RUSSLAND HEUTE

Jewgeni Prigoschins Söldnertruppe, bekannt unter dem Namen „Wagnerkorps“, war schon vor dem Ukraine-Krieg als brutaler Schlägertrupp berüchtigt; als Prigoschin seine private Einheit dann im letzten Jahr durch Strafgefangene aufstockte, hat sich dieser Ruf nicht verbessert. Viele von den Neuzugängen aus den Gefängnissen und Straflagern, an die Front gelockt durch hohe Löhne, Straferlass und andere Vergünstigungen, sind gefallen. Dass sie durch den Tod im Krieg zu „Helden“ erhoben und – wenn auch meist nur posthum – mit Orden geehrt werden, stößt vielen Menschen, die sie noch von früher kennen und wissen, dass es sich oft um Schwerstkriminelle handelt, übel auf.

Ein Mörder mit Tapferkeitsmedaille

In den letzten Monaten erschienen mehrere Artikel in regionalen Zeitungen, die sich kritisch mit diesem Thema beschäftigten. Die Online-Zeitung 161.ru für das Gebiet Rostow hat über einen solchen Fall ausführlich berichtet, und ihre Leserinnen und Leser haben mit vielen Kommentaren darauf reagiert. Hier die wichtigsten Abschnitte aus der Reportage und einige der Kommentare.

„Dieser Held hat seine Mutter und seine Schwester angezündet.“

Die Geschichte eines Wagner-Söldners vom Don, der posthum „für Tapferkeit“ ausgezeichnet wurde

An die Front kam er aus der Strafkolonie Rostow

Screenshot der Zeitungsseite mit dem Artikel, rechts im Bild das Grab von Roman Lasaruk

Von Roman Lasaruk weiß man genau, wo er sich die letzten acht Jahre aufhielt. 2014 setzte Lasaruk im Verlauf eines heftigen Streits seine Mutter und seine jüngere Schwester bei lebendigem Leibe in Brand und kam dafür in eine Strafkolonie mit verschärftem Regime. Aber die festgesetzten 17 Jahre saß er nicht ab – im September 2022 schloss er sich dem Söldnerkorps Wagner an, und im Dezember fiel er bei Bachmut. Posthum erhielt er die Tapferkeitsmedaille. Im Februar wurde er in einer Reihe mit Soldaten der Armee begraben. Irina Babitschewa, Korrespondentin von 161.ru, erzählt, wie die Beerdigung Lasaruks im Bergarbeiterstädtchen Donezk (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Millionenstadt in der Ostukraine, d. Ü.) im Gebiet Rostow aufgenommen wurde.

Verschiedene Friedhöfe

Über dem Grab des 32-jährigen Roman Lasaruk weht die russische Trikolore. Man hat Roman auf dem städtischen Zentralfriedhof begraben. An das Kreuz ist ein Foto geheftet: ein Mann in einem Sweatshirt, im Hintergrund Himmel und Wolken, in den Händen hält er einen Rosenkranz. Aber das Bild ist retuschiert – im Original hängen Gefängnisjacken hinter Lasaruk, und ein zweistöckiges Bett steht dort. Das Foto wurde bei einer seiner Haftstrafen gemacht. Drei davon gab es insgesamt.

Zum ersten Mal landete Roman gleich nach Beendigung der Schule im Knast: Er hatte das Haus eines Bekannten ausgeraubt, erinnern sich seine früheren Nachbarn. Zum zweiten Mal, weil er einen Saufkumpan zusammengeschlagen hatte. Zum dritten Mal kam er wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge für zwei Menschen ins Gefängnis. Diese zwei Menschen waren seine Mutter und seine jüngere Schwester.

Alewtina Wassiljewa und Marina Lasaruk wurden auf dem alten Friedhof begraben, den die Einheimischen den „Zwanziger“ nennen. Die Karten verzeichnen einen solchen Namen nicht. Dort ist es einfach der kleine Friedhof, der zum Häuserkomplex des Bergwerks „Sapadnaja“ gehört, wo die Familie wohnte.

„Aus dem Leben wurdest du in nur einem Augenblick gerissen, aber der Schmerz blieb für immer“, steht auf dem Grabmal für Marina. Das stimmt nicht ganz. Die junge Frau kämpfte neun Tage um ihr Leben. Die Mutter starb vier Tage früher im Krankenhaus.

Die Grabstätte von Alewtina Wassiljewa ist leer. Auf Marinas Grab liegen verblichene Plastikblumen, die Freunde und Nachbarn gebracht haben. Auf Romans Grab liegen frische Nelken und Kränze von Verwandten. Die russische Trikolore über dem Kreuz sieht genauso aus wie auf den Dutzenden Gräbern der Soldaten, die mit ihm in derselben Reihe liegen. Die Einheimischen nennen diesen Abschnitt des Friedhofs „Allee der Helden“.

