RUSSLAND HEUTE
Realität vs. Werbung
Die Hochglanzbilder und die blumigen Texte der Immobilienfirmen sind die eine Seite der Medaille (siehe Teil 1), die realen Erfahrungen der Käufer und Mieter die andere. Auf der Seite poselki.rf können diese selbst die verschiedenen Cottage-Siedlungen mit maximal fünf Sternen bewerten und detailliert beschreiben, welche Vor- und Nachteile das Leben in so einer Siedlung für sie hat. Rund 5000 Beiträge aus den letzten zehn Jahren geben einen ganz guten Überblick, was den Leuten gefällt und woran es hapert.
Die weitaus meisten Bewertungen beziehen sich nicht auf die teuren Elite-Siedlungen (über die es so gut wie keine Beschwerden gibt), sondern auf die billigeren Kategorien, Business und Ekonom (oder Komfort) genannt. Und hier gibt es doch etliche Beanstandungen; als Minuspunkte werden besonders häufig aufgeführt: noch nicht gelegte oder schlecht funktionierende Elektro- und Gasanschlüsse, unfertige Straßen und Zugangswege, die versprochenen Kinderspielplätze, Kindergärten oder Geschäfte lassen jahrelang auf sich warten. In manchen Siedlungen steht ein großer Teil der Häuser seit Jahren leer. Gelobt wird dagegen oft die schöne Natur, die Ruhe und die (vermeintliche) Sicherheit.
Nach der Lektüre der Beschwerden gewinnt man den Eindruck, dass viele Leute zu früh dort einziehen, vielleicht, weil in diesem Stadium die Häuser noch billiger zu haben sind oder weil die Baufirmen das schnelle Geld wollen.
Hier zur Illustration einige Wortmeldungen aus dem oben verlinkten Portal.
Straßen und Infrastruktur
Swetlana gibt der Siedlung Usory zwei von fünf Sternen und schreibt:
Es gibt Pluspunkte und große Minuspunkte.
1. Von zwei Seiten Wald, ein Teich für Angler.
2. Die Straßen werden im Winter geräumt, das Gras im Sommer geschnitten.
3. Will man zum Geschäft und zur Haltestelle, geht das nur über die Fahrbahn.
4. Die Fahrbahn ist schmal, zwei Autos kommen nicht aneinander vorbei. Sie ist nicht beleuchtet, Fußgänger, die dort gehen, sieht man nicht. Warum gehen Fußgänger auf der Fahrbahn? Weil es keinen richtigen Bürgersteig und keine Fußgängerzonen gibt. (…) Ich habe ein Baby, mit dem Kinderwagen ist dort zu wenig Platz, also geht man auf der Fahrbahn.
5. Von der Haltestelle und den „Geschäften in der Nähe“ hat man nicht viel. Unsere Nachbarin ist eine ältere Frau und hat große Probleme, sie zu Fuß zu erreichen. Ich würde im Winter bei Schnee mit dem Kinderwagen nicht zur Haltestelle kommen.
6. Die fehlende Beleuchtung bei Nacht kann zu traurigen Folgen führen.

Sergej bewertet die Siedlung Solnetschny Gorod („Sonnenstadt“) mit fünf Sternen, trotz einiger Mängel, und resümiert:
Eine sehr passable Siedlung. Die Zahl der Bewohner hat sich stabilisiert. Die Straßen sind asphaltiert und werden im Winter geräumt. Seit letztem Jahr ist der Wasserdruck bestens – die nötigen Reparaturen wurden gemacht. Die Kanalisation funktioniert. Gas ist da. Wasser ist da und kostet nichts. Security, Kontrollpunkt. Service. Ein vernünftiger Verwalter.
Ein Supermarkt. Eine Wäscherei. Ein Reifendienst. Für Fahrten im Wald kann man einen Quad mieten.
Müllabfuhr. Stromkapazität reicht aus. Die Gasversorgung reagiert je nach Bedarf und wird mehrmals jährlich kontrolliert.
Ein Sammeltaxi zur Metro und zurück ist für die Bewohner kostenlos.
In der Nähe gibt es eine Bäckerei mit Lieferservice, ein Restaurant, einen Reitclub. Zugang zum Wald.
Minuspunkte – es gibt ein paar verlassene Objekte (Sportplatz und Haus an der Einfahrt). Der Kinderspielplatz ist erbärmlich. Was fehlt – ein guter Internet-Provider, schöne Gebiete zum Spazierengehen und Spielmöglichkeiten für Kinder.


