RUSSLAND HEUTE
Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Krieg, der nicht so heißen darf, sondern Spezialoperation genannt werden soll. Die Soldaten dieser Spezialoperation heißen in russischen Medien auch nur selten Soldaten, sondern meist Helden (герои), Kämpfer (бойцы) oder Krieger (воины); die der Gegenseite Terroristen, Ukronazis, Banderowzy und Schlimmeres. Die Helden, Kämpfer und Krieger werden mit Orden und Medaillen, mit Foto-Ausstellungen, Sonderbriefmarken und seit gut einem Jahr auch mit großformatigen Porträts auf Häuserfassaden geehrt, eine neue patriotische Kunstform, die schon in vielen Städten Russlands zu bewundern ist und in Zukunft noch weitere Verbreitung finden soll:
Der Abgeordnete Kolunow schlug vor, alle Städte Russlands mit „Murales“ der Helden der Spezialoperation zu schmücken
„Murales“ mit den Porträts der Helden der Spezialoperation in der Ukraine sollen Häuser in allen Städten Russlands schmücken, damit die Kinder sich an die Helden erinnern. Mit dieser Idee ist Sergej Kolunow, Mitglied des Ausschusses für Städtebauwesen in der Duma, an die Öffentlichkeit getreten.
„Auf diese Weise können wir den Verteidigern nicht nur unseren Respekt zollen, sondern auch der jungen Generation zeigen, was für Menschen das sind. Denn ein Kind nimmt eher bunte, farbenprächtige Bilder als lange Texte auf“, erklärte er.
https://aif.ru/society/deputat_kolunov_predlozhil_napisat_muraly_s_geroyami_svo_vo_vseh_gorodah_rf
Ein Erwachsener vermutlich auch, könnte man ergänzen.
Patriotische „Murales“
Der Begriff „Murales“, „Wandmalereien“, ist spanisch, der „Muralismo“ eine Kunstform, die im Mexiko der 1920er Jahre entstand: Bilder auf den Mauern und Fassaden von Häusern oder anderen Bauwerken im öffentlichen Raum, oft mit sozialkritischem, politischem Inhalt. Der bekannteste Vertreter des Muralismo war Diego Rivera, der der Kommunistischen Partei Mexikos angehörte und eine Zeitlang auch gute Beziehungen zur Sowjetunion pflegte.
Die patriotischen „Murales“, die in der Ukraine gefallene Soldaten darstellen, gibt es inzwischen in vielen russischen Städten: in Jekaterinburg, Perm, Irkutsk, Tscheljabinsk, Rostow, Woronesch und vielen anderen Orten. Manchmal sind gleich mehrere „Kämpfer“ auf einem Bild vereint, wie hier auf der Fassade eines mehrstöckigen Wohnhauses in Jelez, einer kleinen Stadt in Zentralrussland, 350 km südlich von Moskau.
Ein noch größeres Wandbild wurde schon im August 2022 an einem Wohnhaus in Perm im Ural angebracht. Es zeigt den Polizeileutnant Denis Sokolow, ein Mitglied der Sondereinheit OMON (wie der kleine Aufnäher auf seiner Tarnuniform verrät), links über ihm das Georgsband, einen nach dem Heiligen Georg benannten Orden, in Form des Z-Symbols. Der junge Mann ist, wie man der Regionalpresse entnehmen kann, schon am 25. Februar 2022 gefallen – gleich am zweiten Tag des Krieges.
In diesem Haus hat er gewohnt, und ganz in der Nähe der Siedlung verläuft eine Bahnlinie, sodass die Passagiere der vorbeifahrenden Züge auf sein Porträt blicken.

126 m² groß ist das Wandbild auf der Fassade des Hotels „Kolos“ („Ähre“) in Simferopol auf der Krim. Sergeant Waleri Tschernjakow starb durch eine Mine am 17. Juni 2022. „Hast du einmal begonnen, so siege!“ steht über dem Porträt.

Das nächste Wandbild stellt den Generalmajor Andrej Alexandrowitsch Suchowezki dar. Er war der erste Kommandeur der russischen Armee, der in der Ukraine gefallen ist – am 28. Februar 2022 bei Mariupol. Vor seinem Porträt haben sich Mitglieder der militärisch-patriotischen Jugendorganisation „Junarmija“ aufgestellt. Die „Junarmija“ wurde 2016 durch Verteidigungsminister Sergej Schoigu gegründet, mittlerweile gehören ihr 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 an.
Auf dem folgenden Foto sieht man die Einweihung eines ziemlich furchteinflößenden Wandbildes an der Fassade eines Kindergartens (!) in der Kleinstadt Welsk in Nordwestrussland, Gebiet Archangelsk. Die drei Mädchen rechts tragen die Uniformmützen der „Junarmija“, auf dem Bild selbst salutiert ein Mitglied dieser Organisation vor dem Helden der Spezialoperation.
Das nächste Porträt wurde im September 2022 in Nowosibirsk enthüllt. Es zeigt Iwan Romanow, Hauptmann einer Spezialeinheit (offenbar Fallschirmjäger), „gefallen bei der Spezialoperation in der Ukraine, als er einem Kameraden zu Hilfe kam“, wie es im Text unter seinem Namen heißt.
Die Zeremonie bei diesen Anlässen ist immer die gleiche: Ein Militärorchester spielt die Nationalhymne, es folgt eine Schweigeminute und im Anschluss daran Ansprachen, in denen der Gefallene und seine Leistungen gewürdigt werden.
Die „Spezialoperation“ in der Ukraine wird dabei mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“, also dem Zweiten Weltkrieg, verglichen.
Hier ein Zitat aus einer solchen Ansprache, gehalten bei der Einweihung des Porträts von Alexander Cholodow in Rostow am Don:
Wie der Vorsitzende des Komitees für Jugendpolitik der Don-Region sagte: „Die Armeeangehörigen, die an der militärischen Spezialoperation im Kampf mit dem Neonazismus in der Ukraine teilnehmen, stehen in einer Reihe mit unseren Großvätern, die sich in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges der braunen Pest entgegengestellt haben. Das Gedenken an die Helden zu bewahren, die tapfer unsere Heimat verteidigen, hatte in unserem Land immer eine besondere Bedeutung.“
https://donskieogni.ru/v-rostove-na-donu-pojavilsja-mural-v-chest-geroja-svo-aleksandra-holodova/

