Deutschland aus der Perspektive eines russischen Studenten
Letzten Monat veröffentlichte die Moskauer Internetzeitung msk1.ru den Bericht eines 25jährigen Studenten, der seit 2019 in Berlin studiert und arbeitet. Der Artikel fügt sich ein in eine ganze Reihe ähnlicher Artikel der letzten Wochen, die dem Leser offenbar demonstrieren sollen, dass im Westen auch nicht alles Gold ist, was glänzt, und dass Russen in der Fremde nicht heimisch und glücklich werden können. Die zahlreichen Leserkommentare unter dem Bericht zeigen allerdings, dass diese Botschaft nicht wirklich angekommen ist. Aber dazu weiter unten, hier zunächst die wichtigsten Passagen aus dem Artikel selbst.
„Niemals im Leben bleibe ich hier“ – Der ehrliche Bericht eines Russen, der nach Deutschland ging und von dem Land enttäuscht ist
Die Deutschen, sagt er, leben in einem System von Verboten, und die Jugend fährt möglichst weit weg
Der 25jährige Matwej M. wurde in Domodedowo bei Moskau geboren. An der Moskauer Universität für Völkerfreundschaft bestand er die Bachelor-Prüfung und beschloss dann, sich einen alten Traum zu erfüllen und den Magister in Deutschland zu machen. Nach vier Jahren, die er dort verbracht hat, ist der junge Mann von vielem enttäuscht und sagt jetzt, dass er in diesem Land bestimmt nicht bleiben wird.
Wir befragten Matwej zu den Plus- und Minuspunkten des Lebens in Deutschland. Hier ist sein ehrlicher Bericht.
Ich bin 2019 nach Deutschland gegangen. Vorher hatte ich ein Sprachexamen abgelegt und mein Bachelor-Diplom anerkennen lassen. Deutschland hatte ich ausgesucht, weil man dort auf Englisch studieren kann und weil das Studium an allen staatlichen Universitäten kostenlos ist. Einzige Bedingung ist, dass du an einem Programm teilnimmst, das mit deinem Bakkalaureat zusammenhängt.
So kam ich an die Technische Universität Berlin, Spezialfach „Geodäsie und Geoinformationstechnik“. Ehrlich gesagt, mit dem Studium hat es bei mir nicht funktioniert, das ist eine langweilige Schinderei, die einen total schlaucht. Das Studium beansprucht die komplette freie Zeit. Das ist aber nur an den Top-Unis so – an Unis in kleineren Städten ist die Belastung geringer. (…)
Parallel dazu arbeite ich bei der Fahrradfirma Upway. Sie befasst sich mit dem Wiederverkauf und Upgrade von E-Bikes: Wir kaufen alte Räder, reparieren sie, bringen sie in einen guten Zustand und verkaufen sie dann weiter. So eine Art Second Hand.
Ich arbeite dort an zweieinhalb Tagen in der Woche und bekomme dafür 1150 Euro (ungefähr 117.000 Rubel). Davor habe ich auch in einem Fahrradladen gearbeitet, zwar weniger verdient, aber dafür hat man mir die Versicherung bezahlt, immerhin 124 Euro im Monat.
Ein Führerschein für 225.000 Rubel und eine Steuer aufs Radio
Nach russischen Maßstäben ist das Leben hier ziemlich teuer. Die Miete für eine normale Wohnung beträgt zum Beispiel mindestens 1000 Euro. Überhaupt wird in Deutschland alles immer teurer. Hühnerfleisch zum Beispiel, 400 g kosten 350 Rubel. Für 500 g Rindfleisch muss man 500 Rubel hinlegen.
Um den Führerschein zu bekommen, bezahlt man alles in allem so um die 2500 Euro (255.000 Rubel). Das ist sogar für Deutsche ziemlich teuer, denn der Durchschnittslohn beträgt 1800 bis 2000 Euro auf die Hand.
Erst kürzlich ist auch die Krankenversicherung teurer geworden. (…) Vom Mobilfunk will ich gar nicht reden. Er kostet einen Haufen Geld und funktioniert grottenschlecht. Ich zahle dafür 2000 Rubel monatlich – mein Tarif umfasst SMS und Anrufe ohne Limit und unbegrenztes Internet, das sehr langsam arbeitet, besonders auf dem Land. Außerdem müssen alle Bürger eine Steuer auf Radio und Fernsehen zahlen, egal, ob man es nutzt oder nicht. Fast 2000 Rubel dafür, dass man nicht mal ein Radio oder einen Fernseher hat.