Die Siedlung Rusa Family Park gehört zur Business-Kategorie, also zur mittleren Preisklasse. Sergej (ein anderer Sergej) bewertet sie mit vier Sternen und hebt als Pluspunkte u. a. hervor:
Riesiges Territorium, großes Gelände, um mit den Kindern spazieren zu gehen, große Kinderspielplätze, wie in den Moskauer Parks.
Infrastruktur! Das ist einer der Hauptvorteile: eigenes Restaurant, ein Spa-Salon, ein Kinderclub, sogar eine eigene Käserei. Man fühlt sich wie in einem guten Hotel auf dem Land, aber mit eigenem Grundstück und Privatsphäre.
Alle kommunalen Dienste arbeiten sehr gut: Ich lebe hier das ganze Jahr, auch im Winter, die Straßen sind immer sauber, die Grünflächen gemäht, die Elektrizität fliegt nicht raus, Gas gibt es in der ganzen Siedlung, Putzdienst fürs Haus kann man bestellen.
Niedrige kommunale Gebühren, verglichen mit anderen Siedlungen dieser Kategorie.
Nur die relativ große Entfernung zu Moskau ist ein Nachteil:
65 Kilometer bis zur Ringstraße, das ist mehr als bei den meisten Siedlungen dieser Kategorie, die Entfernung ist größer, man verbraucht mehr Benzin. Aber in Nowaja Riga kommt man gewöhnlich schnell durch, eine Stunde zehn Minuten ohne Stau, mit Stau anderthalb Stunden.

Lärm und Leerstand
Lif wohnt in einer Siedlung namens Russkaja Skaska („Russisches Märchen“). Das Märchen bekommt aber nur zwei Sterne von ihm oder ihr:
Eine Siedlung mit großen Ambitionen, die nicht realisiert wurden. Sie besteht zum größten Teil aus Standard-Fertighäusern aus Backstein oder Holz. Die Häuser wurden 2014 gebaut, sie sind groß, aber kalt. Die Hälfte ist unbewohnt, einige Häuser sind gar nicht erschlossen, manche Grundstücke schon im Stadium der Grundsteinlegung aufgegeben worden.
Schuld daran sind drei Gründe:
- Kein Anschluss an eine Hauptgasleitung, die Häuser von 2014 sind nicht energieeffizient.
- Die Nähe der Straße. Die Straße befindet sich oberhalb der Siedlung, etwa 30 bis 50 Meter von den Häusern entfernt. Die erlaubte Geschwindigkeit ist 90 km/h. Der Lärm von den Autos beträgt 60 bis 65 Dezibel (haben wir mit einem Dezibelmesser gemessen).
- In der Nähe gibt es billigere Grundstücke, weiter weg von der Straße und mit Gasanschluss.

Eine Siedlung für junge Optimisten
Andrej gibt der Siedlung Favorit trotz erheblicher Bedenken immerhin noch drei Sterne:
Alle Versprechen der Baufirma im Lauf der letzten 3 – 4 Jahre sind Versprechen geblieben. (…) Es gibt im Grunde noch gar keine Siedlung. Im März 2020 waren 50 Häuser bewohnt. Gebaut wurden bisher so um die 250 – 300 (insgesamt sind es 1200 Grundstücke). Eine große Zahl von Problemen: Gas, Straßen, Spielplätze, Erholungsgebiete. Die Arbeiten gehen seeehr langsam voran. Wenn Sie Optimist und noch jung sind, dann können Sie hier kaufen – es ist ein schöner Ort … schade, dass er einem solchen Developer zugefallen ist.