Die im Krieg gegen die Ukraine gefallenen Soldaten, so heißt es, hätten ihrer Heimat denselben Dienst erwiesen wie die Soldaten der Roten Armee, die gegen Hitler gekämpft haben. Wie ihre Großväter seien auch sie „im Kampf mit dem Faschismus“ gestorben.
In Noworossijsk, einer Stadt am Schwarzen Meer, die wegen ihres erbitterten Widerstandes gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg den Titel „Heldenstadt“ („город-герой“) erhielt, wurde letzten Monat ein Wandbild fertiggestellt, das diesen Bezug auch im Bild selbst demonstriert. Links ist der in der Ukraine gefallene Soldat abgebildet, rechts ein Offizier aus dem Zweiten Weltkrieg, ein „Held der Sowjetunion“. Der Text in der Mitte lautet: „Heldenstadt Noworossijsk / Wir haben damals gesiegt – wir werden auch jetzt siegen.“
Helden im Schulbuch
Diese Gleichsetzung von historisch völlig verschiedenen Geschehnissen zu Propagandazwecken ist inzwischen auch in dem einheitlichen Geschichtsbuch für die 11. Klasse (die Abschlussklasse) festgeschrieben worden. Seit dem 1. September 2023 ist das Buch für alle Schulen in Russland obligatorisch. Der „Spezialoperation“ ist ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem ein gutes Dutzend der neuen Helden mit Bild und Kurzbiographie vorgestellt werden.
Das Kapitel schließt mit dem Pathos eines Glaubensbekenntnisses:
Angehörige aller Völker unseres riesigen Landes kämpfen wie unsere Großväter und Urgroßväter Schulter an Schulter für das Gute und die Wahrheit. Sie sprengen sich mit dem Feind in die Luft, schleppen verwundete Kameraden unter feindlichem Beschuss in Sicherheit, kämpfen aus brennenden Panzern heraus, behalten bis zum letzten Atemzug das Kommando über die ihnen anvertraute Einheit, schützen ihre Leute aus der Luft.
Tapferkeit und die Bereitschaft, das Leben für die Heimat zu geben – das ist es, was in allen Zeiten den russischen, den sowjetischen, den russländischen Soldaten auszeichnete.
(…)
Aber eins ist offensichtlich. Was Russland immer besaß, besitzt und besitzen wird, sind Heldenmut, Würde, Ehre und die Treue unserer Soldaten und unserer Freiwilligen, der Ärzte, Lehrer, Bauarbeiter, Ehrenamtlichen, zu ihrem Eid.
Sie sind die echten, realen Helden unserer Zeit.
Sie sind mitten unter uns. Sie stehen beispielhaft für die Ehre, die Tapferkeit und den Glauben an unsere gerechte Sache. Ihre Namen, ihr alltägliches Heldentum vereinigen sich in den tausendjährigen Annalen der Geschichte Russlands mit den Taten von Millionen ihrer heldenhaften Vorgänger.
So war es immer in der Geschichte unserer Heimat. Und so wird es bleiben. Immer.
Nach diesen feierlichen Worten bekommen die Schülerinnen und Schüler, wie am Ende jedes Kapitels, ihre Aufgabe:
Nennt Beispiele für die Heldentaten der Teilnehmer an der Spezialoperation, analog zu den Heldentaten, die die sowjetischen Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg vollbracht haben.
Nachzulesen ist das im Schulbuch „Geschichte Russlands für die 11. Klasse, 1945 bis Anfang 20. Jahrhundert“ von Medinski/Torkunow, Moskau 2023, S.410 und S.415.
Das auch in Russland umstrittene Geschichtsbuch hat inzwischen schon einen eigenen ausführlichen, kritischen Artikel in der unabhängigen russischsprachigen Wikipedia. Am Ende des Artikels haben die Verfasser(innen) das komplette Buch als pdf-Dokument zur Verfügung gestellt:
https://tinyurl.com/mr2hef55

Im Frühjahr 2021 tauchte übrigens auch Alexej Nawalny mal für kurze Zeit als Wandbild auf – mit zu einem Herz zusammengelegten Händen als „Held unserer Zeit“ auf einem Trafo-Häuschen im Zentrum von St. Petersburg. Er wurde aber, wie unten zu sehen, sehr schnell wieder übermalt.