(…)

Das Haus der Familie steht am Stadtrand von Donezk – nur acht Minuten Fahrt sind es bis zur Grenze mit der Volksrepublik Lugansk. Das einzige Fenster zur Straße ist mit Brettern verschalt. Die Mauern sind rissig, an manchen Stellen der Fassade haben sich Stücke von Beton abgelöst. Es gibt niemanden, der das ausbessern könnte: Seit 2014 ist das Haus unbewohnt.

Die Hausbesitzerin Alewtina Wassiljewa arbeitete im Bergwerk bei der Förderung von Steinkohle. Als ihr Mann an einem Herzanfall starb, wurde sie mit nur 33 Jahren Witwe und blieb mit zwei schulpflichtigen Kindern zurück. Roman und Marina besuchten die örtliche Schule Nr. 7.

Der Bergarbeiterlohn reichte nicht zum Leben. Deshalb ging Alewtina nach ihrer Schicht in ihren Garten, wo sie Gemüse anbaute, das sie dann einkochte. In ihrer Freizeit strickte sie Tops und Kleider. Alewtina und die Kinder schliefen in gebrauchten Betten, die sie von Freunden bekommen hatten.

Die Tochter Marina haben die Nachbarn als folgsames Mädchen in Erinnerung. Noch mit 22 Jahren kam sie bei Einbruch der Dunkelheit, oder wenn die Mutter sie rief, nach Hause. Nach Abschluss der Schule besuchte sie das Technikum.

Roman jedoch, so erzählen die Nachbarn, entwickelte sich zum Hooligan. Nach der zehnten Klasse machte er keine Ausbildung und keinen Abschluss und arbeitete auch nirgends. Tatjana Borsikowa, eine Nachbarin, hörte einmal, wie der 24-jährige Roman auf die Bitte der Mutter, sich eine Arbeit zu suchen, nur knurrte: „Arbeiten – bin ich bescheuert?“

Zum Wehrdienst wurde Lasaruk nicht mehr einberufen – da musste er nämlich schon wegen Diebstahls zwei Jahre ins Gefängnis. Roman war noch minderjährig. Im Urteil des städtischen Gerichts von Donezk heißt es, dass er seine Strafe bis August 2010 im Besserungslager der Nachbarstadt Swerewo absaß. Ein Jahr nach seiner Freilassung stand er schon wieder vor Gericht – wegen schwerer Körperverletzung. Er hatte einem Bekannten mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und als der zu Boden stürzte, ihm noch dreimal auf den Kopf getreten. Er wurde zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft in einer Strafkolonie mit verschärftem Regime verurteilt.

Nach seiner Entlassung kommt es dann am 26. November 2014 zu dem schrecklichen Ereignis. Im Streit ergreift der betrunkene Mann eine Plastikflasche, in der er Benzin für sein Motorrad aufbewahrte, und schüttet seiner Mutter die Flüssigkeit ins Gesicht und auf die Brust. Seiner Schwester, die ihn zurückhalten will, gießt er den Rest des Benzins über den Kopf. Einige Spritzer fallen auf den Herd und entzünden sich sofort, das Feuer greift auf die Frauen über. Mit schwersten Verbrennungen können sie noch nach draußen fliehen, bevor das kleine Haus in Flammen steht. Eine Nachbarin hört, wie jemand an ihr Fenster klopft:

Sie zog den Vorhang beiseite und prallte zurück. Die Hände der Klopfenden waren blutverschmiert.

„Ich habe Marina gar nicht erkannt. Sie war ganz schwarz. Es war ja Winter, aber sie hatte nichts an. Einen BH – ein Körbchen war noch da, das andere war verbrannt. Und sie lief hier herüber.“ Natalija Alexejenko deutet zur Haustür. „Ich mache nicht auf. Wer sind Sie?“ „Tante Natascha, ich bin es, Marina. Rufen Sie den Notarzt! Wir brennen.“ Dann drehte sie sich um und lief weg.

Aber die Ärzte können die Frauen nicht mehr retten, die Verbrennungen sind zu schwer. Die Mutter stirbt am 30. November, ohne vorher noch einmal zu Bewusstsein zu kommen, die Schwester kann noch eine Aussage machen, überlebt aber auch nicht.

Roman Lasaruk selber hat nur leichte Verbrennungen an den Händen. Im ersten Schock gibt er die Tat zu, später leugnet er und behauptet, seine Schwester habe versehentlich das Feuer ausgelöst, er sei gar nicht im Zimmer gewesen. Aber aufgrund der Indizien und der Aussage seiner Schwester wird er zu 17 Jahren Straflager verurteilt. Von dort meldet er sich im September 2022 zum Wagnerkorps und fällt schon nach wenigen Wochen in den Kämpfen um Bachmut.

Die Zeitung hat auch mit Marinas Freundin Darja und einem ihrer Studienkollegen gesprochen:

Die ehemaligen Nachbarn und Darja Lawrischtschewa kamen nicht zu Roman Lasaruks Begräbnis. Sie sind überzeugt, dass Roman sich vom Wagnerkorps nur deshalb hat anwerben lassen, um früher in Freiheit zu kommen.