Gefragt: Ruhe und Sicherheit
Alexander gibt der Siedlung Krasnye Prudy („Rote Teiche“) fünf Sterne und hebt besonders die Sicherheit hervor:
Ich habe hier ein Haus gekauft, um hier das ganze Jahr mit meiner Familie zu wohnen. Mir gefällt absolut alles. Besonders, dass die Siedlung bewacht ist. An der Einfahrt gibt es einen Schlagbaum mit einer Wache und Videokameras. Man braucht keine Angst um seine Kinder zu haben und kann selbst jederzeit nach draußen. Früher haben wir in der Stadt gewohnt und waren ständig unter Stress. Hier ist Ruhe und Frieden.
Ähnlich positiv äußert sich Marina über die Siedlung Karelski Bris („Karelische Brise“):
Mir gefällt an der Siedlung, dass sie bewacht wird und dass die Leute hier das ganze Jahr leben und nicht nur im Sommer. In unserer Zeit sollte die Sicherheit an erster Stelle stehen. Und an zweiter Stelle – gute Straßen. Und die gibt es hier auch, mit einem guten Drainagesystem, sodass sie lange halten werden.
Sergej sieht das zumindest für die Siedlung Greenwich anders:
Gas und Elektrizität kriegt man auch im Dorf. Dafür braucht man nicht unbedingt den schönen Namen Greenwich. Die Wache bewacht nur den Stuhl, auf dem sie sitzt. Die Sicherheit der Bewohner ist das persönliche Problem der Bewohner. Lärm von der Chaussee. Keine Schulen und Kindergärten in der Nähe.
„Ich bin hier auf Gottes Befehl!“
Vor zwei Jahren ging die Geschichte eines bewaffneten Überfalls in einer Elite-Siedlung durch die russischen Medien und ramponierte den Glauben an die Sicherheit und den hundertprozentigen Schutz durch Security-Personal und Videoüberwachung ganz erheblich.
Aus dem sibirischen Krasnojarsk war damals ein 35jähriger Mann namens Wjatscheslaw Tschernenko nach Moskau gekommen. Tschernenko checkt am 12. Juli 2023 in einem Hotel nicht weit entfernt von der Cottage-Siedlung Sherwood ein – eine Siedlung der teuren Elite-Kategorie mit vielen prächtigen Villen, Parkanlagen und Security – und bucht ein Zimmer für zehn Tage. Am letzten Tag, dem 22. Juli, nimmt er sich ein Taxi und fährt damit bis zu der Straße, die an Sherwood vorbeiführt. Dort steigt er aus, zieht einen braungrün gefleckten Tarnanzug über seine Kleidung, streift sich eine Sturmhaube über den Kopf und klettert über einen Zaun auf das Gelände der Siedlung, an der Stelle, wo sich eine der teuersten Villen von Sherwood befindet. Sie ist gerade unbewohnt und steht für 1,2 Milliarden Rubel zum Verkauf.
In einer großen Tasche schleppt Tschernenko zwei Automatikgewehre der Marke Kalaschnikow und ein Jagdgewehr mit, außerdem ein halbes Dutzend Granaten, jede Menge Patronen und mehrere Flaschen mit einem selbstgemixten Brandbeschleuniger. Er schlägt ein Fenster der Villa ein. Als der Alarm losgeht, kommen zwei Security-Männer und ein Wächter angelaufen, die er mit vorgehaltenem Gewehr ins Haus zwingt und in einem Zimmer einsperrt (aus dem sie sich durch ein offenes Fenster bald wieder befreien können). Er selbst verbarrikadiert sich im oberen Stockwerk und eröffnet das Feuer, als die Polizei eintrifft.
Die Polizei versucht, mit dem Mann zu verhandeln und herauszubekommen, was er will. Offenbar befindet er sich in einem psychischen Ausnahmezustand, er ruft: „Ich bin hier auf Gottes Befehl!“ und erklärt, er sei vor kurzem von der Front in der Ukraine zurückgekehrt. Diese Villa habe er sich aus dem Internet herausgesucht, weil sie die teuerste war, die er finden konnte: „Warum sollte ich hier nicht leben dürfen, wenn andere das können? Ich werde hier wohnen!“ Erst nach über fünf Stunden gelingt es der Polizei (die die ganze Zeit sehr darauf bedacht ist, die kostbare Villa nicht unnötig zu beschädigen), den Hausbesetzer mit Gas zu betäuben und die Villa zu stürmen. Der Mann wird dabei erschossen.

