RUSSLAND HEUTE

Waleri Garbusow, Foto: Rossijskaja Akademija Nauk

Waleri Garbusow, Jahrgang 1960, hat eine steile Karriere hinter sich – vom Geschichtslehrer in der Provinz zum Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Instituts für USA- und Kanada-Forschungen (abgekürzt ISKRAN), einer Einrichtung, die als wichtiger „Think Tank“ gilt und 1967 mit dem Ziel gegründet worden war, die russische Regierung in außenpolitischen Fragen zu beraten. Garbusow ist Autor von über 70 wissenschaftlichen Publikationen, Spezialist für Innen- und Außenpolitik der USA. Er hätte wohl bald einen friedlichen Ruhestand genießen können.

Doch am 29. August veröffentlichte er in der „Nesawissimaja Gaseta“ einen langen Artikel, in dem er mit ungewöhnlicher Deutlichkeit und Schärfe die verlogenen „Mythen“ kritisierte, die vom russischen Regime mit Hilfe gewissenloser Propagandisten verbreitet würden, um die Bevölkerung zu manipulieren, sich ihre bedingungslose Loyalität zu sichern und sie im falschen Glauben an Russlands imperiale Größe zu wiegen.

Schon am nächsten Tag wurde er von dem wohl übelsten dieser Propagandisten, Wladimir Solowjow, in dessen abendlicher Fernsehshow angegriffen und verunglimpft, ihm wurde unterstellt, ein bezahlter Agent des Feindes zu sein, auf den in den USA zur Belohnung schon ein warmes Plätzchen warte. Noch zwei Tage später hatte er seine Stellung als Institutsdirektor verloren – Russlands Minister für Wissenschaft und Bildung Waleri Falkow hatte ihm mit Datum vom 31. August die Order zur vorzeitigen Auflösung seines Dienstvertrages zukommen lassen, mit einer Geschwindigkeit, die auf eine Weisung von weiter oben schließen lässt. In derselben Woche wurde Garbusows Foto von der Website des Instituts entfernt und durch das seines 33jährigen kommissarischen Nachfolgers ersetzt.

Ich zitiere einige Abschnitte aus seinem mutigen Artikel, der eine so heftige Reaktion hervorgerufen hat. Am Anfang spricht Garbusow von den Mythen der Vergangenheit, von den utopischen Ideen eines expansionistischen großrussischen Reiches, die auch nach der Revolution noch fortlebten in der Hoffnung der Komintern auf eine Weltrevolution und dann in der Schaffung eines sowjetischen Einflussbereiches nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er fährt fort:

Auf einer Welle antiwestlicher Strömungen und in einer Atmosphäre pseudopatriotischen Wahns entstehen heute neue Mythen, es bildet sich ein utopisches Bewusstsein in der russischen Bevölkerung, die mit verblüffender Leichtigkeit, naiv und gedankenlos die Thesen der totalen staatlichen Propaganda akzeptiert. Diese Mythen werden Tag und Nacht durch eine neue Generation gut bezahlter professioneller politischer Manipulateure und Teilnehmer der zahllosen Fernsehshows verbreitet.

Während gleichzeitig eine schleichende Restauration des Stalinismus stattfindet, werden durch ihre Bemühungen neue Dogmen etabliert – von der Krise der Globalisierung und der gesamten „angelsächsischen Welt“ (was soll das im 21. Jahrhundert bedeuten?), von einer neuen antikolonialen Revolution (es gibt auf der Welt nur noch 17 Kolonien!), vom Verlust der amerikanischen Dominanz (und das nach dem Zerfall der UdSSR?), von der großen antiamerikanischen Weltrevolution, überhaupt vom Niedergang des Westens (eine neue „allgemeine Krise des Kapitalismus“?!).

Es folgen Fakten und Zahlen als Beleg für die Dominanz und unverminderte Anziehungskraft der USA im Vergleich zu Russland. Weiter schreibt er über die USA:

Bis heute haben sie sich ihre Attraktivität bewahrt, davon zeugen die nicht versiegenden Ströme von Einwanderern aus allen Erdteilen. Jedes Jahr kommen etwa eine Million Menschen neu in die USA. (…) Der antiamerikanische außenpolitische Kurs der UdSSR, der auf Konfrontation mit den USA und dem gesamten Westen abzielte, half seinerzeit dabei, ein alternatives sozialistisches Imperium zu schaffen, das aber nur wenige Jahrzehnte existierte und infolge seiner eigenen Lebensunfähigkeit zusammenbrach.

