RUSSLAND HEUTE
Unsere Väter kamen in Uniform aus der Armee zurück. Die Uniform hing jahrzehntelang im Schrank, und die Väter zogen sie nicht wieder an. Warum wurde sie aufbewahrt? Ein Geheimnis …
Wenn man als kleiner Junge die Uniformjacke plötzlich zwischen den anderen Sachen entdeckte, zog sich einem im Innern etwas zusammen, als hätte man einen Schatz gefunden. Man wusste sofort, dass das nicht einfach nur ein Kleidungsstück war. Die schwarzen Schulterklappen mit den Buchstaben „SA“ („Sowjetskaja Armija“, d. Ü.), die Litzen, die Abzeichen, die Mütze mit dem roten Stern. Alle meine Urgroßväter sind an der Front gefallen. Ich habe bei uns im Schrank keine mit Medaillen behängte Veteranenuniform gefunden, wie sie für die Einnahme europäischer Hauptstädte vergeben wurden, aber selbst die ganz gewöhnliche Armeejacke ließ mich erschauern.
Natürlich wollte ich sie sofort anziehen und mich im Spiegel bewundern … Viele Jahrzehnte lang vollzogen sowjetische Jungen, einem unbewussten Trieb gehorchend, dieses Ritual und führten so die militärische Tradition von Generationen fort. Der Dienst in der Armee und die Bereitschaft zu kämpfen waren lange Zeit der Wertmaßstab für einen vollwertigen Mann. Die väterliche Uniformjacke übertrug gleichsam diese Energie.
Das hat der Militärblogger Maxim Fomin geschrieben, bekannter unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski, der am 2. April 2023 in einer Petersburger Bar durch eine Bombe getötet wurde. Es handelt sich um einen Abschnitt aus seinem Buch „Wojna“ („Krieg“), den er selbst ausgewählt und auf seinem Telegram-Kanal veröffentlicht hat.
Was auf uns befremdlich und aus der Zeit gefallen wirkt – die Überhöhung von Krieg als heiligem Ritual, von Kriegsdienst als Maßstab für Männlichkeit usw. – , ist in Russland allgemeiner Konsens und wird intensiv propagiert.
Und für Wladlen Tatarski wurde der Krieg vor einigen Jahren nach einem bis dahin ziemlich verkorksten und ziellosen Leben offenbar zu dem alles verändernden Ereignis.
Vom Bankräuber zum Blogger und Buchautor
2011 war er wegen bewaffneten Bankraubs zu 8 Jahren Haft verurteilt worden, konnte in den Wirren der Kriegshandlungen im Donbass 2014 aus dem Gefängnis fliehen und schloss sich für mehrere Jahre der russischen Miliz in der Ukraine an. Nachdem ihm seine Haftstrafe von der russischen Justiz erlassen worden war, ging er 2019 nach Moskau und betätigte sich seitdem als Blogger und Buchautor. Bald hatte er auf seinen Social-Media-Kanälen jede Menge Anhänger(innen) gesammelt, die den Krieg gegen die Ukraine genauso glühend befürworteten wie er und sich nach Russlands verlorener imperialer Größe zurücksehnten.

Das ist das Titellogo seines Telegram-Kanals. Der Text um den Totenkopf herum bedeutet „Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Zeit. Amen.“ Unten heißt es: „Der Feind wird zerschlagen werden. Der Sieg wird unser sein. ALLEN ALLES LICHTE UND HELLE!“ Mehr als einer halben Million Abonnenten scheint das zu gefallen.
Er selbst schrieb über seine patriotische „Erweckung“:
Ich wurde im Donbass geboren und bin dort aufgewachsen.
Als die Ukraine unabhängig wurde, war ich 9 Jahre alt und hörte seitdem von meinem Vater, dass es einen Bürgerkrieg im Land geben werde. Meine ganze Kindheit bereitete ich mich auf diesen Krieg vor, aber er wollte einfach nicht beginnen. Die Prophezeiungen meines Vaters gerieten allmählich in Vergessenheit …
Den Russischen Frühling begrüßte ich, als ich mich in Haft befand. Gemäß Gerichtsurteil verbüßte ich eine Strafe wegen bewaffneten Überfalls auf eine Bank. Ich konnte mir nicht erlauben, die Strafe bis zum Schluss abzusitzen, während draußen MEIN KRIEG stattfand, und beschloss, an die Front zu gelangen, koste es, was es wolle. Ich floh mit einer Gruppe anderer Verurteilter und trat dem Freiwilligenkorps bei …
Seit 2020 führte er „seinen“ Krieg hauptsächlich im Internet. Zwei Telegram-Kanäle, ein Blog bei LiveJournal, eine Zeitlang auch noch ein Youtube-Kanal, drei in diesen Jahren von ihm verfasste, intensiv beworbene und vermarktete Bücher dürften ihm kaum Zeit gelassen haben, direkt am Kriegsgeschehen teilzunehmen. In russischen Medien wurde er als „Kriegskorrespondent“ bezeichnet, schaut man aber in seinen Telegram-Kanal, sieht man schnell, dass ein Großteil der Berichte und Videos aus der Ukraine mit „Forwarded from …“ beginnt, also von anderen Quellen übernommen wurde. Das allerdings mehrmals täglich, teils im Minutentakt. Die übernommenen wie auch seine eigenen Posts strotzen vor Hass und Gewaltverherrlichung. Regelmäßig veröffentlichte er Fotos von getöteten ukrainischen Soldaten, als seien es Jagdtrophäen.

