RUSSLAND HEUTE

Einberufungsgesetze – und wie man ihnen entkommt

Bild: iditelesom.org

Unmittelbar nach der von Putin angeordneten ersten Teilmobilisierung im September 2022 haben im Ausland lebende Russinnen und Russen ein Internet-Projekt ins Leben gerufen, das dabei hilft, dem Wehrdienst zu entkommen. Es heißt „Idite lesom / Go by the Forest“, wörtlich also „Geht durch den Wald“, umgangssprachlich bedeutet das im Russischen etwa „Macht euch vom Acker“. Nach der Verschärfung der Einberufungsregeln im April 2023 dürfte es wohl einen neuen Ansturm auf diese Seite geben.

Die jetzt beschlossenen und ab August gültigen Regeln sehen vor, dass schon die elektronische Zustellung des Einberufungsbescheids über das staatliche Serviceportal „Gosuslugi“ rechtswirksam ist. (Einige Reaktionen darauf kann man in der zweiten Hälfte dieses Beitrags lesen.) Mit einem Account bei „Gosuslugi“ (= Gosudarstvennye uslugi, Staatliche Dienste) kann man fast alles bequem online erledigen, vom Antrag auf Beihilfen bis zum Arzttermin und zur Urlaubsbuchung, daher sind weitaus die meisten der russischen Staatsbürgerinnen und -bürger dort registriert, 126 Millionen von insgesamt rund 140 Millionen.

Gegründet hat „Go by the Forest“ Grigori Swerdlin, der früher eine NGO für Obdachlose in Sankt Petersburg geleitet und im März 2022 Russland verlassen hat. Er lebt jetzt in Tbilissi. So hat er gegenüber Radio Liberty sein Unternehmen beschrieben:

Für mich ist das zum Teil ein Wohltätigkeitsprojekt, zum Teil ziviler Widerstand, es ist meine Methode, unserem verbrecherischen Staat Paroli zu bieten und das Ende des Krieges wenigstens ein klein bisschen näher zu bringen. Ich habe einen Aufruf im Internet gestartet, und innerhalb von fünf Tagen hatten wir eine vollwertige Organisation – rund 300 Freiwillige, eischließlich Psychologen und Juristen, eine fertige IT-Struktur, ein Design, eigene soziale Kanäle – noch nie habe ich ein solches Echo erlebt.

https://www.severreal.org/a/kto-pomogaet-rossiyanam-bezhat-ot-voyny/32253996.html

Die anderen Mitarbeiter(innen) sind über die halbe Welt verstreut, der Pressesprecher Iwan Tschuwiljajew zum Beispiel arbeitet von Barcelona aus. Tschuwiljajew gab letzten September der russischen Sektion von Radio France Internationale (das ist der Auslandsdienst des französischen Hörfunks) ein längeres Interview über die Arbeit und Ziele der Organisation, hier einige Auszüge daraus.

RFI: Wann hat Ihre Hilfsorganisation ihre Arbeit begonnen? Und wie arbeitet sie?

Iwan Tschuwiljajew: Ein Team von Freiwilligen hat sich sehr schnell gefunden. Schon am 28. September war unsere Kernmannschaft beisammen. (…)

Unser Freiwilligenteam arbeitet nicht in Russland. Wir nehmen prinzipiell keine Leute, die in der Russischen Föderation leben, um sie selbst und auch das ganze Projekt nicht in Gefahr zu bringen. Vorwiegend handelt es sich bei uns um Psychologen und Juristen, Leute mit Erfahrung und Kenntnissen.

Es funktioniert so: Die Menschen schreiben ihre Fragen an unseren Bot, im Bot sitzen die freiwilligen Mitarbeiter, die ihnen antworten und juristische und psychologische Hilfe leisten. Aber wir beraten nicht nur, wir helfen auch bei der Lösung konkreter Probleme. Von der Reise ins Ausland bis zum Kauf von Tickets, wenn die Mittel fehlen. Wir können helfen, über die Grenze zu kommen und erklären, wie man das macht.

Im äußersten Fall, wenn man uns direkt aus dem Militärkommissariat schreibt oder von der Ausbildung oder sogar von der Front, helfen wir dabei, sich in Gefangenschaft zu begeben. Wenn man jemanden schon in die Sümpfe von Lugansk geschickt hat, sagen wir ihm, wo sich der nächste Übergabepunkt befindet, was man tun muss, wohin man gehen und was man sagen muss. Unsere Tätigkeit ist völlig legal, wir stellen einfach die nötigen Informationen zur Verfügung.

