RUSSLAND HISTORISCH
Revolutionäre Abkürzungen
„Gwiuu! Gu-wuus! Glaw-bumm!“, heult und pfeift der Schneesturm in Boris Pilnjaks Roman „Das nackte Jahr“ über die russische Steppe. Der Sturm singt sein revolutionäres Lied in der neuen Sprache der Sowjets, einer Sprache mit vielen seltsamen Wörtern, wie sie noch niemand zuvor gehört hat: Gugobes, Gumsdor, Guptmasch … klingen wie die Namen gruseliger Kreaturen aus einem Fantasy-Roman – tatsächlich sind es aber nur Bezeichnungen für Verwaltungsbehörden (zur Bedeutung siehe die Liste am Ende dieses Beitrags).
Pilnjaks „Nacktes Jahr“ ist das Bürgerkriegs- und Hungerjahr 1919, und das darauffolgende Jahrzehnt ist eine in vieler Hinsicht denkwürdige und einmalige Epoche in der russischen Geschichte. Nicht zuletzt in der Sprache hinterlassen diese Jahre ihre Spuren.
Dazu gehört die ungewohnte Weise, die vielen neuen Einrichtungen des jungen Sowjetstaates (und auch manche alten, überkommenen) abzukürzen – nicht nur mit den Anfangsbuchstaben, wie bisher üblich, sondern auch mit aneinandergefügten Anfangssilben. Manchmal werden so viele zusammengeklebt, dass man gar nicht mehr von Abkürzungen sprechen kann: Rosglavmukomol, Goskultprosvetisdat.
Andere sind kürzer und griffiger und wachsen zu neuen Wörtern zusammen, deren ursprüngliche Herkunft man fast vergessen hat: der Kolchos zum Beispiel, entstanden aus „kollektiwnoe chosjajstwo“ („Kollektivwirtschaft“), der Komsomol, eigentlich „Kommunistitscheski sojus molodjoschi“ („Kommunistischer Jugendverband“). Inturist, der Name der Reiseagentur, bedeutet wörtlich „ausländischer Tourist“ („inostranny turist“).
Wegweiser durch den Silbendschungel
Die Kenntnis einiger besonders häufig vorkommender Silbenkürzel hilft, sich im Dschungel der Abkürzungen zurechtzufinden.
Glaw- kommt von glawny = Haupt-, Chef-; der glawbuch ist der Hauptbuchhalter, der glawred der Chefredakteur. Glawlit war ab 1922 die Hauptverwaltung für die Angelegenheiten von Literatur und Verlagswesen (= die Zensurbehörde).
Sam- (mit stimmhaftem s) bedeutet samestitel, Stellvertreter; wenn der glawred der Chefredakteur ist, so heißt sein Stellvertreter folgerichtig samglavreda (das „a“ am Ende ist die Genitivendung: Stellvertreter des Chefs). Wenn man weiß, um wen es geht, sagt man einfach nur sam.
Kom- steht a) für kommunistisch und wird in dieser Bedeutung zunehmend seltener (wer spricht heute noch von der Komintern?), b) für Komitee und c) für Kommandeur.
Gos- bedeutet staatlich, gosudarstwenny, Gor– städtisch, von gorodskoj. Und Mos- und Len- weisen darauf hin, dass hier etwas in Moskau oder Leningrad beheimatet ist bzw. war: Mosselprom, Lenisdat.
Ros- steht für rossijski, russländisch, staatlich. Rosstat ist die staatliche Statistikbehörde, Roskomnadsor die staatliche Aufsicht über die Medien, eine (gerade zurzeit) sehr mächtige Institution. Rosneft ist das Mineralölunternehmen (neft = Öl).
Min- ist die Abkürzung für Ministerium. Das Minfin ist das Finanzministerium, das Minkult das Kultusministerium, das Minjust das Justizministerium. Zwischen 1948 und 1954 gab es ein Ministerium für die Holz- und Papierindustrie mit dem eindrucksvollen Namen Minlesbumprom.
-prom als letzte Silbe bedeutet Industrie, promyschlennost; bei uns am bekanntesten durch Gazprom, aber schon viel früher, seit den 1920er Jahren, sehr häufig. So war zum Beispiel Narkompischtscheprom das Volkskommissariat für die Lebensmittelindustrie. Auf diesen beiden nostalgischen Plakaten aus den 1930er Jahren wirbt besagtes Volkskommissariat für seinen Kuchen („Keks“) zum Tee und für verschiedene alkoholische und nichtalkoholische Getränke.

