Mitte Dezember schlugen die russischen „Pranker“ Wowan und Lexus wieder einmal zu. Seit rund zwanzig Jahren treiben sie ihre Späße oder ihr Unwesen – je nachdem, wie man es sieht – mit nichtsahnenden Prominenten, die sie unter falscher Identität anrufen und aufs Glatteis führen. Anschließend werden die Gespräche zur Belustigung des Publikums und zur Demütigung der Angerufenen im Internet bei Rutube (der russischen Version von YouTube) und auf ihrem Telegram-Kanal „Russia Calling“ veröffentlicht. Elton John, Angela Merkel und Greta Thunberg sind schon auf sie hereingefallen. In letzter Zeit wurden vor allem Kritiker des Putin-Regimes und aus Russland emigrierte Prominente ihre Opfer – weshalb man Wowan und Lexus schon im Verdacht hatte, für den FSB zu arbeiten. Zumindest zu einer eigenen Show im Ersten Kanal des russischen Fernsehens haben sie es schon gebracht, und an ihrer unverbrüchlichen Treue zu Putin und ihrer Unterstützung seines Krieges lassen sie keinen Zweifel.

Im Dezember waren es der durch seine historischen Krimis bekannt gewordene Boris Akunin und der Journalist und Schriftsteller Dmitri Bykow, die von Wowan und Lexus gefoppt wurden. Akunin lebt schon seit 2014 in London, Bykow hat Russland im Februar 2022 verlassen. Beide stehen auf der Liste der „ausländischen Agenten“ – Bykow seit Juli 2022, nachdem er öffentlich den russischen Angriff auf die Ukraine kritisiert hatte, Akunin wurde erst jetzt aufgenommen (was Wowan und Lexus auf ihrem Telegram-Kanal als persönlichen Erfolg feiern). Ihre Bücher und Publikationen dürfen in Russland seitdem nicht mehr verkauft werden.

Die Veröffentlichungen der Videotelefonate wurden in Russland von großem Medienecho begleitet und sollten zeigen, dass Akunin und Bykow verachtenswerte Vaterlandsverräter seien, die ihre Heimat verleumden und das in Russland verdiente Geld den Nazis in der Ukraine schicken. Tatsächlich sagen beide im Gespräch aber nichts, was sie nicht ohnehin schon seit Jahren in der Öffentlichkeit sagen – es gibt keine neuen Informationen oder peinlichen Enthüllungen. Dass sie den Angriffskrieg Russlands verurteilen, wusste man auch vorher schon. Was den „Prankern“ bleibt, ist die schäbige Genugtuung, sie erfolgreich als arglose Schafe vorgeführt zu haben.

Auf diesem Screenshot von der Website der Zeitung life.ru vom 16. Dezember 2023 sieht man eine Collage: im Vordergrund die beiden Schriftsteller (Bykow rechts), dahinter ihre brennenden Bücher. Der Text über dem Bild vermeldet: „Die russischen Buchläden nehmen die Werke von Boris Akunin* und Dmitri Bykow*, die massiv über ihre Landsleute hergezogen sind und die vermutlich die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützen, aus ihren Regalen. Wo sind die beiden jetzt?“ Die Sternchen hinter den Namen sind obligatorisch und zeigen an, dass Akunin und Bykow als „ausländische Agenten“ gelistet sind.

Im Folgenden habe ich einige lesenswerte Stellen aus zwei echten Interviews mit Dmitri Bykow und aus einem seiner zahlreichen Video-Auftritte übersetzt.

Wer ist Dmitri Bykow?

Dmitri Bykow, geboren 1967 in Moskau, ist in den russischen Medien seit Jahrzehnten sehr präsent – als Journalist, Buchautor, Literaturhistoriker und als regelmäßiger Gast in Fernsehsendungen. Er arbeitete für die „Nowaja Gaseta“ und für den Radiosender „Echo Moskwy“ (sowohl die Zeitung wie der Sender mussten später schließen und berichten jetzt aus dem Ausland). Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, Essays über russische Literatur, Biographien von Majakowski, Pasternak und Gorki, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und Gedichtbände geschrieben. 2009 bis 2011 erschienen drei Bände mit Interviews, die er mit russischen Prominenten aus Kultur und Politik geführt hat, darunter Bulat Okudschawa, Eldar Rjasanow, Boris Strugazki, Xenia Sobtschak, Boris Nemzow, Alexej Nawalny. 2012 kam ein Buch mit satirischen Erzählungen heraus, „Wie Putin Präsident der USA wurde“. Auf YouTube hielt und hält er literaturhistorische Vorlesungen. Vortragsreisen und Lesungen führten ihn durchs ganze Land und um die halbe Welt. Sein neuestes Buch, erschienen im Herbst 2023, ist eine Biographie von Selenskyj. Die Liste seiner Publikationen ist derart umfangreich, dass die russischsprachige Wikipedia die Bibliographie aus seiner Biographie ausgegliedert und ihr einen eigenen Artikel gewidmet hat.