Student Matwej M. in Berlin, Foto: msk1.ru
„Wenn es schneit, bricht alles zusammen“
Gewöhnlich sieht mein Alltag so aus: Ich wache auf, gehe zur Arbeit, komme etwa um 17 Uhr nach Hause, höre Musik und ruhe mich aus. Am Wochenende bin ich meist unterwegs. In Deutschland gibt es eine Abo-Karte, das 49-Euro-Ticket, damit kann man in allen öffentlichen Verkehrsmitteln fahren außer in Schnellzügen. Letztes Wochenende bin ich zum Beispiel nach Dresden gefahren. (…)
Aber auch das klappt nicht reibungslos. In den vier Jahren, in denen ich in Russland mit Regionalzügen gefahren bin, hatten sie vielleicht fünfzehnmal Verspätung. Aber hier ist wirklich jedes Mal, wenn man mit der Deutschen Bahn (dem wichtigsten Eisenbahn-Unternehmen in Deutschland) fährt, der Zug entweder verspätet oder es wird gerade die Strecke repariert. Wenn irgendwas passiert – wenn es beispielsweise schneit -, dann bricht alles zusammen, Kollaps, Katastrophe, die Züge fahren nicht, nichts funktioniert.
Ein großer Party-Kult
Die schöne Natur in Deutschland gefällt mir. Alles wird gut gepflegt, Wälder, Seen, Teiche werden in gutem Zustand gehalten. Es wird viel dafür geworben, dass die Natur sorgsam behandelt werden muss. Deshalb ist es auf den Straßen sauber. Mir gefällt auch, dass man unkompliziert reisen kann, besonders innerhalb der EU. Aber insgesamt gibt es mehr Minuspunkte.
Deutschland ist ein sehr langweiliges Land. Hier gibt es nichts zu tun. Die Berliner haben drei Arten, sich zu amüsieren: Alkohol, Drogen und Klubs oder alle drei Sachen zusammen. Man kann natürlich auch Radtouren machen oder an den See fahren, aber mein Eindruck ist der, dass sich in der Hauptstadt alles um Partys dreht.
Gleichzeitig haben die Deutschen wenig Lust, Kontakte zu Ausländern zu knüpfen. Sie betrachten dich nicht als einen der Ihren. Zumindest habe ich nie erlebt, dass man als Fremder gern in ihre Gesellschaft aufgenommen wird, besonders, wenn man kein Deutsch spricht. Wegen eines einzigen Menschen verständigen sich nicht alle plötzlich auf Englisch.
Eine negative Einstellung gegenüber Russen habe ich aber nicht bemerkt. Das erlaubt ihnen auch die eigene Geschichte nicht, die junge Generation kann dagegen nichts sagen. Sie sind alle ganz nett zu einem, aber ich weiß nicht, worüber sie untereinander sprechen.
Und außerdem gibt es hier ziemlich viele Russen. Als Ostdeutschland noch unter sowjetischer Kontrolle stand, sind viele hierher übergesiedelt und haben die russische Kultur mitgebracht. (…)
Nichts als Verbote
Es heißt, Deutschland sei ein freies Land, aber tatsächlich ist das nur ein Wort. Wenn du ein eigenes Stück Land hast und dort wächst ein Baum, hast du nicht das Recht, ihn zu fällen, denn das ist „Ökologie“. (…)
Man kann kein Hobby betreiben ohne tausend Papiere und Zertifikate. Will man zum Beispiel eine Drohne fliegen lassen, braucht man eine Lizenz, muss eine Versicherung abschließen und eine spezielle, nicht brennbare Plakette anbringen.
Alles läuft über die Post. Um eine Bankkarte zu bekommen, musst du in eine Filiale gehen, wo man dir sagt: „Deine Karte kommt in drei Wochen in einem Briefumschlag.“ Also sitzt du zu Hause und wartest. Die Karte kommt, und anschließend schickt man dir das Passwort in einem gesonderten Brief. Der Brief kann verloren gehen, dann schickt man ihn dir nochmal.
Mit der Karte kann man dann in Deutschland so gut wie nichts bezahlen. Das geht nur in den großen Geschäftsketten. In kleinen Restaurants muss man fast immer bar bezahlen. Geldüberweisungen sind auch eine Geschichte für sich. Aus Deutschland nach Russland geht es wegen der Sanktionen überhaupt nicht. Innerhalb des Landes ist es auch besch… . Das Geld ist mindestens einen Werktag lang unterwegs. Wenn man es an einem Freitag überweist, kommt es erst am Montag an, weil am Wochenende nichts passiert.