Bild: iditelesom.org

Wie viele Rekruten haben sich schon an Sie gewandt und welche Fälle konnten Sie lösen?

In den ersten vier Tagen kamen mehr als 2000 Anfragen. Und das sind die Zahlen von vor einer Woche, seitdem hat sich der Strom nicht verringert, im Gegenteil, auf drei Tage kommen rund 2000 Fragen. Das bedeutet nicht, dass wir schon 2000 Fälle gelöst haben. Oft wollen die Leute nur die Verbindung überprüfen und stellen Fragen in der Art von „Ich habe nicht gedient, habe keinen Militärausweis, kann man mich einberufen?“ Unser Mitarbeiter antwortet rasch: „Nein, das kann man nicht, bleiben Sie zu Hause, halten Sie sich bedeckt, nehmen Sie keinen Bescheid an, schicken Sie jeden weg.“

Der 12. Oktober war für uns ein entscheidender Tag. Da haben wir zum ersten Mal jemanden direkt aus dem Militärkommissariat herausgeholt. In Moskau gab es an diesem Tag schlimme Razzien, allerdings nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal. Und in der Provinz nahm man sich später ein Beispiel an Moskau. Man ging in die Hostels, in die Wohnheime, an alle Orte, wo sich viele Menschen versammeln, inklusive der Metro, und nahm sie einfach mit. Das war die Polizei, nicht das Militär, und sie kassierten die Pässe ein. (…)

Im Roman-Viktjuk-Theater (das als Sammelstelle diente, Anm. d. Ü.) wartete schon die Nationalgarde, Gefangenentransporter standen bereit. Eine Chance zu fliehen gab es nicht. Die Männer werden durch einen Flur in einen fensterlosen Raum geführt, man gibt ihnen eine Nummer und beordert sie dann nach der Nummer, nicht nach dem Namen, ins Militärkommissariat. Dort wird gebrüllt, verrückt gespielt, psychischer Druck ausgeübt und manipuliert. Schließlich teilt man Uniformen aus, setzt die Leute in einen Bus und fährt sie nach Naro-Fominsk zur Ausbildung.

Erzählen Sie, wie Sie den Mann aus dieser Situation herausbekommen haben – wir möchten verstehen, was man tun muss.

Unser Schützling kam aus einem Hostel, wir haben ihn aus der Sammelstelle befreit. Er hatte uns sofort angerufen, und unsere Leute haben ihm erklärt, dass er nichts unterschreiben und keinen Einberufungsbescheid annehmen darf. Er hat eine Erklärung geschrieben, dass er sich weigert, an die Front zu gehen, dass er aus ideellen Gründen nicht dienen will und verlangt, wie es die Verfassung garantiert, die Front durch einen alternativen Dienst zu ersetzen. Zwei Stunden lang hat man ihn durch zwanzig Büros gejagt, immer höher und höher, er hat das zwanzigmal wiederholt, sehr ruhig. Letztendlich hat man ihm seinen Pass auf den Tisch geworfen und gesagt: „Zieh ab, wir haben die Schnauze voll von dir!“

Die Hauptsache ist, die Ruhe zu bewahren. Unser Klient hatte sich von den Drohungen einschüchtern lassen, dass man ihn für zehn Jahre einbuchten würde, Im Sinne von „wir haben hier Staatsanwälte und Polizei, von hier aus gehst du direkt ins Lager“. Er hat sich dann alles ruhig angehört, weil er durch uns wusste, dass niemand das Recht hat, ihn irgendwohin zu schicken. Gut war auch, dass er seinen Militärausweis nicht abgegeben hat. In diesem Fall muss man sagen – ich weiß nichts, ich erinnere mich nicht, habe ich vergessen, habe ich verloren.

Und das war ja ein Mann mit Erfahrung, er hatte vier Jahre gedient. Mit seiner militärischen Spezialausbildung hatte er eigentlich gar keine Chance sich zu drücken. Und trotzdem haben wir ihn rausgeholt. Das bedeutet, man kann jemanden sogar noch aus der Sammelstelle loseisen, man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Er hat einfach gesagt: „Ich habe schon gekämpft, und noch mal nehme ich keine Waffe mehr in die Hand.“

Wie steht es mit der Geographie Ihrer Klienten?

