

Jetzt befinden sich im Zoo zweihundert oder mehr tote Tiere – durch Wasser und Hitze werden sie schnell verwesen, das alles geht in die Quellen und von dort in den Dnjepr und ins Schwarze Meer. Auch die Stadt selbst bezieht ja ihr Trinkwasser aus diesen Quellen. Ich habe geschrieben und gebeten, die Körper der Tiere herauszuholen, aber ich weiß natürlich, dass die Minen vom Wasser hochgespült wurden und jetzt irgendwo herumliegen. Es gibt Freiwillige, die bereit sind, in den Zoo zu gehen und die toten Tiere einzusammeln.

Wir können die Tiere nicht einmal begraben, und die sagen, sie hätten alle evakuiert. Kommt doch her und schaut, was hier los ist. Nicht alle Tiere sind weggeschwemmt worden – einige waren ja in Käfigen, und genau da liegen jetzt auch ihre Leichen.

https://www.svoboda.org/a/mesto-gde-zhila-skazka-istoriya-zooparka-v-novoy-kahovke/32455730.html

Die russischen Medien reagierten sehr empfindlich auf diese Berichte. Gleich mehrere große Zeitungen beeilten sich, gegen die Nachricht von dem überschwemmten Zoo und den ertrunkenen Tieren zu protestieren und sie als ukrainische Propaganda und Fake News zu bezeichnen.

Hier einige Absätze aus einem Artikel des Nachrichtenportals MK.Ru:

Will man auf die Tränendrüsen drücken, muss man nur das bittere Schicksal von Kindern oder Tieren schildern. Das wirkt garantiert: Die Leiden dieser schutzlosen Geschöpfe lassen niemanden kalt, der zurechnungsfähig ist. In den ukrainischen Massenmedien, die sich darauf verstehen, ihre Bürger psychologisch zu beeinflussen, weiß man das nur zu gut. Deswegen wurde die Geschichte des Mini-Zoos „Kaskowa Dibrowa“ nach der durch einen Sabotageakt am Wasserkraftwerk Nowa Kachowka verursachten Überschwemmung natürlich zum Hit im ukrainischen Informationsraum. „300 Tiere kamen ums Leben“, schrieben die ukrainischen Zeitungen. „Es gab dort gar keine Tiere“, widerspricht die lokale Verwaltung. (…)

Nachdem wir uns die Tränen abgewischt haben, wollen wir herausfinden, was wirklich geschehen ist. Und da wird es interessant. Auf der Website des „Familienparks“ ist zu lesen, dass es nur 150 Tiere in dem Mini-Zoo gab. Und mehr als die Hälfte von ihnen waren Tiere, die schwimmen können: Enten, Schwäne, Gänse, Nutrias, Schildkröten. Nutrias, die ertrinken – das grenzt an Irrwitz. Ja, es gab dort auch Schlappohrkaninchen, ein Pony, einen Esel, Waschbären und sogar exotische Nasenbären. Und fast alle wurden im letzten Dezember in den Safaripark „Taigan“ auf die Krim evakuiert. Damals befand sich Nowa Kachowka unter Dauerbeschuss. (…)

Noch eine Seltsamkeit: In dem Mitleid heischenden Video, in dem eine Mitarbeiterin des Zoos das überschwemmte Territorium zeigt, watet sie durch knöchelhohes Wasser. Pavillons, Zäune, Sträucher, Volieren – überflutet, aber begehbar. Ein Esel und Ziegen, die in einer gerade knöchelhohen Pfütze ertrunken sind?

https://www.mk.ru/incident/2023/06/07/vyyasnilas-sudba-pogibshikh-zhivotnykh-iz-novoy-kakhovki.html

Es gibt zwei Videos, das zum Schluss erwähnte Video ist wohl am Folgetag, als das Wasser wieder gesunken war, aufgenommen. Das erste kurze Video zeigt die Lage am frühen Morgen des Unglücks.

Die Zahl 150 ist auf der Website des Zoos übrigens nur einmal zu finden und bezieht sich nicht auf die Tiere, sondern auf die Holzskulpturen.

Da die Ursache für die Überschwemmung, der gebrochene Staudamm, von russischer Seite als ukrainischer Sabotageakt bezeichnet wird, ist eine Gegendarstellung eigentlich nicht nötig. Nach dieser Lesart sind die Ukrainer ja selbst schuld am Tod der Tiere. Aber in Kriegszeiten leidet nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Logik.

Bei Youtube gibt es einen kurzen (knapp fünf Minuten) Film über den Park, wie er mal ausgesehen hat: https://www.youtube.com/watch?v=utXze5su2EE

Zum Schluss noch einige Bilder des Parks aus vergangenen besseren Zeiten (alle Fotos stammen von der Facebook-Seite: https://tinyurl.com/mrx886ey).