In Deutschland gibt es keine normalen Dienstleistungen wie Essen ins Haus liefern lassen oder Maniküre für Frauen. Wenn man krank wird und zum Arzt geht, dann rät er einem höchstwahrscheinlich, Wasser zu trinken und an der frischen Luft spazieren zu gehen. Tabletten, Antibiotika werden nur im äußersten Notfall verschrieben.
Alle Medikamente bekommt man nur auf Rezept, sogar Analgin und No-Spa. Der Arzt stellt dir ein Rezept aus, du gehst in die Apotheke und bezahlst entweder eine kleine Gebühr auf den Preis des Medikaments oder bekommst es umsonst.
Ein Land für Rentner
Für die Jugend in Deutschland gibt es Pluspunkte, aber die Minuspunkte überwiegen. Deshalb reisen die jungen Leute ins Ausland. Sie haben zwei Hauptziele: Australien und England. Hier ist es sehr beliebt, seine Kinder nach der Schule zu einem gap year (akademischer Urlaub) nach Australien zu schicken. Das ist eine Art kultureller Code der Deutschen.
Niemals im Leben werde ich in Deutschland bleiben. Ich weiß nicht, wem so ein Land gefällt, Rentnern wahrscheinlich. Es ist überhaupt nichts los – für junge Leute ist das die Hölle. Ich bleibe hier, solange die Möglichkeit besteht, dann gehe ich nach Asien oder in die Staaten.
Man muss sich klarmachen, dass das Deutschland, in dem alles sauber, schön und pünktlich ist, der Vergangenheit angehört – so circa der von 2010. Jetzt ist dieses Land gut für die, die nichts tun, sondern nur Geld bekommen wollen. Deshalb kommen auch so viele Flüchtlinge hierher: Hier gibt es das meiste Geld (502 Euro) in ganz Europa, Unterkunft und Krankenversicherung werden bezahlt. (…)
Im Ausland fühlt man sich nie so wie zu Hause. Als ich hierher gekommen bin, habe ich anfangs auch gebrüllt: „Russland, igitt!“ Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es überall Plus und Minus gibt. Ich hasse Deutschland nicht, es ist nur einfach nicht das Land, in dem ich meine Ambitionen verwirklichen könnte. Manche werden hier durchaus komfortabel leben können. In jedem Fall bin ich dankbar für die Chance, Menschen aus verschiedenen Ländern kennenzulernen und dafür, Sprachpraxis zu erwerben.
Mit mehr als 300.000 Aufrufen gehörte dieser Bericht zu den meistgelesenen Artikeln der Online-Zeitung in letzter Zeit.
Die Kommentare der Leserinnen und Leser fielen allerdings größtenteils ziemlich ungnädig aus. Etliche störten sich daran, dass Matwej das Studium offenbar nicht allzu intensiv betreibt. Auch dass er in vier Jahren kein Deutsch gelernt hat, wurde kritisiert. Vor allem aber meldeten sich viele zu Wort, die selber in Deutschland leben oder eine Zeitlang gelebt haben, und widersprachen seinen Behauptungen. Ein paar gaben ihm aber auch recht.
Hier eine, wie ich hoffe, einigermaßen repräsentative Auswahl aus über 200 Kommentaren.
Langweilig … teuer … Söhnchen, komm zurück! Die Heimat versorgt dich mit kostenloser Kleidung und einer eisernen Ration, und Abwechslung wird es auch genug geben.
Er dachte, man muss ihm dort eine komfortable „russische Welt“ bieten, das heißt, das Land muss sich an ihn anpassen und nicht er an das Land. Wie kann man nur so infantil sein. Und er kapiert nicht, dass es in den USA und in Asien, wohin er zu reisen gedenkt, ganz genauso sein wird.
1800 bis 2000 Euro Lohn? Das kriegt man schon ohne Ausbildung, mit Ausbildung ist es doppelt so viel. Und wenn jemand sich für nichts interessiert, ist ihm überall langweilig. In Berlin hat man nur ein Problem – wie man das alles zeitlich schaffen soll, so viel Interessantes gibt es. Und die Jugend fährt nach der Schulzeit für ein Jahr nach Australien oder Amerika, um die Englischkenntnisse zu verbessern und die Welt zu sehen, danach kehrt sie zurück und geht auf die Universität, wo man tatsächlich ernsthaft studieren muss.
