RUSSLAND HEUTE
Leonid Gosman über Russland
In unseren Medien wird oft Erstaunen und Unverständnis darüber geäußert, dass das russische Volk sich so passiv verhält, auch die absurdesten Lügen zu schlucken scheint und dass sich kaum Widerstand regt. Leonid Gosman hat in einem Essay in der russischen Exilzeitung „Nowaja Gaseta“ diese Stimmung zu beschreiben und zu erklären versucht.
Der Psychologe, Publizist und Politiker Leonid Gosman wurde 1950 in Leningrad geboren, er war Berater von Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais und Gründungsmitglied der Partei „Union der rechten Kräfte“. Letztes Jahr verbüßte er eine Haftstrafe von insgesamt 30 Tagen wegen kritischer Äußerungen, die er Jahre zuvor bei Facebook und LiveJournal gemacht hatte und in denen er u. a. Stalin mit Hitler verglich. Die Gleichsetzung von Handlungen der UdSSR mit Handlungen Nazi-Deutschlands wird in Russland mit Geldbußen oder ersatzweise Haft bestraft. Seit August 2022 lebt er im westlichen Ausland.
In Russland wurde Gosman einem großen Publikum durch seine Auftritte in der Fernsehsendung „Das Duell“ („Поединок“) bekannt, die von 2010 bis 2017 auf dem Ersten Kanal lief und von Wladimir Solowjow moderiert wurde. In dieser Live-Sendung trafen immer zwei „Duellanten“ aufeinander, die zu einem bestimmten Thema kontrovers diskutierten. Das Fernsehpublikum konnte noch während der Sendung durch Anrufe oder SMS abstimmen, wen es für überzeugender hielt. Gosman trat sechzehnmal an (u. a. gegen Wladimir Schirinowski und Nikita Michalkow) und verlor sechzehnmal. Für seine kritischen Aussagen etwa zur Annexion der Krim wurde er als „käuflicher Liberaler“ („liberal“ wird in Russland fast nur noch abwertend benutzt) und „Vaterlandsverräter“ beschimpft. Die Themen, über die man damals noch streiten durfte, würden heute im russischen Staatsfernsehen gar nicht mehr zur Diskussion gestellt werden; einige Beispiele: „Die Destalinisierung der Gesellschaft“, 2011, „Das Schicksal von Pussy Riot“, 2012, „Patriotismus“, 2013, „Der Zerfall der UdSSR“, 2016.

Hier einige Passagen aus Gosmans Text.
Das Land ist müde
Warum Russland mit dem Bild, das TV-Propaganda und Putin erfunden haben, keine Ähnlichkeit hat
Russland ist unendlich weit entfernt von dem faschistischen Ideal, das sich Wladimir Putin ausgedacht hat. Das heutige „tiefe“ Russland ist eine alte, vom Leben erschöpfte Frau, die nichts mehr will, an nichts mehr glaubt, auf nichts hofft und nur noch davon träumt, in Ruhe gelassen zu werden.
(…)
Das ist ein atomisiertes Land. Ein Land, in dem man kein Mitgefühl füreinander hat. Familie und Freunde halten natürlich zusammen und machen sich Sorgen umeinander, aber was in dem einen Teil des Landes geschieht, interessiert den anderen Teil nicht.
Die Bombardierung von Belgorod zum Beispiel lässt die Bewohner von Tjumen kalt. So war es schon viele Male bei regionalen Katastrophen und Unglücksfällen.
(…)
Das Land ist gespalten in einander ablehnende Schichten und Klassen. Eine solche Separierung, eine solche Ablehnung „Fremder“ innerhalb des eigenen Volkes gab es seit den Zeiten des Bürgerkriegs nicht. Und die Elite wird erst recht als etwas Feindliches betrachtet. Wenn die Drohnen auf der Rubljowka und in Nowo-Ogarjowo explodiert wären, wohin sie wohl auch fliegen sollten, hätten sich die anderen Menschen nur gefreut.
Dieses Land hat wie ein sehr alter Mensch keine Zukunft, es ist nicht fähig an sie zu denken. Es gibt nur die Vergangenheit. Und wie ein unglücklicher alter Mensch nimmt das Land seine Vergangenheit nicht als erfolgreich wahr. Es blickt nicht mit Stolz auf die Früchte seiner Anstrengungen, auf das Werk seiner Hände zurück, es sagt sich nicht, dass es nicht umsonst gelebt hat.
(…)
Dieses Land hat wie ein steinalter, von globaler Skepsis befallener Greis keine Helden. Nichts begeistert oder inspiriert es, selbst hinter den ehrenhaftesten Handlungen vermutet es nur eigennütziges Interesse. Das Geld, das man für politische Gefangene sammelt, wird doch nur gestohlen, die westlichen Länder helfen der Ukraine, um irgendeinen Nutzen für sich herauszuschlagen.
(…)
Dieses Land hat, wie es oft bei alten Menschen zu sein pflegt, ein sehr niedriges Selbstwertgefühl. Es meint, die Freiheit sei ihm kontraindiziert – wir könnten ja sonstwas anrichten! Es meint, es müsse hart angefasst werden, wie Peter der Große und Stalin es taten, es akzeptiert, dass es weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit irgendetwas Konkurrenzfähiges geschaffen hat (allerdings entschuldigt es diese Unfähigkeit vor sich selbst nur zu gern mit seiner Spiritualität).
Aber dieses Land glaubte – und das mit vollem Ernst und schrecklichen Folgen – , dass alle es hassen und seinen Untergang wollen. Im Kontext dieses Weltgefühls ließ es sich einreden, dass die NATO es angegriffen habe und dass „wir“ ihnen buchstäblich nur um wenige Stunden zuvorgekommen seien.
Aber auch das alles nur matt, ohne Enthusiasmus, ohne Energie. Das Land hat keine Kraft und auch keinen Willen mehr, auf reale oder eingebildete Bedrohungen zu reagieren.
https://novayagazeta.eu/articles/2023/06/04/strana-ustala
Anmerkungen:
Als „tiefes Russland“ oder „tiefes Volk“ (глубинная Россия, глубинный народ) bezeichnet man seit einigen Jahren die russische Bevölkerung außerhalb der Großstädte, gewissermaßen die „echten“ Russen, denen Demokratie und westliche Lebensformen fremd sind und die intuitiv wissen, dass die Autokratie (und Putin) ihrem Wesen entspricht. Den Begriff hat Wladislaw Surkow, früher Putins Berater und graue Eminenz des Kreml, in einem Artikel in der „Nesawisimaja Gaseta“ geprägt.
Auf der Internetplattform Dekoder kann man mehr dazu lesen: https://www.dekoder.org/de/article/putin-surkow-kritik-sonderweg
Auch dieser ZEIT-Artikel beschäftigt sich damit: https://www.zeit.de/kultur/literatur/freitext/belarus-russland-fusion-wladislaw-surkow
Die Rubljowka ist ein Villenviertel am westlichen Stadtrand Moskaus, das Anwesen Nowo-Ogarjowo liegt in derselben Richtung einige Dutzend Kilometer entfernt von Moskau und ist seit 2000 Putins Amtssitz und Gästehaus.