Es ist ein ungewohntes Bild: Seit Anfang Juni bilden sich wieder lange Schlangen vor dem Leninmausoleum auf dem Roten Platz. Und zum großen Teil sind es keine ausländischen Touristen, die dort stehen, sondern Russinnen und Russen, oft aus Moskau selbst, und die bis zu zwei Stunden geduldig auf Einlass warten, um einen Blick auf den einbalsamierten Führer des Proletariats zu werfen.

„Menschenschlangen vor dem Leninmausoleum wegen Schließung zur Restaurierung“, Screenshot von der Website afisha.ru

Grund für diesen plötzlichen Andrang ist die Ankündigung, dass das Mausoleum wegen Restaurierungsarbeiten voraussichtlich bis Mitte 2027 geschlossen wird. Kürzere Schließungen hat es immer mal wieder gegeben, so erst Anfang 2025, da mussten die Besuchertoiletten instand gesetzt werden. Und alle zwei Jahre steht turnusmäßig eine „Auffrischung“ des Leichnams an.

Eine derart lange Schließung, wie jetzt angekündigt (ein genaues Datum steht noch nicht fest), ist ungewöhnlich, und natürlich vermuten die Leute, dies könnte die letzte Gelegenheit sein, noch einmal Lenin im Sarkophag zu sehen. Schon seit einigen Jahrzehnten wird in Russland darüber diskutiert, ob es nicht angemessener sei, Lenins sterbliche Überreste zu bestatten; inzwischen ist die Mehrheit dafür, nur noch 33 % dagegen. Er selbst hat einen solchen makabren Totenkult nie gewollt, und auch seine Witwe Nadeschda Krupskaja protestierte, vermochte sich aber gegen Stalin nicht durchzusetzen.

Schwarzer Labradorstein und roter Granit: So sieht das Mausoleum seit 1930 aus. (Chromolithographie, 1931)

Reaktionen aus der Bevölkerung

Die Moskauer Internetzeitung msk1.ru veröffentlichte am 16. Juni 2025 unter dem Titel „Beisetzen oder erhalten?“ („Захоронить или сохранить?“) einen längeren Artikel zu diesem Thema und sammelte Aussagen und Ansichten von Besuchern:

Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt und ehrt, ist ein schlechtes Volk. Die Geschichte ist das Lehrbuch zum Wissen der Gegenwart.

In Ägypten besuchen die Touristen auch dauernd die Pyramiden mit den Mumien, und alle finden es interessant.

Das ist ein Zeichen des Respekts dem Mann gegenüber, der den Menschen in Russland kostenlose Bildung, medizinische Versorgung und Wohnraum gegeben hat. Er war es, der das Land auf den Weg des Fortschritts gebracht hat!

Dank Lenin konnten die armen, aber klugen Menschen zur Schule gehen. Die Jugend von heute weiß nicht, wer er war und was er für das Volk getan hat.

Unter dem Artikel wurde in der Kommentarspalte lebhaft und deutlich kontroverser weiter diskutiert:

Jetzt leben wir schon 25 Jahre im 21. Jahrhundert. Lenins Tod liegt 101 Jahre zurück. Natürlich muss man ihn bestatten (aber das Gebäude des Mausoleums als Denkmal stehen lassen) und auch alle in der Kremlmauer und daneben umbetten.

Na, dann können wir doch auch gleich Stalin wieder ausbuddeln und neben Lenin legen. Was noch von ihm übrig ist. Ein Leichnam muss der Erde übergeben werden. So sagt es unser orthodoxer Glaube. Das Gebäude selbst kann man stehen lassen, zur Erinnerung. Außerdem sollte man keine Tänze und Konzerte mehr auf einem Friedhof veranstalten. Denn der Rote Platz ist eine Art Friedhof, und wir sind keine Teufel, die auf Knochen tanzen.

(Anmerkung: Neben dem Mausoleum befindet sich noch der Ehrenfriedhof an bzw. in der Kremlmauer, wo in Einzel-, Gemeinschafts- und Urnengräbern Hunderte bekannter Persönlichkeiten bestattet sind, von Clara Zetkin über Gorki und Gagarin bis zu Stalin und Breschnew. In unmittelbarer Nähe dazu finden auf dem Roten Platz seit Jahren Großveranstaltungen wie Konzerte oder Märkte statt. Im Winter wird regelmäßig eine große Eisbahn aufgebaut. Darauf bezieht sich die Kritik, dass die Menschen „auf Knochen tanzen“.)

Es ist längst Zeit für eine Beisetzung, auf humane Weise. Ein ganzes Institut arbeitet dort. Wahnsinnsgelder gehen dafür drauf, aber lebendige arme Rentner haben nicht genug zum Leben. Macht aus dem Mausoleum einfach ein Museum, und basta!

Vor Lenin waren alle Menschen in Russland Sklaven. Dank Lenin wurden sie zu gebildeten, klugen, gesunden, kultivierten Menschen. Ein Genie, vergleichbar mit Lenin, gab es nicht und gibt es nicht. Das sage ich als entschiedener Gegner des Kommunismus. Ich ziehe den Kapitalismus vor. Aber das außergewöhnliche, unerhörte, unwiederholbare Genie Lenins respektiere ich und erkenne seine Verdienste an. Sollen seine sterblichen Überreste im Mausoleum bleiben. Abgesehen von der unschätzbaren historischen Bedeutung sind sie auch wissenschaftlich und genetisch sehr wertvoll.

Das Mausoleum in Crowdfunding überführen. Sollen die, die für die Erhaltung sind, diese Show auch bezahlen.