Das Cover zum vierten Band einer Reihe „Vorlesungen zur russischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ von Dmitri Bykow, erschienen 2019 (und jetzt in Russland nicht mehr erhältlich).

In den letzten Jahren eckte Bykow immer öfter mit kritischen Äußerungen an. 2019 wollte man ihn sogar wegen „Rehabilitierung des Nazismus“ anklagen (er hatte gesagt, er könne sich vorstellen, dass Hitler auch in Russland hätte populär werden können). Im April 2019 wurde er während einer Vortragsreise Opfer eines Giftanschlags, den er nur knapp überlebte. Im Februar 2022, wenige Tage vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, verließ er das Land mit seiner Familie und ging in die USA, wo er eine Zeitlang als Dozent an der Cornell University in Ithaca / N.Y. arbeitete (dort lehrte von 1948 bis 1959 auch Vladimir Nabokov). Eine weitere Station war 2023 die Universität im englischen Rochester.

Bei der Moskauer Buchmesse 2020 durfte Bykow noch zu seinem Publikum sprechen. Das Foto zeigt ihn am Ausstellungsstand seines Verlages AST. (Quelle: https://uncle-pafnutiy.livejournal.com/169908.html)

Lebhaft, schlagfertig, ungemein belesen, hat Bykow nicht nur viele bekannte Zeitgenossen und -genossinnen interviewt, sondern ist auch selbst ein beliebter und gefragter Gast und Interviewpartner. Seine Ansichten und Aussagen sind oft provokant und passen in kein Schema, wie zum Beispiel seine These, die beste Zeit in der russischen Geschichte sei die Sowjetära gewesen. Die meisten Russen, und besonders die im Exil, sind anderer Meinung – aber deshalb will ihn niemand vergiften.

Ansichten und Aussagen von Bykow

Zuerst einige Zitate aus einem Video seines YouTube-Kanals „Navigator“, Januar 2024.

Über den Patriotismus der Menschen in der Ukraine und in Russland:

Ja, wir sehen die Erbitterung in der Ukraine, dort sind die Menschen motiviert. Aber was werden wir in Russland sehen? Der russländische Patriotismus beruht seit langem auf anmaßenden Ideen und wird von verlogenen Menschen propagiert. Propagandisten sind aber ein unzuverlässiges Klientel, ihr Motiv ist Geld.

Die Ukrainer werden unter dem Druck stärker, aber was wird mit der russischen Propaganda geschehen? Die ideologische Front wird als erste bröckeln.

Über die ukrainischen Angriffe auf die grenznahe russische Stadt Belgorod:

Wenn Charkiw oder Lwiw bombardiert werden, reagiert man in Kiew, weil die Ukraine sich jetzt so einig wie nie zuvor fühlt. Aber für Moskau ist Belgorod irgendwo im Nirgendwo. Das ist gar nicht mal Snobismus, sondern einfach das Gefühl, das passiert alles nicht bei uns. Den Russen waren ihre Mitbürger immer schon schnurzegal. Aber die arbeitsfähige Bevölkerung ist nicht besonders groß. Sie wird sehr bald begreifen müssen, dass die Hälfte von ihr über die Klinge springen soll.

Die Russen, glaubt Bykow, haben ihre Verwundbarkeit noch nicht erkannt:

Russland lebt bis zum heutigen Tag im Gefängnis sowjetischer Denkmuster – wenig Blut, ein mächtiger Schlag … Und Russland begreift bis heute nicht, dass eine Antwort herüberfliegen kann. „Wofür tut man uns das an“ – das bleibt seine ewige Reaktion auf alles.