Diese Geschichte kann man natürlich unter verschiedenen Aspekten betrachten, zum Beispiel: Welche psychischen Folgen hat ein Einsatz im Ukrainekrieg? Kann er zu solchen wahnhaften Zuständen führen? Oder: Was bewirken die krassen sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich? Der 35jährige Täter teilte sich am Stadtrand von Krasnojarsk eine Einzimmerwohnung mit seiner Mutter. Die von ihm besetzte Villa stand auf einem 2000 qm² großen Grundstück, war im Innern üppig mit Marmor und Blattgold verziert und verfügte über ein Schwimmbassin, einen Fitnessraum und ein Billardzimmer, unter anderem.
Aber für die Öffentlichkeit war ein weiterer Umstand noch verstörender: Wie kann es sein, dass ein schwerbewaffneter Mann ungehindert auf das Gelände einer angeblich bestens gesicherten Siedlung für Superreiche eindringt, die Security ausschaltet und stundenlang Angst und Schrecken verbreitet? Das Vertrauen in die vielgepriesene Sicherheit der Elite-Siedlungen war mit einem Schlag schwer erschüttert.
Auch die Reichen sind nicht sicher
Im Moskauer Online-Magazin msk1.ru sprach der Jurist und ehemalige Staatsanwalt Alexej Fedjarow die unbequemen Wahrheiten deutlich aus:
Diebstähle, Einbrüche und Raubüberfälle sind in den Elite-Siedlungen der Rubljowka, Iljinka und in Nowaja Riga längst Alltag.
Die Hauptgefahr drohe allerdings nicht von verwirrten Einzeltätern wie dem jungen Mann aus Krasnojarsk – gewöhnlich seien es organisierte Banden, die hochprofessionell agieren und denen die Security-Firmen und ihre Männer nichts entgegenzusetzen haben.
Die Arbeit [in den Elite-Siedlungen] wird gut bezahlt, das Kontrollsystem ist rigoros, jede Security-Firma wird solche Konditionen schätzen. (…) Aber gegenüber diesen Banden ist ihr Wert gleich Null.

Die überall angebrachten Überwachungskameras hält Fedjarow für Augenwischerei, für eine Form von „Selbstbeschwichtigung“:
Ich will gar nicht die komplizierten Mechanismen beschreiben, mit denen eine kriminelle Bande ein Objekt für einen Überfall aussucht. Ich sage nur, es gründet sich immer auf Informationen, meist von Insidern. Wächter, Chauffeure, Stubenmädchen, Köche, Nachbarn, Angestellte der kommunalen Dienste – über eure Häuser wissen viele Bescheid.
Fedjarow bemängelt weiter, dass die meisten Siedlungen nur im Einfahrtsbereich mit Überwachungskameras ausgerüstet sind. Eine wirklich umfassende Überwachung, die auch Randbereiche, Mauern und Zäune einschließt, gibt es nur in sehr wenigen Siedlungen.
Die Kameras in den Siedlungen haben meist nur eine niedrige Bildauflösung. Aber selbst wenn die Auflösung hoch ist – was nützt ein Video von maskierten Männern, die ein Haus betreten, etwas heraustragen und wieder wegfahren? (…) Die Straßenkameras dieser Elite-Siedlungen sind auch nicht sehr hilfreich. Meist sind es Kameras der FSO [Schutzdienst für hochrangige Staatsbeamte], die ihre Informationen nicht mit dem Innenministerium teilt. Das ist eben nicht Moskau mit seinem System der Gesichtserkennung.
Noch ein Schwachpunkt laut Fedjarow: Die Wache an der Einfahrt überprüft oft nur die Nummernschilder der Autos und lässt sie passieren, ohne zu kontrollieren, wer oder was sich im Inneren befindet.
Die Aufklärungsquote der Einbrüche ist äußerst gering. Viele kommen gar nicht erst zur Anzeige, weil die Geschädigten keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Trotzdem ist in den letzten Jahren eine Reihe von prominenten Opfern bekannt geworden:
- Martin Schaffer, Generaldirektor der PPF Real Estate Russia, einer in Moskau ansässigen Immobilien-Investment-Gesellschaft (ausgerechnet). Aus Schaffers Villa in Barwicha wurden Geld und Gegenstände im Wert von rund 20 Millionen Rubel entwendet.
- Ella Pamfilowa, Politikerin und Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation. Sie wurde 2019 von einem maskierten Mann mit einem Elektroschocker angegriffen, als sie spät abends ihre Terrassentür öffnete, um ihre Katze hereinzulassen. Der Mann war gerade im Begriff gewesen, durch ein Fenster in ihr Haus einzusteigen. Frau Pamfilowa konnte ihn mit einem Stuhl in die Flucht schlagen und kam mit leichten Verletzungen und einem großen Schrecken davon.
- Roman Saizew, ein General und hoher Beamter im Innenministerium, der ein Haus in der Siedlung Belgijskaja Derewnja („Belgisches Dorf“) sein Eigen nennt. Er wurde 2015 Opfer eines Einbruchdiebstahls, wie mir24.tv berichtete. Dabei wurden ihm seine Sammlungen von teuren Parfums und Edelspirituosen entwendet: „Roman Saizew meldete den Diebstahl von Parfums der Marken Boss und Chanel sowie den Verlust von Flaschen mit wertvollem Kognak, Wein und Rum, deren Namen er nicht im Einzelnen aufführte.“