Putin und Lenin

Und was meint man im Kreml?

2012 machte Wladimir Medinski, damals Kulturminister, einen Vorstoß und forderte öffentlich (wahrscheinlich mit Putins Zustimmung oder sogar auf seine Veranlassung), Lenin endlich zu begraben, natürlich „mit allen Ehren, einem militärischen Salut und an einem würdigen Ort“, und aus dem Mausoleum ein Museum für sowjetische Geschichte zu machen. Er erntete Zustimmung, aber auch empörte Gegenwehr, vor allem, wie nicht sonderlich überraschend, von der Kommunistischen Partei. Und es blieb erst einmal alles beim Alten.

Putin hält bekanntlich nicht viel von Lenin – 2016 sagte er, „Lenin habe eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt“. In der Rede, die er am 21. Februar 2022 drei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine hielt, präzisierte er diesen Vorwurf mit folgenden Worten:

Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann im Grunde gleich nach der Revolution von 1917. Lenin und seine Mitstreiter gingen dabei äußerst rücksichtslos gegen Russland selbst vor, von dem Teile seiner eigenen historischen Gebiete abgetrennt und abgestoßen wurden. Die Millionen Menschen, die dort lebten, hat natürlich niemand gefragt.

(Zitiert nach: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/, Hervorhebung von mir.)

Das Verhältnis der Kommunisten zu Lenin verglich er 2018 mit der Heiligenverehrung im Christentum:

Lenin hat man in ein Mausoleum gelegt. Wo ist der Unterschied zu den Reliquien der Heiligen? (…) Im Grunde haben die damaligen Machthaber sich nichts Neues ausgedacht. Was die Menschheit längst erfunden hatte, haben sie einfach an ihre Ideologie angepasst.

Zuletzt äußerte er sich dazu in der alljährlichen TV-Sendung „Direkter Draht“ („Прямая линия“) im Dezember 2024, in der Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen können, die er live beantwortet: Grundsätzlich sei er der Meinung, Lenin müsse irgendwann beerdigt werden, jetzt sei es aber noch zu früh, da viele Menschen, die noch in der Sowjetzeit geboren und aufgewachsen seien, das nicht akzeptieren würden: „Aber heute, besonders im heutigen Russland, dürfen wir keinen Schritt tun, der unsere Gesellschaft spalten könnte.“

Gut möglich aber, dass die geplante Schließung ein Test ist, ob der in solchen Dingen sehr vorsichtige Putin es nun riskieren kann, Lenin endgültig zu entfernen.

Keine „Entleninisierung“

Aus dem öffentlichen Raum wird Lenin deshalb nicht verschwinden. Lenin-Denkmäler gibt es in Russland weiterhin in großer Zahl, allein in Moskau ca. 200, im ganzen Land sind es um die 6000. Am meisten verbreitet ist die Variante des auf einem Postament stehenden Lenin, der mit erhobenem rechten Arm in die Ferne weist – in die sprichwörtliche „lichte Zukunft“ des Kommunismus.

Auf eine ungewöhnliche Skulptur möchte ich noch eingehen, ein Lenin-Denkmal, das nicht so bekannt ist und an einem Ort fern von den großen Besucherströmen steht. Es ist meines Wissens das einzige Denkmal, das den toten Lenin zeigt, wie ihn acht Männer auf ihren Schultern tragen. Dieses „Heraustragen des Leichnams“ (russisch „вынос тела“) ist ein Bestandteil der Bestattungszeremonie und folgt auf die Aufbahrung im Haus; gewöhnlich wird der Tote natürlich im Sarg herausgetragen und so zum Friedhof gebracht.

Das Denkmal steht in Gorki Leninskie, einem kleinen Ort im Moskauer Gebiet, im Park eines klassizistischen Herrenhauses aus dem 19. Jahrhundert. In dieses Haus zog sich Lenin in seinen letzten Lebensjahren häufig zur Erholung zurück, hier ist er 1924 auch gestorben. Das Herrenhaus ist heute ein Lenin-Museum.

Die Skulptur hat eine lange und schwierige Geschichte. Geschaffen wurde sie bald nach Lenins Tod von dem Bildhauer Sergej Merkurow, der Lenin persönlich gekannt hatte. Merkurow lehnte sich bei der Gestaltung an antike Vorbilder und ein ähnliches Denkmal im Invalidendom in Paris an. Sein Entwurf aus Gips wurde jedoch abgelehnt – angeblich sei Lenin nicht ähnlich genug getroffen. Vor allem aber stieß sich die offizielle Jury daran, dass die acht Männer, die Lenin trugen, nackt waren. Lenin selber war mit einem Überwurf bedeckt. Merkurow besserte nach und bekleidete die Träger in einem neuen Entwurf mit langen Hosen, Hemden und Schuhen, sodass sie wie Arbeiter aussahen. Diese Variante wurde akzeptiert, aber bis das Denkmal dann tatsächlich in Granit ausgeführt und aufgestellt wurde, dauerte es noch über zwei Jahrzehnte. Seit 1949 steht es im Park des alten Herrenhauses.

Foto: Aleksey Puzyrev / Wikimedia Commons (Ausschnitt)

Bekannt ist das Denkmal unter verschiedenen Namen: „Tod des Führers“, „Bestattung des Führers“, „Arbeiter tragen den Leichnam von Wladimir Iljitsch“. Die russische Wikipedia hat seiner Geschichte einen ausführlichen und sehr interessanten Artikel gewidmet.