RUSSLAND HEUTE

Dieser engelhaft aussehende junge Mann heißt Danja Milochin, war bis vor Kurzem in Russland ein vieltausendfach angehimmelter Star, zunächst bei seinen Altersgenoss(inn)en auf TikTok, Instagram & Co., dann dank Auftritten in großen Fernsehshows auch bei einem breiteren Publikum. Aber seit einem dreiviertel Jahr sitzt er nicht ganz ohne eigenes Zutun in der Bredouille und irrt ziellos zwischen Dubai, den USA und seiner russischen Heimat umher.
Danila Milochin, genannt Danja, wurde 2001 in Orenburg nahe der Grenze zu Kasachstan geboren und hatte eine schwierige Kindheit. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter gab ihn als Dreijährigen zusammen mit seinem älteren Bruder Ilja ins Waisenhaus, wo er zehn Jahre verbrachte. Als er dreizehn war, nahm ihn eine Pflegefamilie auf, die sich gut um ihn kümmerte, es aber nicht leicht mit ihm hatte: Immer wieder gab es Ärger mit der Polizei, Ladendiebstähle, Drogen, andere kleinere Delikte. Als Danja 18 wurde, nahm er die 200.000 Rubel, die jede Waise bei Erreichen der Volljährigkeit vom russischen Staat erhält, kaufte sich dafür ein neues Smartphone und eine Fahrkarte nach Moskau mit dem Ziel, von dort die Welt per Internet zu erobern. Schon zuvor hatte er mit lustigen Videos einige Anhänger auf verschiedenen Social-Media-Kanälen gesammelt.
Im Corona-Jahr 2020 kam dann der große Durchbruch mit einem witzigen Videoclip und einem gerappten Song über die erzwungene Quarantäne: „Ich bin zu Hause“ („Я дома“). Man sah darin ihn und seine Freunde durch die Wohnung tanzen und singen („Rat mal, wo ich bin? Ich bin zu Hause. Rat mal, wie’s mir geht? Es geht mir gut“) und konnte zugucken, wie die wegen Corona Eingesperrten mit Gummitieren in der Badewanne planschten und kiloweise Pizza und Chips verschlangen. Es war ein ulkiges Filmchen und das Lied ein echter Ohrwurm, der sofort ein Riesenhit wurde. Es folgten weitere Songs, mit Freunden gründete Danja auf TikTok ein virtuelles „Dream Team House“, sein und seiner Freunde Leben konnten seine Fans dort im Livestream verfolgen. 15 Millionen Abonnenten zählte sein Kanal in den besten Zeiten. Der Waisenjunge aus der Provinz verdiente durch Werbung (unter anderem von Pepsi und Huawei) zwei Millionen Rubel im Monat.
2021 holte ihn der TV-Sender „Erster Kanal“ dann in eine der erfolgreichsten russischen Fernsehshows, in die „Eiszeit“ („Ледниковый период“). Ähnlich wie in „Let’s Dance“ tanzen darin Profis mit prominenten Nicht-Profis um den Sieg, aber nicht auf der Tanzfläche, sondern in Schlittschuhen auf dem Eis. Unter den Profis sind viele Olympiasieger und Weltmeister, in der Jury sitzen Berühmtheiten aus dem Showbusiness wie Filipp Kirkorow und Trainerlegenden wie Tatjana Tarassowa. Die Show läuft mit Unterbrechungen seit 2007. Als Profi-Partnerin von Milochin suchte man die zweifache Weltmeisterin (2016 und 2017) Jewgenia Medwedewa aus. Danja erwies sich bald als ausgesprochen talentierter Eisläufer, die beiden bekamen im Verlauf der Saison immer bessere Wertungen und hatten gute Aussichten auf einen Sieg im Finale.