„Glawchleb“ und „Glawpiwo“, die Wörter, die jeweils rechts oben unter „Narkompischtscheprom SSSR“ stehen, sind übrigens auch solche Abkürzungen und bedeuten „Hauptverwaltung der Brotbäckerindustrie“ bzw. „Hauptverwaltung der Bierbrauerindustrie“.
Spott und Kritik
Besonders in der ersten Zeit vermehrten sich diese Abkürzungen rasant und wurden rasch zur Zielscheibe von Spott und Satire. Das Puschkin-Denkmal am Twerskoj-Boulevard in Moskau, ein beliebter Treffpunkt, wurde im Volksmund als „pampusch na Twerbule“ (pamjatnik Puschkinu na Twerskom Bulware) verballhornt.
Keine Satire, sondern Realität: Ein Lehrer hieß neuerdings „Schularbeiter“, „schkolny rabotnik“, oder zusammengezogen „schkrab“. Nicht jedem gefiel dieses neue Wort. Anatoli Lunatscharski, von 1917 bis 1929 Volkskommissar für Bildung, las Lenin einmal am Telefon ein Telegramm vor, in dem es um die schwierige Situation der Lehrerschaft in der Provinz ging. Er berichtet in seinen Erinnerungen:
Das Telegramm begann so: „Die Schkraben leiden Hunger.“
„Wer? Wer?“, fragte Lenin.
„Die Schkraben“, erwiderte ich. „Das ist eine neue Bezeichnung für Schularbeiter.“
Mit größtem Unwillen antwortete er mir: „Und ich dachte, es geht um irgendwelche Krabben in irgendeinem Aquarium. Was für eine Gemeinheit, einen Lehrer mit einem so abstoßenden Wort zu bezeichnen! Volkslehrer ist sein Ehrenname, den muss er auch behalten dürfen.“
Die „Schkraben“ haben sich letztlich ebenso wenig durchgesetzt wie „pischmasch“ für die Schreibmaschine („pischuschtschaja maschinka“) oder „lekpom“ für den Arzthelfer im Feld („lekarski pomoschtschnik“).
Orwells „Newspeak“ …
George Orwell hat in „1984“ diese Art von Kürzeln als ein Element in die neue Sprache seines fiktiven Staates Ozeanien aufgenommen. Das Ministerium für Wahrheit heißt im Neusprech Miniwahr (Minitrue), die Abteilung, in der Winston Smith arbeitet, ist das Recdep (Records Department), die Lehre des Englischen Sozialismus Engsoz (Ingsoc). In einem Anhang zu seinem Roman erläutert Orwell die Prinzipien von „Newspeak“ und schreibt speziell zu diesen Silbenkürzeln:
Schon in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts waren ineinander geschobene Wörter und Phrasen ein Charakteristikum des politischen Diskurses gewesen; und es war offenbar, dass die Neigung, derartige Abkürzungen zu verwenden, in totalitären Ländern und totalitären Organisationen besonders ausgeprägt war. Beispiele hierfür waren Wörter wie Nazi, Gestapo, Komintern, Inprekorr, Agitprop. Anfangs war dieses Verfahren gewissermaßen instinktiv übernommen worden, aber auf Neusprech bediente man sich dessen mit einer ganz bewussten Zielsetzung. Man hatte erkannt, dass durch solche Abkürzungen das Bedeutungsspektrum eines Namens verengt und unmerklich verändert wurde, indem man die meisten Assoziationen, die andernfalls damit verbunden gewesen wären, abtrennte. Zum Beispiel beschwor der Begriff „Kommunistische Internationale“ ein Bildkompositum aus universaler Menschenverbrüderung, roten Fahnen, Barrikaden, Karl Marx und Pariser Kommune herauf. Das Wort „Komintern“ hingegen ließ lediglich an eine straffe Organisation und einen scharf umrissenen Korpus von Doktrinen denken. (…) Desgleichen weckt ein Wort wie „Miniwahr“ viel weniger und weitaus besser kontrollierbare Assoziationen als „Ministerium der Wahrheit“. Das führte nicht nur zur Gepflogenheit, abzukürzen, was immer möglich war, sondern auch zur fast übertriebenen Sorgfalt, die man darauf verwandte, jedes Wort leicht artikulierbar zu machen.