(…) Für mich ist es eminent wichtig, und darauf verwende ich alle Kraft, dass man im Nordkaukasus, in Jakutien, Burjatien, Tatarstan, Baschkortostan und anderen Gebieten von uns erfährt, Gebieten, in denen massenhaft mobilisiert wird. Für die kleinen Ethnien ist das einfach Genozid. Sie rufen an, ihnen fehlen die Worte, um diesen Schrecken zu beschreiben. (…)

Ein großes Problem gibt es im Nordkaukasus – dort herrscht ein riesiges Misstrauen gegenüber allen „russischen“ Kontakten. Nach dem, was zum Beispiel die Tschetschenen durchgemacht haben, beargwöhnen sie jeden beliebigen Kontakt zu Russen als eine Falle. Ich versuche, durch meine persönlichen Kanäle Verbindung aufzunehmen. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe von Tschetschenen, die um keinen Preis mit uns in Kontakt treten würde. Wir haben ihnen auf direktem Wege geholfen, das ist sehr schwierig.

Wie finanzieren Sie sich?

Wir sind ein Fonds. Unser Gründer Grigori Swerdlin hat viel Erfahrung mit Wohltätigkeitsfonds. In Russland kennen sich nur sehr wenige Leute damit aus, wie man Geldmittel einwirbt. Wir hatten am Anfang des Projekts einen Topf, einige Leute haben Lohn bekommen, wir konnten Fahrkarten kaufen und andere Hilfe leisten. Wir leben nur von Spenden, bekommen keinerlei Anweisungen von oben.

Wie hat sich Ihr eigenes Leben nach Bekanntgabe der Mobilmachung verändert?

Es hat sich nach dem Beginn des Krieges verändert. Und nicht nur meins. Ich war beim Film tätig, in der Welt des Schönen, Swerdlin hat Obdachlosen geholfen. Wenn der Krieg zu Ende ist, werde ich vielleicht wieder beim Film arbeiten und er mit den Obdachlosen. Aber bis dahin muss jeder helfen, Menschenleben zu retten.

Unser Hauptziel ist, die Mobilmachung zu stoppen. Dass kein Soldat mehr an die Front muss, keine Kugel mehr auf die Ukrainer geschossen wird. Dass das Ende des Krieges beschleunigt wird.

https://tinyurl.com/3az2ph5c

Leserumfrage zum neuen Gesetz

Die unabhängige Petersburger Internetzeitung „Bumaga“ hat im April 2023, nach Bekanntwerden der neuen verschärften Regelungen, ihre Leserinnen und Leser gefragt, ob sich durch die neue elektronische Mobilmachung für sie etwas verändert habe und welche Gefühle dieses Gesetz bei ihnen hervorrufe.

Hier einige der (anonymen) Antworten.

Ich bin 24, habe nicht gedient. Für mich ist das natürlich eine sehr schlechte Nachricht, jetzt wird es viel schwieriger, sich zu verstecken. Ich bin gerade dabei, mein Unternehmen an einen anderen Ort zu verlagern, aber im nächsten halben Jahr werde ich noch in Russland sein. Und vorausgesetzt, dieses Gesetz tritt in Kraft, und es gibt dann schon ein funktionierendes Registrierungssystem und ich bekomme einen Einberufungsbescheid, wird das meinen Umzug ganz erheblich komplizieren. Auf jeden Fall werde ich einen großen Bogen um das Militärkommissariat machen, nur ein Trottel lässt sich jetzt dort blicken, seien wir ehrlich.

Aber meine Lebenserfahrung in Russland sagt mir, dass ein solches System wahrscheinlich nicht sofort umgesetzt wird, eine Menge Geld wird man sich unter den Nagel reißen. Ich glaube, wir haben noch bis zum Herbst Zeit, im besten Fall bis 2024, um rauszukommen. Schlimmstenfalls muss man eben durch die Steppe, um rauszukommen.

* * *

Ich bin 17, werde im Juni 18. Gestern hatte ich wegen der Nachrichten Panik, habe mir Rat bei „Geht durch den Wald“ geholt und herausgefunden, dass mir ein Aufschub bis zum 1. Oktober zusteht, um mich an der Uni einzuschreiben. Jetzt bin ich fest entschlossen, Russland zu verlassen, sehr wahrscheinlich werde ich während der Zeit des Aufschubs nach Kasachstan fahren, weil ich dort eine Verwandte habe. Ich lerne jetzt gerade, Websites zu erstellen, um dann die Möglichkeit zur Telearbeit zu haben und Geld für die Emigration zu verdienen. Ich hoffe, es wird keine Mobilmachung geben.