(…)

Heute existieren auf unserem Planeten nur noch zwei informelle Imperien – die USA und China. Russland verkörpert als Erbe der Supermacht Sowjetunion ein ehemaliges Imperium, das an dem äußerst schmerzhaften Syndrom abrupt verlorener imperialer Größe leidet.

Dieses deutlich ausgeprägte postimperiale Syndrom ist eher eine tragische Gesetzmäßigkeit als eine historische Anomalie. Seine Besonderheit besteht darin, dass es nicht sofort nach dem Zerfall der UdSSR 1991 auftrat, sondern sich erst viel später bemerkbar machte, als Putin an die Macht kam. Nach mittlerweile mehr als 30 Jahren hat dieses verschleppte Syndrom, mit dessen Auftauchen man gar nicht mehr gerechnet hatte, jetzt einen bedrohlichen Charakter angenommen.

(…)

Das gegenwärtige Russland (…) verfügt ungeachtet seines geringen spezifischen Gewichtes in der Weltwirtschaft immer noch über eine starke expansionistische Sprengkraft und den vorläufig noch nicht offen gezeigten Ehrgeiz, globalen geopolitischen Einfluss auszuüben.

Mit Hilfe der reichen Erfahrung des kommunistischen Expansionismus der Komintern hatte sich Russland nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg rasch eine eigene Einflusszone von regionaler und globaler Bedeutung geschaffen, die es dann mit dem Zerfall der UdSSR über Nacht verlor. Nun versucht Russland, bislang noch erfolglos, dafür verspätete Rache zu nehmen.

Mit dieser Absicht initiierte es die Gründung neuer Zusammenschlüsse (OVKS, Eurasische Wirtschaftsunion, Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, BRICS) und bildete eigene geopolitische Felder und Zonen. Auch mit seiner früher erfolgreichen energiepolitischen Strategie suchte es sich zukunftsträchtige Märkte zu sichern und darüber hinaus eigene globale Einflusssphären zu schaffen.

(…)

Das Ziel ist offensichtlich – Machterhalt um jeden Preis, unverhohlen, unbefristet, unterstützt von einer patriotischen Großmachtrhetorik, die die eigene Gesellschaft in eine Welt der Illusionen sperrt, sowie Besitzwahrung der jetzt herrschenden Elite und des mit ihr verbundenen Oligarchats.

(…)

Die Komplizen des Autoritarismus in unserem Land (vergleichbar den Satrapen längst untergegangener altorientalischer Despotien), denen offenbar komplett jedes historische Bewusstsein abgeht, setzen das Staatsoberhaupt mit dem Staat selbst gleich, den zeitweiligen Machthaber des Landes mit der großen nationalen und historischen Konstante.

Das, meine Damen und Herren, ist beschämend und erniedrigend!

https://www.ng.ru/ideas/2023-08-29/7_8812_illusions.html

Nach der Entlassung Garbusows von seinem Posten als Direktor brachte die „Nesawissimaja Gaseta“ eine Stellungnahme seiner Kolleginnen und Kollegen, in der diese von einer „entfesselten Verleumdungskampagne“ gegen ihren Chef sprachen und dem TV-Moderator Wladimir Solowjow dreiste Lügen vorwarfen, „vorgebracht im Stil der abstoßenden Propaganda eines Goebbels“. Dieser am 5. September online gestellte Text wurde von der Zeitung nach nur einer Stunde wieder entfernt, trotzdem natürlich zu spät, denn das Internet vergisst bekanntlich nichts. Wörtlich hieß es dort weiter:

Die verlogenen, haltlosen und demonstrativ aufgeblähten Anschuldigungen gegen das wissenschaftliche Kollektiv des ISKRAN und gegen seinen Direktor sind nichts anderes als ein grober und talentloser Versuch, der in Jahrzehnten gewachsenen wissenschaftlichen Schule der einheimischen Amerikanistik, die in der ganzen Welt einen guten Ruf genießt, einen Schlag zu versetzen mit dem Ziel, sie zu diskredietieren.

https://meduza.io/feature/2023/09/05/uvolennyy-direktor-instituta-ssha-i-kanady-napisal-novuyu-statyu-o-mifah-rossiyskoy-propagandy-ego-sotrudniki-vypustili-zayavlenie-v-ego-zaschitu)
Aktueller Screenshot der Website des USA- und Kanada-Instituts, links ein Bild des Gründers Georgi Arbatow, in der Mitte oben ein Foto von Garbusows kommissarisch eingesetztem Nachfolger Sergej Kislizyn

Solowjow ruderte anschließend etwas zurück, lud Garbusow zur Diskussion in seine Sendung ein und versprach, sich „korrekt“ zu verhalten. Die kremltreue Presse rechtfertigte – wenig überraschend – die Entlassung und führte übergeordnete Gründe an, wie zum Beispiel in diesem Artikel:

Allgemein gesprochen ist es falsch, einen Wissenschaftler wegen eines Zeitungsartikels zu entlassen. Aber Waleri Garbusow ist nicht vom Posten eines Wissenschaftlers entlassen worden, sondern vom Posten des Direktors des USA- und Kanada-Instituts. Dieses Institut gehört zur Russischen Akademie der Wissenschaften und ist eine staatliche Einrichtung (anfangs eine sowjetische, jetzt vom russischen Staat finanziert) mit dem Hauptziel, durch seine Analysen den Staat zu befähigen, eine angemessene und erfolgreiche Politik gegenüber den USA und Kanada zu verfolgen.

Russlands Politik gegenüber den USA besteht gegenwärtig in der Abwehr der hybriden Aggression von Seiten Washingtons, in der Verteidigung gegen die unerhörten Sanktionen und gegen den durch die Stellvertreter-Armee der Ukraine geführten Krieg gegen Russland. (…) Seinem Artikel nach zu urteilen, steht Waleri Garbusow in diesem hybriden Krieg zwischen den USA und Russland auf der Seite der USA – einen solchen Direktor braucht das Institut nicht. Analysen des Instituts unterliegen der Geheimhaltung, deshalb ist Garbusow als Agent des Feindes auch als einfacher Experte an diesem Institut überflüssig.

Anschließend wird unverhohlen unterstellt, dass Garbusow bereits seine Emigration in die USA vorbereitet habe und dort erwartet werde. Der skandalöse Artikel sei eine beabsichtigte Provokation gewesen, um ihm den Neustart in den USA zu erleichtern. Eine genauere Untersuchung der Hintergründe sei notwendig:

Wer hat diesen Mann gedeckt, der trotz so offensichtlich proamerikanischer und antirussischer Ansichten ein Institut leitete, das eigentlich die russische Regierung im Kampf gegen die USA unterstützen sollte? Der Artikel ist voller Begeisterung, Anerkennung, Liebe zu Washington und durchdrungen von der Überzeugung des Autors, dass die Dominanz der USA ewig währen wird.

https://publico.ru/opinions/statya-garbuzova-eto-soznatelno-sdelannaya-provokaciya

Garbusow verteidigte sich eine Woche später in einem zweiten Artikel, ebenfalls in der „Nesawissimaja Gaseta“, und versicherte unter anderem, er habe keineswegs vor, Russland zu verlassen, und was Solowjow in seiner Fernsehsendung über ihn behauptet habe, seien „primitive Lügen“. Erneut wandte er sich ausführlich gegen das „verzerrte Weltbild“ der staatlichen russischen Propaganda und gegen die zunehmende Geschichtsverfälschung.

Nach so viel Wirbel sah sich auch Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der „Nesawissimaja Gaseta“, genötigt, eine Erklärung in eigener Sache abzugeben und die Publikation der beiden Artikel zu verteidigen. Sie seien die persönlichen Meinungsäußerungen eines ausgewiesenen Experten und hätten allen Kriterien für eine Veröffentlichung als „Diskussionsmaterial“ entsprochen.