Leute, es gibt ein „wofür“. Und wenn Putin das Leben der meisten seiner ehemaligen Landsleute in der Ukraine zerstört hat, das Leben der meisten Relokanten aus Russland – dann wird niemand garantieren können, dass das Leben seiner Anhänger unangetastet bleibt.

https://respublika.kz.media/archives/113672

Dmitri Bykow in seinem Element – zwischen Büchern und Leserinnen, Foto von seinem Facebook-Account, 2012

Ebenfalls im Dezember 2023 sprach Konstantin Eggert vom russischen Programm der Deutschen Welle (die seit März 2022 in Russland Sendeverbot hat) mit Bykow über die Lage in Russland und wie er ein mögliches Ende des Putin-Regimes und die Zukunft Russlands und der Ukraine sieht.

Zunächst Bykows Antwort auf die Frage, ob Putins Alter ein Problem sei:

Das ist absolut kein Problem. Erstens sind 70 Jahre in unseren Zeiten kein Alter. In den vergangenen 24 Jahren, den 24 Jahren der Regierung Putins, ist die russländische Zeit stehengeblieben. Sie sind wie Insekten in Bernstein. (…) Weder neue Ideen noch neue Herausforderungen hat Russland in dieser Zeit auf die Reihe bekommen. Putin ist gewissermaßen eingezuckert, natürlich ist es eigentlich kein Zucker, aber in dieser sirupartigen dickflüssigen Zeit kann er sich willkürlich, nach Belieben, weitere Amtszeiten bewilligen. Es heißt, diese Amtszeit werde die letzte sein, nein, sie wird nicht die letzte sein. Mir ist bewusst, es kann jeden Augenblick zu Ende sein, das Geschwür ist reif, der Eiter kann herausspritzen und die ganze Menschheit besudeln …

Über die Trägheit der russischen Gesellschaft:

Wenn der Eiter aber nicht abfließen kann, wird es zu einer Intoxikation des Organismus kommen, und zum Schluss wird alles so verfault sein, dass nichts mehr zu retten ist. Teilweise können wir das jetzt schon beobachten. Die vereinzelten russischen Menschen, denen es gelungen ist herauszukommen, leben ihr Leben, bei ihnen ist alles in Ordnung. Diejenigen, die bleiben wollen, haben sich an dieses sumpfige Milieu gewöhnt. Und die Intoxikation wird sehr stark sein, denn noch niemals hat es in Russland eine dermaßen träge Gesellschaft gegeben. Selbst unter Nikolai II., selbst zu Beginn seiner Regierungszeit, war Russland lebendiger, bewegte sich. Irgendwer hatte immer was zu meckern, wetterte zum Beispiel gegen die Todesstrafe, und es gab eine Duma. Eine derart tote Gesellschaft wie jetzt haben wir in Russland noch nie gesehen, aber ist das ein Problem? Bei der ersten Herausforderung wird eine solche Gesellschaft sich als impotent erweisen.

Über die positiven Aspekte der Sowjetzeit:

Die wichtigste Klasse des sowjetischen Russlands war die Intelligenzija. (…) In den Bücherregalen standen die gesammelten Klassiker, man legte Wert darauf, seine Kinder auf die Universität zu schicken. Die sowjetische Intelligenzija hat man in den 90er Jahren getötet, und ohne die sowjetische Intelligenzija haben wir wieder eine Gesellschaft von Leibeigenen. (…)

Erstens, es gab keinen Nationalismus. Zweitens, kein Obskurantentum. Und drittens – es gab Aufklärung. Wie Maria Rosanowa es formuliert: „Die Sowjetmacht hat schreckliche Dinge getan, aber dabei die richtigen Worte gesprochen.“ Mit diesen richtigen Worten sind mehrere Generationen aufgewachsen. Die jetzigen Machthaber haben diese Maske abgeworfen. Der Pazifismus gilt sogar bei der Kirche als Sünde, vom Nationalismus will ich gar nicht sprechen.