Ins Ausland ist er gefahren, um Urlaub zu machen, nicht um zu studieren. Urlaub statt Arbeit. Und jetzt stellt sich heraus, dass das nicht funktioniert. Oje, alle Klischees kaputt! Böses Land! Nur ist es in Amerika und Asien genauso. Wenn du dich erholst – bist du ein Tourist. Wenn du etwas lernst – ein Student. Wenn du arbeitest – ein Gastarbeiter, später ein Bürger. Nichtstuer und Faulenzer braucht niemand.
Deutsch ist eine ziemlich schwierige Sprache + die Berliner haben ihren eigenen Dialekt.
Die Berliner sprechen ganz normal. An den Dialekt kann man sich gewöhnen, wenn man denn mit den Berlinern selbst spricht und nicht mit wem er da so Kontakt hat … Ja, Deutsch ist schwierig, 4 Fälle statt 6 wie im Russischen, und auch 3 grammatische Geschlechter.
Deutsch zu lernen ist sinnlos. Das ist nicht mehr die Sprache der Zukunft. Genau wie Französisch. Deutschland und Frankreich sind nicht mehr die Länder, denen die Zukunft gehört, das sind künftige Provinzen. Wenn man Englisch kann oder Chinesisch, Arabisch oder Spanisch – das ist jetzt gut. Ja, und auch Russisch, glaube ich, hat jetzt mehr Perspektiven als früher.
Das ist doch alles gelogen! Ich lebe und arbeite seit 19 Jahren in Berlin. An der Technischen Universität habe ich auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Zu schreiben, dass man in Berlin kein Essen ins Haus bestellen kann, es keine Unterhaltung gibt, man sich keine Maniküre machen lassen kann, keinen Arzttermin bekommt usw., ist kompletter Blödsinn. Der Junge hat Probleme im Kopf.
Wann waren Sie das letzte Mal in Moskau? Kommen Sie her, vergleichen Sie alles, was er für Moskau und für Berlin aufgezählt hat, und Sie werden verstehen, was er meint.
Ich lebe seit 32 Jahren in Süddeutschland und habe noch nie bereut, übergesiedelt zu sein. In Kirgisien habe ich ein fast neues zweistöckiges Haus zurückgelassen, hier habe ich mir ein anderes gebaut. Bei der Arbeit gab es keine Probleme. Dem Autor kann ich in vielen Punkten nicht zustimmen. Auf meinem Grundstück pflanze und fälle ich Bäume, wie ich Lust habe.
Ich wohne und arbeite in Deutschland, nicht in Berlin, sondern in einer mittelgroßen Stadt. Ich habe nicht ganz verstanden, welche Unterhaltungsangebote der Autor vermisst? Für seinen Arbeitslohn kann er natürlich nicht groß auf den Putz hauen. Aber mir ist sowieso unklar, was er eigentlich will. Und es hängt ja auch davon ab, mit was für Leuten man Umgang hat, in Russland genauso wie in Deutschland. Wir haben hier in der Stadt einen Freizeitpark, Museen, tanzen kann man auch gehen. Meine jungen Kollegen haben jedenfalls keine Langeweile. Die meisten machen Sport und reisen durchs Land. Treffen sich mit Freunden. Die Neffen meines Mannes fahren zu Konzerten und zu Fußballspielen. Parks sind genug da. Was Verbote betrifft, ja, die gibt es, aber meine Freiheit schränken sie in keiner Weise ein. Ich verstehe nicht ganz, was dem Autor konkret verboten wurde – nachts Krach zu schlagen? Was die Deutsche Bahn betrifft, stimme ich zu. Ich fahre täglich mit ihr. Und das ist wirklich eine Katastrophe. Ich nehme immer eine Bahn früher, weil es wie bei der Lotterie ist. (…) Ich finde es auch etwas störend, dass sonntags die Geschäfte geschlossen sind. Aber man gewöhnt sich daran zu planen, was auch nicht schlecht ist.
Das ist doch ein Artikel auf Bestellung von irgendwem. Der Junge kennt Deutschland nicht und widerspricht sich in vielem selbst. Die wichtigste Botschaft: Nirgends ist es besser als in Russland.
Bitte beachten, er will danach nach Asien oder in die USA – nicht nach Russland. In Deutschland ist es schlecht, aber in Russland noch schlechter.
