RUSSLAND LITERARISCH

Die „Elektronekrasowka“

Das ist meine liebste Online-Bibliothek, die in diesen Tagen gerade fünf Jahre alt geworden ist. Sie ist der digitale Ableger der Nekrasow-Bibliothek in Moskau – im analogen Leben gibt es sie schon seit 1919. Bei ihrer Gründung hieß sie noch „Zentrale Städtische Bibliothek Moskau“, und den Grundstock ihres Bestandes bildeten sogenannte „nationalisierte Privatbibliotheken“.

Geschichte der analogen Bibliothek

Dahinter verbirgt sich ein eher trauriges Kapitel russisch-sowjetischer Geschichte. Es handelt sich nämlich um die Bücher der Russen, die nach der Revolution geflohen sind oder die deportiert wurden und die ihren Besitz und auch ihre Bücher zurücklassen mussten – oft große und wertvolle Sammlungen. Es war Glück im Unglück, dass sich mit Alexander Pokrowski (1879 – 1942) ein Bibliothekswissenschaftler fand, der dafür sorgte, dass nicht alle Bücher auf dem Abfall landeten oder verfeuert wurden. Er begründete die Bibliothek und war bis 1936 (nach anderen Quellen 1931) ihr erster Direktor. Die Räume, in denen er die geretteten Bücher unterbrachte, befanden sich in der großen, 20 Zimmer umfassenden luxuriösen Privatwohnung eines nach Frankreich emigrierten jüdischen Juristen an der Nowaja-Basmannaja-Straße.

Die neue Bibliothek wuchs rasch, wechselte in den folgenden Jahrzehnten mehrmals den Standort und 1945 auch den Namen – seitdem heißt sie zu Ehren des Dichters Nikolai Nekrasow „Zentrale Universale Wissenschaftliche Bibliothek N. A. Nekrasow“ oder einfach „Nekrasowka“.

Angebote der digitalen Bibliothek

Seit 2018 gibt es die Bibliothek auch in elektronischer Form als „Elektronekrasowka“. Sie umfasst inzwischen fast 100.000 Titel (Stichtag heute – 98.404): Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Ausstellungskataloge, Sammlungen von Plakaten, Postkarten und Fotografien, Audiodateien, Podcasts zu verschiedenen Themen, und sie wächst täglich. Die meisten online gestellten Titel sind „Public Domain“, man kann sie nicht nur lesen oder anschauen, sondern auch herunterladen. Titel, die noch dem Copyright unterliegen, kann man nicht vergrößern oder abspeichern, sie sind mit einem kleinen Vorhängeschloss gekennzeichnet.

Das ist der Link: https://electro.nekrasovka.ru/

Das Menü gibt es auf Russisch und auf Englisch, sodass man auch ohne russische Sprachkenntnisse in den Beständen stöbern kann. Die Navigation ist einfach und intuitiv erfassbar, und auch ästhetisch ist die Seite sehr ansprechend gestaltet.

Screenshot von der Website der „Elektronekrasowka“

Historische Zeitungen und Zeitschriften

Mich haben anfangs vor allem die Periodika, also die Zeitungen und Zeitschriften, als seltene und sonst schwer zugängliche historische Dokumente und Quellen oder einfach als spannende Lektüre aus längst vergangenen Zeiten fasziniert. Nirgends im Internet habe ich bisher eine vergleichbar riesige Sammlung gefunden, in der man Seite für Seite in bester hochaufgelöster Qualität lesen kann. Allein 3270 Ausgaben der „Prawda“ der Jahrgänge 1934 bis 1950 stehen z. B. zur Verfügung, jede Seite einzeln les- und abspeicherbar.

Titelseite der „Prawda“ vom 1. Januar 1937, Ausschnitt

Außer Tages- und Wochenzeitungen findet man viele Fachzeitschriften vom Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, vor allem zu den Themen Kunst, Technik, Architektur, Film, Mode. Die meisten natürlich auf Russisch – aber es gibt auch eine ganze Reihe deutscher, englischer und französischer Zeitschriften, so die berühmte Kunst- und Literaturzeitschrift „Jugend“ (80 komplette Ausgaben von 1896 bis 1918) oder das englische Satireblatt „Punch“ (22 Ausgaben von 1880 bis 1882).

Screenshot: Zeitschrift „Jugend“, 1896
Screenshot: Zeitschrift „Punch“, 1880

Besonders umfangreich ist die Sammlung historischer Zeitschriften zu Gebrauchsgrafik und Werbung – eine Fundgrube für Spezialisten und Liebhaber.

Titelblatt und Seite 1 bis 7 der Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“, 1930 (Screenshot)

Bücher, Plakate, Fotos

Unter den etwa 3000 bis jetzt digitalisierten Büchern sind viele seltene alte Ausgaben – das älteste Werk aus dem Jahr 1564 ist ein berühmtes Lehrbuch der Architektur, verfasst vom italienischen Baumeister Jacopo Barozzi da Vignola, der u. a. die Kirche Il Gesù in Rom gebaut hat (siehe den Link weiter unten).

In der Kategorie „Isoteka“ („Visuals“) findet man Plakate, Fotografien, historische Werbung. Relativ neu ist eine Kinderabteilung („For Kids“/“Детям“) mit Märchenbüchern, ABC-Fibeln und Comics aus den 1920er Jahren.

Die „Elektronekrasowka“ ist frei zugänglich, man muss sich nicht registrieren, nichts bezahlen, nichts abonnieren, es gibt keine nervige Werbung, nicht einmal Cookies. Für diese tolle Internetseite hat die Bibliothek einen Preis bekommen – hochverdient.

„Journal für die Hausfrau“, Mai 1915

Zum Schluss noch ein paar Direktlinks.

Der erste führt zu historischen Kinderbüchern in verschiedenen Sprachen, französisch, russisch, deutsch: https://electro.nekrasovka.ru/en/collections/50?page=2

Der zweite Link führt zu verschiedenen deutschen Zeitschriften für Kunst und Grafik: https://electro.nekrasovka.ru/editions?page=1&category=29

Und der dritte zum ältesten Buch der Bibliothek, der „Regola“ des Architekten Jacopo Barozzi da Vignola, Erstausgabe von 1564: https://electro.nekrasovka.ru/books/3070