… und seine sowjetische Variante
Dieser von Orwell beschriebene psychologische Effekt war von den Bolschewiki aber nicht geplant, sondern ein zufälliges Nebenresultat der Bestrebungen, auch sprachlich der neuen Epoche einen eigenen Stempel aufzudrücken. Man gab sich auch keinerlei Mühe, unpassende Assoziationen zu vermeiden. „Rab“ steht in Abkürzungen für „rabotschij“, „Arbeiter“, bedeutet aber auch „Sklave“; „raj“ bedeutet „Rayon“, „Gebiet“ in Abkürzungen, als Einzelwort aber „Paradies“. Und eine übertriebene Sorgfalt, die Neuwörter „leicht artikulierbar“ zu machen, ist ganz sicher nicht festzustellen – auch für zungenfertige Russ(inn)en ist „istrawiotrjad“ oder das Wortungetüm „Nischkrajkartofelplodoowoschtschsojus“, siehe das historische Foto, eine Herausforderung.

Kaum „Neusprech“ in Deutschland
Im Deutschen gibt es vergleichsweise wenige Silbenabkürzungen, und wenn, dann fast nur harmlose, leicht auszusprechende Wörter mit zwei, maximal drei Silben – die Kita, der Azubi, der Schiri, die Kripo und die Soko. Schupo und Vopo sind mittlerweile historisch, ebenso glücklicherweise die Stasi. Manchmal sind es umgangssprachliche Wörter (meine Schwimu) oder Berufsjargon (Sozpäd für Sozialpädagoge/in).
In den rebellischen Jahren 1968ff. gab es an den westdeutschen Unis mal einige Neuwörter, die ähnlich frech und respektlos klangen wie die der Bolschewiki: Rotzang und Rotzrom waren die Rote Zelle Anglistik respektive die Rote Zelle Romanistik; oder Philfak für die Philosophische Fakultät. Und die Professorinnen und Professoren sind seitdem dauerhaft zu „Profs“ verkürzt worden.
Und zum Schluss noch die im ersten Absatz versprochene Liste von sowjetischen Behörden und ihren Abkürzungen:
Glawbum – Hauptverwaltung der Papierindustrie
Goskultprosvetisdat – Staatsverlag für kulturell-bildende Literatur
Gugobes – Hauptverwaltung der Staatssicherheit
Gumsdor – Hauptverwaltung der Brückenstraßen
Guptmasch – Hauptverwaltung der militärischen Lehranstalten
Gwiu – Hauptverwaltung des militärischen Ingenieurswesen
Istrawiotrjad – Kampfflugzeugabteilung
Lenisdat – Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlag des Leningrader Sowjet
Mosselprom – Moskauer Trust für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte
Nischkrajkartofelplodoowoschtschsojus – Unterbezirksverein für Kartoffeln, Obst und Gemüse
Rosglavmukomol – Hauptverwaltung der mehlverarbeitenden Industrie der RSFSR
Quellen, Links, Anmerkungen
Wer sich noch mehr in die wunderbare Welt der sowjetrussischen Kurzwörter vertiefen möchte, findet hier eine erschöpfende Aufstellung aller in der UdSSR von der Revolution bis 1954 gebräuchlichen Abkürzungen:
https://vtoraya-literatura.com/pdf/spisok_russkikh_sokrasheny_primenyaemykh_v_sssr_1954__ocr.pdf
Es handelt sich um eine vom „Institut für Geschichte und Kultur der UdSSR“ in München herausgegebene Schrift (dieses Institut wurde 1950 von russischen Emigranten gegründet und existierte bis 1972).
Die von Lunatscharski erzählte Anekdote ist zitiert und übersetzt nach: Kornej Tschukowski, Schiwoj kak schisn (Lebendig wie das Leben – gemeint ist die russische Sprache), Moskau 1982, S,116f.
Die Stelle aus dem Anhang zu „1984“ ist zitiert nach: George Orwell, 1984, München 2021, S.407f., übersetzt von Gisbert Haefs.