Ein bisschen Angst habe ich, wie meine Eltern reagieren werden, sie glauben nämlich, ich würde an die Uni gehen. Bis jetzt unterstützt mich meine Tante, sie sagt, meine Eltern würden schon verstehen, dass ich alle Risiken durchkalkulieren muss. Dankbar bin ich auch meiner Verwandten in Kasachstan, mit der meine Tante mich in Kontakt gebracht hat.

* * *

Was die elektronischen Einberufungsbescheide angeht – das hat mich schon erschreckt. Aber wir haben schon im Oktober die endgültige Entscheidung zu bleiben getroffen, wir haben nicht die Absicht, Familien, Häuser, unser Land wegen so ein paar Dreckskerlen aufzugeben. Unsere Stimmung ist – wenn’s eng wird, gehen wir „in die Wälder“.

* * *

Nichts hat sich geändert, außer dass die Nervosität steil angestiegen ist. Bin aber sowieso wohl untauglich. Russland zu verlassen habe ich nicht vor, im Gegenteil, ich bin erst vor ein paar Monaten zurückgekommen.

Aber wenn ich ehrlich bin, ich hoffe, ich gebe bald den Löffel ab, das alles ist unerträglich.

***

Ich bin 56 und einfacher Soldat. Nach der gültigen Gesetzgebung bin ich schon seit fünf Jahren nicht mehr wehrpflichtig. Aber für die Jüngeren ist es schlimm geworden.

* * *

Ich hatte schon überlegt, nach sechs Monaten „auf Achse“ nach Petersburg zurückzukehren. Jetzt denke ich nicht mehr daran.

* * *

Mich persönlich betrifft das Einberufungsgesetz nicht, weil ich schon vor langem Russland verlassen habe und nicht mal mehr zu Besuch dorthin fahre. Aber zwischen meinem Land und der Russischen Föderation besteht Visumfreiheit, und es beunruhigt mich etwas, dass es eine weitere Migrationswelle geben könnte. Das würde bedeuten, wieder Fragen an der Grenze, überfüllte Cafés und eine sehr angespannte Stimmung. Aber wir werden in jedem Fall alle aufnehmen und niemanden abweisen, denn das Leben und das Gewissen sind wichtiger.

* * *

(Eine Leserin) Von den Männern, die ich kenne, haben sich alle, die Angst hatten und sich absetzen konnten, schon abgesetzt. Geblieben sind die, die aus familiären, finanziellen, psychologischen Gründen nicht weg konnten. Einer geht gar nicht mehr aus dem Haus – wohin soll er emigrieren? Kredite nehmen sie keine auf, Immobilien wollen sie auch nicht verkaufen, die Hälfte von ihnen hat auch gar keine, ihr Geschäft können sie problemlos auf ihre Mutter umschreiben, was das Auto betrifft – sie hoffen, dass niemand etwas merkt, oder fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Nach Europa lässt man sie jetzt sowieso nicht, also wohin sollten sie schon fahren … Am meisten fürchten sie nicht den Verlust ihrer Rechte, sondern dass man anfängt, die Wohnungen und Arbeitsplätze zu kontrollieren und sie von da direkt abholt. (…)

* * *

Uns wirft man aus Estland hinaus (ich bin Student), und ich weiß nicht, wohin ich weiter gehen soll. Ich habe keine Mittel, mir einen anderen Ort zu suchen, aber ich weiß, dass ich das müsste. Ich bin sehr nervös.

https://paperpaper.io/uzhe-net-sil-trevozhitsya-kak-chitatel/

Anmerkungen:

Die Leserin, die sich im vorletzten Beitrag äußert, bezieht sich auf die verschiedenen Strafen und Einschränkungen, die nach dem neuen Gesetz wirksam werden, wenn der Einberufene nicht innerhalb einer bestimmten Frist (je nach Maßnahme 7 oder 20 Tage) auf dem Militärkommissariat erscheint: keine Gewährung von Krediten mehr, Verbot des Verkaufs von Immobilien, Entzug des Führerscheins, Verbot einer selbständigen Geschäftstätigkeit.

Zur Situation in Estland: Die estnische Regierung vergibt keine Visa mehr an Russinnen und Russen, aber russische Studierende an estnischen Universitäten bekommen ausnahmsweise eine einmalige Verlängerung ihres Visums, um ihr Studium beenden zu können. Danach müssen sie das Land verlassen.