„Als man dann was von einem gefallenen Helden schrieb und Mitgefühl äußerte, der arme Junge, hieß es – da packte mich eine solche Wut“, gibt Darja Lawrischtschewa zu. „Das ist doch empörend: Unschuldige Menschen sind einen so grausamen Tod gestorben und haben nur ein einfaches Begräbnis bekommen. Und der wird als Held begraben. Als in der Zeitung stand, Roman Lasaruk sei gefallen, habe ich einen Kommentar geschrieben: Euer Held hat seine eigene Mutter und seine Schwester angezündet. Einer fragte zurück: Wie das? Andere schrieben: Er ist ein Held, Sie begreifen das nicht. Jeder hat seine eigene Meinung dazu. Aber nicht jeder hat eine solche Tragödie erlebt.“

„Wir waren von klein auf daran gewöhnt: Die Allee des Ruhmes ist der Ort, wo die Helden des Großen Vaterländischen Krieges liegen, diejenigen, die Respekt verdienen“, sagt ein früherer Kommilitone Marinas. „Aber was hat dieser Lasaruk getan oder die anderen Typen? Sie haben getötet, gestohlen, abgestochen, vergewaltigt, kamen ins Gefängnis und wieder heraus, um weiter zu töten. Was sollen das für Helden sein?“

https://161.ru/text/world/2023/02/17/72066377/

Leserkommentare

Die Kommentare unter dem Artikel – weit über 200 gleich am ersten Tag – sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Nur einige wenige bemängeln fehlenden Respekt vor den Streitkräften.

  • Das Leben hat ein gerechtes Urteil gefällt.
  • Bei uns ist neulich auch so ein „Held“ angekarrt worden – er hatte eine Supermarktverkäuferin erschlagen, hätte noch zwei Jahre sitzen müssen (rund zehn hatte er schon abgebrummt), aber Gott sei Dank ist er nicht zurückgekommen.
  • Welche Heldentat hat der denn vollbracht, dass man ihn mit der Tapferkeitsmedaille belohnt hat?! Oder ist das wieder eine Geheiminformation?!
  • Wie weise und weitsichtig sind doch unser Unentfernbarer und sein Freund, der jüdische Koch. Wenn es nicht die Spezialoperation gäbe, würde niemand erfahren, wie viele Helden in unseren Gefängnissen sitzen.
  • Für den Mord an zwei Menschen hat er nur 17 Jahre bekommen, was soll man sagen, unsere Regierung ist sehr gnädig gegenüber solchen Leuten.
  • Aber er ist doch nur ein einfacher Mörder, nicht irgend so ein Student mit einem Plakat.
  • Das ist schon interessant. Absolut alle Fakten über die Spezialoperation sind in dieser Zeitung negativ dargestellt. Es gab hier nicht einen Artikel mit einem positiven Bild der Streitkräfte der Russischen Föderation. Nur negative. Das ist eine gezielte Diskreditierung der Spezialoperation und ihrer Teilnehmer.
  • Normale Menschen bringen andere Menschen nicht für Geld um. Deshalb, ganz unabhängig davon, ob diese Männer im Gefängnis waren oder nicht – der normale russische Mensch wird Söldner immer verabscheuen. Und man sollte sie nicht zusammen mit Freiwilligen und Soldaten begraben.
  • Was für ein interessanter Artikel. Erkennbar auf die Diskreditierung des Wagnerkorps gerichtet.
    Ich wüsste gern, wozu? Der Mann hat gekämpft. Er hat seine Schuld nicht einfach durch Absitzen seiner Strafe gebüßt, sondern indem er verteidigt hat, was manche Heimat nennen.
    Also wofür übergießt man ihn jetzt mit Schmutz? Sind solche Helden nicht genehm? Na gut, aber andere haben wir nicht. Entschuldigen Sie.

    https://161.ru/text/world/2023/02/17/72066377/comments/

Wie viele der ehemaligen Strafgefangenen bei der sogenannten Spezialoperation getötet wurden, ist nicht bekannt. Mit den überlebenden und nun begnadigten Rückkehrern gibt es auch wieder Probleme. Rund 5000 sind nach den vertraglich vereinbarten sechs Monaten Militärdienst mittlerweile wieder zurück in Russland, und es tauchen erste Berichte über neue Straftaten auf (vgl. zum Beispiel hier: https://www.kavkazr.com/a/retsidivy-pomilovannyh-naemnikov-novye-prestupleniya-vagnerovtsev-na-yuge-rossii/32412208.html).

Der „Merkur“ brachte Anfang April unter dem Titel „Russland fürchtet Wagner-Mörder mit Kriegstrauma“ einen aufschlussreichen Artikel zu diesem Thema: https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-wagner-gruppe-soeldner-haeftlinge-begnadigung-gefaengnis-rekrutierung-russland-zr-92199897.html