Über die Bedingungen eines Friedensschlusses:

Ich denke, dass es im Endeffekt zu folgendem Resultat kommen wird: Abgabe von Territorien im Austausch für die Mitgliedschaft in der NATO. Das ist das einzige, was die ukrainische Gesellschaft als Sieg akzeptieren wird, wenn vielleicht auch nur als Kompromiss-Sieg. Denn ein Frieden im Tausch gegen Territorien – wir wissen alle, dass so ein Frieden das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben steht. Putin wird seine Provokationen in Donezk fortsetzen, bis es dort keine Bevölkerung mehr gibt. Er nimmt auf die Menschen dort absolut keine Rücksicht. Und solange Putin am Leben ist, wird er den Frieden aus verschiedenen Richtungen bedrohen, wie Stalin. Er braucht den Krieg unter allen Umständen, denn das ist seine einzige Legitimation.

https://www.dw.com/ru/dmitrij-bykov-putinu-nuzna-vojna-ego-edinstvennaa-legitimacia/a-67640841

Zum Jahreswechsel 2023/2024 unterhielt sich Bykow mit Michail Sokolow von Radio Swoboda.

Seine Antwort auf die Frage, welchen Einfluss die Opposition in Russland auf ein mögliches Ende des Putin-Regimes haben kann:

Ich zitiere die Worte Nawalnys, die er mir 2011 gesagt hat: Man muss diesem Regime Stress machen, es in heikle Situationen bringen. Es ist nämlich so, dass Putins Russland große Schwierigkeiten hat, auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren. Als Prigoschin zuerst in Rostow, dann weiter in Mittelrussland eingedrungen ist, so wie ein Messer in Butter eindringt, und erst kurz vor Moskau umgekehrt ist, da war man komplett paralysiert. Dieses Land ist nicht sehr gut im Kampf gegen organisierte Gewalt, es hat panische Furcht vor ihr. Seien wir doch ehrlich: Ein Regime, das Leute, die vor dem Majakowski-Denkmal Antikriegsgedichte vortragen, für fünf bis sechs Jahre ins Gefängnis schickt und vorher noch einen von ihnen bei der Durchsuchung mit einer Stange vergewaltigt – kann sich ein solches Regime auf die eigene Kraft verlassen? Hat es überhaupt irgendein Programm, außer uns, die emigrierten Schriftsteller oder die sogenannten Liberalen, anzupöbeln? Ganz ehrlich, ich frage dich, du bist ja auch Journalist: Wie sieht ihr positives Programm aus, was wollen sie eigentlich? Mal angenommen, sie erobern die Welt, was werden sie dann mit ihr machen? Saufgelage und Schlägereien auf den Ruinen veranstalten? Die „russische Welt“ bis in die hintersten Ecken der Erde, bis in die Antarktis, tragen? (…) Was wollen sie tun, wie sieht die Utopie aus, die Putin der Welt bringt?

https://www.svoboda.org/a/portret-zelenskogo-i-sudjby-mira-/32749028.html
Dmitri Bykow 2019, Foto: Michail Malyschew / 161.ru

Bereits drei Jahre vor dem Angriff Russlands analysierte Dmitri Bykow in einem Gespräch mit dem Schweizer Slawisten Ulrich M. Schmid die Lage in seiner Heimat wie folgt:

In fünf Jahren, nach dem Ende von Putins letzter Amtszeit, wird der Spuk vorbei sein. Die wahre Stütze Putins sind etwa achtzig Prozent der Bevölkerung, die sich überhaupt nicht für Politik interessieren. Sobald sie sich von Putin abwenden – und sie werden es tun – , löst sich die breite Unterstützung in Rauch auf. Diese Menschen haben überhaupt keine Überzeugungen. In Russland gibt es etwa zehn Prozent überzeugte Fortschrittler – ich nenne sie nicht Liberale, weil ich nicht weiß, was ein Liberaler ist. Dann haben wir etwa zehn Prozent Konservative, die sich auf den Geburtsort, die Nationalität und die Geschichte als zentrale Werte berufen. Die übrigen achtzig Prozent sind gleichgültig und schlagen sich jeweils auf die Seite der Sieger.

https://www.nzz.ch/feuilleton/der-russische-starautor-dmitri-bykow-ueber-literatur-und-politik-ld.1518260

Die im ersten Satz aufgestellte Prognose wird sich wohl leider nicht bewahrheiten, Putins Beharrungsvermögen ist größer als von Bykow prophezeit und wird ihm aller Voraussicht nach eine weitere Amtszeit bescheren. Aber die Gleichgültigkeit der russischen Bevölkerung und ihr Desinteresse an Politik scheint eher noch zugenommen zu haben.