Nicht nur in der russischen Presse, auch in der russischsprachigen Bloggerszene waren Garbusows Artikel und seine Entlassung tagelang ein lebhaft und kontrovers diskutiertes Thema. Hier zum Schluss noch eine kleine Auswahl aus zahlreichen vom Exilmedium Svoboda.org zusammengestellten Blogbeiträgen, pro und contra Garbusow.

Der Blogger Boris Lwin weist auf ein interessantes Detail hin – dass nämlich Putin in dem ganzen ausführlichen Text nur ein einziges Mal und auch nur eher beiläufig erwähnt wird, im Zusammenhang mit dem „verschleppten postimperialen Syndrom“:

Das heißt, Putins Name wird eindeutig mit dem Ereignis verbunden, das der Autor für eine Tragödie hält. Und die Nennung Putins einfach mit Nachnamen, ohne Amtsbezeichnung und sogar ohne Initialen ist ein deutliches Signal verächtlicher Geringschätzung. Gerade einem Vertreter der höchsten akademischen Elite Moskaus, also des wohl servilsten Clubs unseres Landes, sind solche Nuancen gewöhnlich längst in Fleisch und Blut übergegangen.

Der Blogger Andrej Medwedew hält gleich das ganze Institut für ein gefährliches Wespennest:

Dass das USA- und Kanada-Institut schon immer eine Brutstätte snobistischer, halsstarriger Russophobie war, ist kein Geheimnis. Die ursprüngliche Absicht war ja gar nicht so schlecht: einen eigenen sowjetischen Think Tank zu schaffen, um den Gegner zu studieren.

Aber die Kinder der Bolschewiki, die aus den richtigen Familien und auch die aus den einfacheren, die dank spezieller Auslese dort aufgenommen wurden, wollten Amerika nicht als Gegner studieren. Ihnen gefielen Elvis Presley, Johnny Cash, Cadillacs, das „Einstöckige Amerika“ (ein Reisebericht der Satiriker Ilf und Petrow aus den 1930er Jahren, Anm. d. Ü.), Jeans, der amerikanische Traum, und überhaupt wollten sie alle nach Amerika fahren. Wenigstens in Form einer Dienstreise. (…) Letztendlich verwandelte sich der sowjetische Think Tank in eine öde Sekte amerikaberauschter Funktionäre ohne Analyse und Verstand. Und Waleri Garbusow (der in den 1990ern als Praktikant in den USA war) ist das Produkt dieser Sekte.

Eine völlig andere Ansicht vertritt der Blogger Ejnulla Fatullajew:

Im Allgemeinen existieren akademische Institute und die dort arbeitenden klugen Leute, Spezialisten in ihrem Fach, damit sich Politiker und Staatsbedienstete vor wichtigen Entscheidungen mit ihnen beraten können. In Russland sieht es aber seit einiger Zeit so aus: Alle diese Organisationen sind gehalten, die genialen und einzig richtigen Entscheidungen zu unterstützen, die vom Führer unserer Nation getroffen werden. Wer nicht seiner Meinung ist, muss gehen. Ergebnis ist eine Art Echokammer, wo alle nachplappern, was von oben gesagt wird, und alternative Meinungen sich gar nicht erst entwickeln können. Die Realität verschwindet einfach aus dem Blickfeld. Aber tatsächlich ist sie ja noch vorhanden und wartet nur auf den Moment, Rache zu nehmen dafür, dass man sie ignoriert hat.

Waleri Garbusow hat seine Pflicht als Wissenschaftler erfüllt: Er hat gewarnt. Aber natürlich zu spät.

Diese und weitere Bloggermeinungen kann man hier im Original nachlesen: https://www.svoboda.org/a/kak-on-sluzhil-v-ochistke-blogery-ob-antiimperskoy-statje-valeriya-garbuzova/32576652.html

Auch in der deutschen Presse sind einige Artikel über den „Fall Garbusow“ erschienen, ausführlich hat dazu Peter Jungblut bei BR24 geschrieben: https://www.br.de/nachrichten/kultur/kreml-berater-russland-geisel-seines-imperialen-komplexes,ToRs09n