Aber im Oktober 2022 warf Danja urplötzlich das Handtuch, erklärte, er mache grundsätzlich nur, worauf er Lust habe, und Lust aufs Eislaufen habe er leider nicht mehr. Die im Stich gelassene Medwedewa musste sich auf die Schnelle nach einem neuen Partner umsehen, während Danja erst nach Dubai und dann weiter nach Los Angeles flog. Das Fernsehpublikum nahm ihm das ziemlich übel, in der Presse erschienen giftige Artikel über ihn:
Der nach Dubai geflüchtete Danja Milochin ist nach dem Skandal ohne Einkünfte und hat sein ganzes Geld verloren. Der Blogger hat die verdienten Millionen ausgegeben und lebt auf Kosten von Freunden. (…)
Wie Danjas Produzent Jaroslaw Dronow erzählte, hat der junge Mann nie Geld zurückgelegt und Millionen verschleudert. Der Leichtsinn des Bloggers führte zu traurigen Konsequenzen: Er gab zu, dass er sich nach seiner Flucht ins Ausland jetzt am Rande der Armut befindet. (…)
Wegen einer Reihe von Skandalen rund um Milochin haben alle Werbeträger die Zusammenarbeit mit ihm abgebrochen. Laut Milochin wollte 2021 die Sberbank einen Vertrag über 90 Millionen Rubel mit ihm abschließen, trat aber davon zurück, nachdem Danja bei der Preisverleihung von Mus-TV in einem Frauenkleid erschienen war. Seine anderen Geldquellen büßte der Blogger nach dem lautstarken Skandal im Oktober 2022 ein: Danja erklärte plötzlich, er verlasse die Eis-Show und werde am nächsten Tag per Flugzeug ausreisen. Er ließ seine Partnerin Jewgenia Medwedewa und sein ganzes Team im Stich – dafür setzte ihn die Leitung des „Ersten Kanals“ auf die schwarze Liste. Aber das war noch nicht das Ende von Danjas Unverschämtheiten. Im Ausland nahm er einen Track auf, in dem er den staatlichen Fernsehkanal unflätig beschimpfte.
Interessanterweise bereut der skandalumwitterte TikToker jetzt seine Taten. Er gestand, dass er nicht im Ausland leben wolle, aber sich fürchte zurückzukehren.
„Meine Heimat ist Russland, Moskau. Natürlich möchte ich am liebsten in Moskau leben“, fügte Danja hinzu.
https://bloknot.ru/kul-tura/sbezhavshij-v-dubaj-danya-milohin-ostalsya-bez-zarabotka-posle-skandala-i-potratil-vse-den-gi-1067659.html

Schlimmer aber als halbe Frauenkleider und Senderbeschimpfungen war die Reise in ein „unfreundliches Land“ (die USA) und vor allem das öffentliche Absingen der ukrainischen Hymne – oder der Versuch dazu – zusammen mit einem Freund aus der Ukraine: ein Videoschnipsel von nicht mal einer Minute, in dem der Freund sich kaputt lacht über Danjas erfolglose Bemühungen, die ukrainischen Wörter richtig auszusprechen und in dem die beiden über die erste Zeile der Hymne gar nicht hinauskommen. Aber das reichte schon, um Russlands „Patrioten“ auf den Plan zu rufen. Milochin, der bereits früher sehr glaubhaft versichert hatte, nichts von Politik zu verstehen und sich auch nicht dafür zu interessieren, war sich offenbar nicht bewusst, was er da in ein paar Sekunden losgetreten hatte. In den staatstreuen Medien fiel man sofort über ihn her, nannte ihn Verräter, verlangte, ihm die Einreise nach Russland zu verweigern, ihm die russische Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihn auf die Liste der „ausländischen Agenten“ zu setzen.
Die Flucht aus der „Eiszeit“ und die Reise in die USA hat man Danja Milochin rasch verziehen. Der Blogger hat nicht zum ersten Mal mit skandalösen Auftritten überrascht und ist durch die Weltgeschichte gereist – daran war nichts Ungewöhnliches. Aber sein erster Stream aus Los Angeles, wo sich die Teilnehmer des „Dream Team House“ trafen, fiel schon arg „hypemäßig“ aus. Und zwar wegen der Ukraine-Hymne, die Danja zusammen mit dem Blogger Artur Babitsch vortrug.
Der Auftritt blieb nicht unbemerkt – über den TikToker ergoss sich heftige Kritik. Man prophezeite Milochin das endgültige Ende seiner Karriere in Russland. „Er wurde unseren Kindern als Vorbild hingestellt. Und dann flog dieses kleine Scheusal in die USA und fing sofort an, Ukrainisch zu sprechen und die Hymne der Ukraine zu singen. Wer übernimmt dafür jetzt die Verantwortung?“, empörte sich Jekaterina Misulina, Vorsitzende der „Liga für ein sicheres Internet“, im Gespräch mit „Life.ru“. Nicht weniger harsch äußerte sich über den Vorfall Oskar Kutschera. „Welch ein Glück, dass dieser Hohlkopf nicht länger die Ohren und Augen unserer Kinder belästigen wird“, schrieb der Schauspieler auf seinem Telegram-Kanal. Auch andere bekannte Persönlichkeiten schlossen sich der Kritik an.
Danja selbst begreift nicht, was man ihm vorwirft, und sagt, vor der Ukraine-Hymne habe er doch die Hymne seiner Heimat Russland gesungen.
https://super.ru/a/milohin_gymne
Anfang September kehrte Danja nach Russland zurück, wurde kurz in Moskau gesichtet – und saß drei Tage später schon wieder im Flugzeug nach Dubai. Der Grund für die überstürzte erneute Flucht war wohl ein offener Brief der oben zitierten Vorsitzenden der „Liga für ein sicheres Internet“ mit dem Appell, ihn schnellstens zum Militär einzuberufen.

