RUSSLAND HEUTE

Schon seit Jahren wird in Russland darüber diskutiert, ob man für den Geschichtsunterricht ein landesweit einheitliches Lehrbuch einführen soll. Angeregt hat das 2013 Putin selbst und es damit begründet, der Geschichtsunterricht müsse einer allgemein anerkannten Konzeption der russischen Geschichte folgen und „zum Respekt vor allen Seiten unserer Vergangenheit erziehen“. Damals gab es noch eine öffentliche Diskussion, nicht wenige Historiker sprachen sich dagegen aus und befürchteten eine einseitige Ideologisierung.

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, der Bildungsminister Sergej Krawzow kündigte Ende Januar an, es werde vielleicht noch in diesem Jahr, spätestens aber für das Schuljahr 2024/2025 ein neues, für alle Schulen obligatorisches Geschichtsbuch geben, in dem auch die „Militärische Spezialoperation“ in der Ukraine behandelt werde.

Im Interview mit der regierungsnahen Nachrichtenagentur Regnum gibt Leonid Poljakow, Professor an der Wirtschaftshochschule Moskau, genauere Informationen und Einschätzungen.

Was müssen die Autoren dieses neuen Schulbuchs beachten, wenn sie den Kindern über die militärische Spezialoperation berichten?

Meiner Meinung nach muss es eine völlig neue, klare Einordnung geben: wozu und weshalb. Das ist die Hauptsache. Wozu war die Spezialoperation nötig? Bei vielen Erwachsenen sitzt nämlich noch die Idee „wir haben angegriffen“ in den Köpfen. Diese Idee herrscht im Westen vor, in der Ukraine selbst und bei vielen Bürgern Russlands. Viele denken so. Nichts dergleichen darf es geben. Kein „wir haben angegriffen“. Uns hat man 2014 angegriffen! Nicht wir haben angefangen, sondern wir haben beschlossen, diesem schrecklichen, tragischen Ereignis, das sich über acht Jahre hingezogen und Hunderten, Tausenden Menschen im Donbass das Leben gekostet hat, ein Ende zu setzen.

Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es gilt, die ganze Komplexität der Lage aufzuzeigen. Im Fokus steht nicht so sehr der Konflikt mit der Ukraine als vielmehr der Konflikt mit dem kollektiven Westen und konkret mit der Nato. Das schafft eine völlig neue, eine prinzipiell neue Situation.

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Anfangs wurde von Demilitarisierung und Denazifizierung gesprochen, dann lief es auf eine neue Dimension hinaus – wird Russland überleben oder nicht. Allerdings muss es außer einem Lehrbuch für Geschichte, in dem dieses Thema behandelt wird, auch noch ein Lehrbuch der Gesellschaftswissenschaft geben, in dem man die Situation detaillierter beleuchten kann.

Worin würde der prinzipielle Unterschied zwischen den beiden Herangehensweisen bestehen?

L.P.: In einem Lehrbuch der Gesellschaftswissenschaft kann man den internationalen globalen Kontext erläutern und die Logik aller in diesen Prozess verwickelten Teilnehmer beschreiben. Zum Beispiel die Situation im Jahr 2014, als es in Kiew zum Maidan kam. (…) Ein solches Lehrbuch muss erklären, was heute in der Welt vor sich geht, was das für Russland bedeutet, wer an diesem Kampf um Einfluss, um Hegemonie teilnimmt.

Ist nicht die wichtigste Frage, ob man überhaupt ein Geschichtsbuch mit einem Kapitel über die militärische Spezialoperation herausgeben sollte, solange diese Spezialoperation selbst noch gar nicht beendet wurde?

Eine berechtigte Frage. In einem Geschichtsbuch muss man diesem Thema eine Unterrichtseinheit widmen, in der man das Wichtigste erklärt. Aber seriös und analytisch kann das nur in einem Lehrbuch der Gesellschaftswissenschaft geschehen. Und da ist es nicht wichtig, ob die Spezialoperation schon beendet ist oder nicht. Wichtig ist, dass man begreift, weshalb sie begonnen wurde, welche Ziele man sich gesetzt hat, und der Verlauf dieser Militäroperation sollte zumindest in groben Zügen skizziert werden.

https://regnum.ru/news/society/3776049.html