Also … der junge Mann sagt: – die Bildung im Land ist kostenlos und gut – Medikamente gibt es kostenlos auf Rezept – wer Geld haben will, ohne dafür etwas zu tun, hat es in diesem Land gut – es gibt eine schöne Natur und eine gute Ökologie – für zweieinhalb Tage Arbeit in der Woche bekommt man 117.000 Rubel – die Deutschen schicken ihre Kinder nach Australien, damit sie „sich erholen und die Welt anschauen“. Und dann kommt das Fazit: Hier ist es langweilig, es gibt mehr Minus- als Pluspunkte. Im Ernst? Im Ernst? Allerdings scheint er sich versprochen zu haben, als er sagte „Ich bleibe hier, solange die Möglichkeit besteht“.
Ich bin mit dem Autor völlig einverstanden! Ich lebe schon 30 Jahre in Deutschland, davon leide ich 26 Jahre an einer Depression. Es gibt hier überhaupt keine Lebensfreude. Die Menschen sind sehr kalt und verurteilen andere nur zu gern. Mich betrachtet man als Menschen zweiter Klasse. Ich bereue es sehr, dass ich hierher gezogen bin.
Ich war zwei Monate in Deutschland und das hat mir gereicht. Feucht, alles ist teuer, das Internet lässt zu wünschen übrig, langweilig, kaum Parks zum Spazierengehen. Die Gehälter soso. Ich bin zurück nach Kasachstan gegangen.
Eine Frage an den Autor des Artikels: „Das Studium beansprucht die ganze freie Zeit“ und „An zwei Tagen in der Woche verdiene ich mir was dazu“ – wie passt das zusammen? Meine Tochter studiert hier in Russland – sie hat nicht einmal Zeit, mit der Familie zusammenzusitzen und sich zu unterhalten. Von einer Arbeit nebenher kann keine Rede sein. Sie hat eine 6-Tage-Woche von 8-17 Uhr, dann nach Hause, eine Kleinigkeit gegessen und weitergelernt bis in die Nacht. Sonntags liegt sie einfach im Bett, nach dem Mittagessen geht es bis in die Nacht an die Hausaufgaben.
Ich habe in Bonn gelebt. Am Wochenende war dort immer was los, zum Beispiel Tage der afrikanischen Kultur, Karneval, das Fest „Rhein in Flammen“, der Pützchens Markt. Viele Diskotheken für jeden Geschmack. Viele Vereine – Tanzgruppen, Feuerwehrvereine. Die Deutschen treiben viel Sport, Golf, fahren nach Österreich zum Skifahren und natürlich Radsport. Es gibt viele Schwimmbäder, fast in jedem Dorf und nicht teuer. Man kann dort gut arbeiten und Geld verdienen, leben will ich allerdings doch lieber zu Hause, in Russland.
Soweit die Lesermeinungen, die sicher nicht weniger interessant als der Artikel selber sind.
Ein ähnlicher, noch ausführlicherer Bericht erschien übrigens in derselben Zeitung bereits im Juni. Darin erzählte eine Studentin, die zufällig (?) auch aus Domodedowo stammt, von ihren Erfahrungen in den Niederlanden, genauer in Enschede, wo sie seit drei Jahren an der „Saxion University of Applied Sciences“ studiert. Sie beklagt sich zwar nicht über fehlende Freizeitangebote, das scheint in Enschede besser zu funktionieren als in Berlin, aber mit ihren niederländischen Kommiliton(inn)en ist sie auch nicht wirklich warm geworden: Sie sind ihr „zu individualistisch und liberal“, echte Freundschaften wie in Russland gibt es nicht, die Männer allgemein sind sehr materialistisch (Beweis: die Frauen müssen im Restaurant selbst bezahlen). Wenn man den Müll nicht nach Vorschrift trennt, bekommt man eine Geldstrafe aufgebrummt, im Bus kann man nicht mit Bargeld bezahlen, und mit der ärztlichen Versorgung hapert es auch. Die niederländischen Ärzte verschreiben zwar nicht Wasser und Spaziergänge an der frischen Luft wie die Ärzte in Deutschland, aber sie kennen nur ein Medikament für alle Leiden – Parazetamol. Deshalb sollte man sich alle wichtigen Medikamente aus Russland mitbringen. Und auch die fehlenden Angebote für Maniküre und Essen nach Hause werden moniert.
Beide Berichte weisen so viele Parallelen auf, dass man sich unwillkürlich fragt, ob die russische Regierung vielleicht auch für dieses Thema eine „Metoditschka“, einen Leitfaden mit Anweisungen zur politisch opportunen Berichterstattung, erstellt hat. Wer weiß.