Jekaterina Misulina ist die Tochter der bekannten Duma-Abgeordneten Jelena Misulina, die maßgeblich an dem Gesetz gegen homosexuelle Propaganda und der Entkriminalisierung häuslicher Gewalt mitgewirkt hat. Sie ist seit einigen Jahren äußerst aktiv damit beschäftigt, das russische Internet von tatsächlichen oder vermeintlichen schädlichen Einflüssen zu säubern. Sie tritt auch dafür ein, YouTube in Russland zu blockieren. Auf der Seite ihrer „Liga“ kann jeder, der möchte, Websites zur Anzeige bringen, die Gründe sind nach verschiedenen Rubriken sortiert (u. a. Kinderpornographie, Verbreitung von Drogen, LGTB-Propaganda, Fake-News).
Auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlichte Jekaterina Misulina einen Brief an das russische Verteidigungsministerium mit folgendem Wortlaut:
Ich wende mich an die Leitung des Verteidigungsministeriums von Russland. Vor Kurzem ist der Blogger Danja Milochin nach Russland zurückgekehrt, der viele russische Bürger mit russophoben Äußerungen verstört hat, während er sich im Ausland aufhielt. Der Blogger wurde bisher nicht zum Wehrdienst einberufen, obwohl es nach den vorliegenden Informationen keine Gründe für einen Aufschub gibt. Mit Blick auf die demnächst beginnende Herbstkampagne zur Mobilmachung bitte ich darum, den jungen Mann in die russische Armee einzuberufen. Diese Maßnahme wird seine patriotische Erziehung fördern, der junge Mann kann mit der Waffe in der Hand aktiv seine Treue und Ergebenheit unserer Heimat gegenüber beweisen.
https://t.me/s/ekaterina_mizulina

Auch Russlands Chefpropagandist Wladimir Solowjow ging in seiner Fernsehsendung auf den Fall ein, in gewohnt robuster Ausdrucksweise:
„Diese Kreatur muss schleunigst einberufen werden. Und ich hoffe, hier gibt ihm nie wieder irgendwer Arbeit, unter keinen Umständen.“ Der Moderator bezeichnete Milochin als Dreckskerl, weil er in einem seiner Videos „kichernd und mit Vergnügen die Hymne der Ukraine gesungen hat“. „Also, zügig in die Armee mit dir, du Welpe, da wird man dich lehren, deine Heimat zu lieben“, fügte Solowjow an den Blogger gewandt hinzu.
https://lenta.ru/news/2023/09/11/milohin/?ysclid=lmg08rmuan348519110
Es gibt auch andere Stimmen – sogar in der Duma. Dem Abgeordneten und Vizesprecher der Duma Wladislaw Dawankow ging dieser ganze selbstgerechte Furor derart gegen den Strich, dass er (wohl nicht ganz ernst gemeint) ein Gesetz gegen „serielle Denunzianten“ anregte, eine „Lex Misulina“, nach dem unverbesserliche Denunzianten mit 100 Stunden gemeinnütziger Pflichtarbeit bestraft werden sollen. Er führte außerdem auch noch einen ganz pragmatischen Grund für seine Gesetzesinitiative an:
„Jekaterina Misulina hat zum wiederholten Mal gezeigt, dass es höchste Zeit wird, mit diesem serienmäßigen Denunziantentum Schluss zu machen. Mit ihrem Feldzug gegen Milochin hat sie Tausende Russen davon abgeschreckt zurückzukommen. Darunter sind Computerspezialisten, Wissenschaftler und Unternehmer, die unser Land jetzt braucht“, erklärte Dawankow. Er schlug vor, die Initiative „Gesetz Misulina“ zu nennen. Nach Ansicht Dawankows „bringen 100 Stunden Pflichtarbeit unserem Land weitaus größeren Nutzen als die Versuche, im Internet eine Do-It-Yourself-Gerechtigkeit einzuführen“. „Das soll eine Lehre für alle die werden, die meinen, Denunziation sei etwas Normales“, erläuterte der Abgeordnete.
https://www.forbes.ru/society/496332-v-gosdume-rasskazali-o-rabote-nad-proektom-s-nakazaniem-dla-serijnyh-donoscikov
Mittlerweile hat sich Danja Milochin selbst zu Wort gemeldet und dem Boulevardblatt „Super“ in einem Interview erklärt, er sei so schnell wieder abgereist, weil das Wetter in Moskau so kalt und ungemütlich gewesen sei:
Als die Journalisten darauf hinwiesen, jetzt sei in Moskau schönes Spätsommerwetter und er könne wiederkommen, wurde der Blogger ernst. Auf die Frage, wann genau er vorhabe zurückzukommen, antwortete Milochin ehrlich, er habe Angst und plane vorläufig kein Comeback.
„Wir werden sehen. Vorerst weiß ich es nicht. Ich habe Angst“, gab er zu.
https://life.ru/p/1608116