Hier hält er seine drei Bücher in der Hand: „Beg“ („Lauf“), „Wojna“ („Krieg“) und „Meditazija“ („Meditation“). Sie handeln alle in irgendeiner Form – autobiographisch, fiktiv, publizistisch – vom Krieg. Auf einem eigens dafür gegründeten zweiten Telegram-Kanal und auf Werbereisen quer durch Russland präsentierte und verkaufte er sie.
Über seine neue Rolle als Blogger und Autor äußerte er sich so:
Viele stellen sich die Frage, wer ich bin, was ich bin. Weshalb bin ich plötzlich zum Militärexperten geworden? Ich selber halte mich gar nicht für einen solchen. So betitelt man mich im Fernsehen. Ich würde mich als Amateur-Analytiker bezeichnen. Seit meiner Kindheit habe ich mich für Militärgeschichte begeistert, für Krieg – deshalb ist der Krieg mein Thema.
Hier eine der „Analysen“ aus seinem Telegram-Kanal:
Schon seit zwei Tagen lässt Polen mir keine Ruhe …
Das Hauptziel des Krieges in der Ukraine ist, die Rzeczpospolita (also das Reich Polen-Litauen, das von 1569 bis 1795 existierte und durch die dritte polnische Teilung von der Landkarte verschwand – Anm. d. Ü.) wieder groß zu machen. Sobald das Kiewer Khanat endgültig schlapp gemacht hat, wird sich Polen den restlichen Teil der Ukraine holen, unbedingt mit Zugang zum Schwarzen Meer, und so den alten imperialen Plan der Polacken „von Meer zu Meer“ realisieren.
Kasachstan von Süden, die Türkei vom Schwarzen Meer und Polen von Westen werden Russland total blockieren. Um die Fußballsprache zu benutzen – das vom Krieg geschwächte Moskau verschwindet aus der Premier League, in der die USA, Großbritannien, China usw. spielen, und spielt nur noch in der ersten Liga mit Regionalmächten. Die USA setzt in diesem Spiel auf die Polen, weil sie disziplinierter und besser einschätzbar sind als die anarchischen Gockel. Die hat man den Ambitionen Moskaus und Warschaus geopfert.
Und über den Krieg gegen die „anarchischen Gockel“, die Ukrainer:
Der Heilige Krieg der Säuberung hat uns gezeigt, dass unsere Gesellschaft nur zwei Klassen kennt – die, die Russland lieben und die, die es hassen.
Die, die jeden Tag daran denken, wie man die Feinde tötet und die, die einen schmachvollen Frieden um jeden Preis wollen.
Die, die dem Donbass helfen und die, die das Leid kommerzialisieren und Gewinn daraus schlagen.
Dank meiner vielfältigen Lebenserfahrung weiß ich sofort, wer mit uns ist und wer nicht.
Nun hat ein in einer goldenen Büste versteckter Sprengsatz seinem Leben ein gewaltsames Ende gesetzt. Die Büste, die ihn selbst darstellte, wurde ihm von einer jungen Frau an einem „patriotischen Abend“ überreicht.
Nur einen Tag nach seinem Tod zeichnete Putin ihn mit dem Orden für Tapferkeit aus. Bei der Beerdigung am 8. April auf dem Friedhof Trojekurowo in Moskau war Putin zwar (erwartbar) nicht anwesend, dafür aber der Chef des Wagnerkorps, Jewgeni Prigoschin, der als letzten Gruß einen Vorschlaghammer – das Symbol für die grausamen Tötungsmethoden seiner Söldner – mit handschriftlicher Widmung vor dem Sarg des toten Bloggers niederlegte.

Quelle für die Zitate und die beiden ersten Fotos: https://t.me/s/vladlentatarsky
Nachtrag: Die junge Frau, die Tatarski die Büste überreichte, sagte vor Gericht aus, sie habe nichts von der Bombe gewusst, sondern geglaubt, in der Figur befinde sich ein Abhörgerät. Der Mittäter, der ihr die Büste gegeben hat, ist geflohen, die Frau wurde Anfang 2024 zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt.