Für Menschen, die ihr Land verlassen, freiwillig oder gezwungenermaßen, dauerhaft oder zeitweise, gibt es verschiedene Bezeichnungen: Auswanderer, Aussiedler, Migranten, Expats, Flüchtlinge, Exilanten. In Russland ist letztes Jahr ein neues Wort geläufig geworden: Relokanten (релоканты). Gemeint waren damit ursprünglich nur die Expats, also Leute, die vorübergehend im Ausland leben und arbeiten, ohne sich einbürgern zu lassen; jetzt nennt man so die Menschen, die Russland im Frühjahr 2022 nach dem Überfall auf die Ukraine und dann in einem zweiten, noch größeren Strom im Herbst 2022 nach der Ankündigung einer Teilmobilmachung verlassen haben. Die meisten davon sind jünger, viele gut ausgebildet, darunter überdurchschnittlich viele IT-Spezialisten. Die wenigsten hatten die Absicht, dauerhaft zu emigrieren – sie sind gegangen, weil sie nicht für Putin in den Krieg ziehen und lieber im Ausland abwarten wollten, wie sich die Lage entwickelt. Manche von ihnen arbeiten aus dem Ausland weiter für ihre Firmen. Wie viele es insgesamt sind, ist nicht bekannt – eine offizielle Statistik dazu gibt es nicht. Die meisten Schätzungen gehen von 600.000 bis 800.000 Menschen aus, von denen ca. 15 % inzwischen wieder zurückgekehrt sein dürften (https://www.rbc.ru/politics/25/10/2023/6538b8739a7947719d23fd1e).

Die russische Regierung und die staatstreuen Medien beschimpften die Relokanten bisher als Verräter und Drückeberger oder ignorierten sie. Im Oktober schlug nun ein Duma-Abgeordneter vor, zu differenzieren und eine Trennung in freundliche und unfreundliche Auswanderer respektive Relokanten vorzunehmen:

Der Duma-Abgeordnete Sultan Chamsajew ist der Ansicht, dass der Begriff „unfreundliche Relokanten“ auf Gesetzesebene eingeführt werden müsse. Darunter sei jemand zu verstehen, der Russland nicht nur einfach verlassen habe und vom Ausland aus arbeite, sondern der das auch aus politischen Gründen getan habe.

Früher sei „Relokant“ ein neutrales Wort gewesen und habe Firmenmitarbeiter, die für ihre Firma vom Ausland aus tätig waren, bezeichnet.

„Aber heute benutzen wir diesen Terminus für eine größere Gruppe von Menschen, einschließlich Leute aus dem Showbusiness und reiche Oligarchen, die erst im Westen unser Land kritisiert haben und jetzt nach Russland zurückgekehrt sind, um ihre Wunden zu lecken. Eben diese Leute werden von unserer Gesellschaft am meisten verurteilt“, fügte der Abgeordnete hinzu.

https://ria.ru/20231011/relokanty-1902108832.html

Das Adjektiv „unfreundlich“ („недружественный“) hat bereits in der Wortverbindung „unfreundliche Länder“ (= alle Länder, die das russische Regime kritisieren) Eingang in die offizielle Kreml-Sprache gefunden. Nun soll nach der Vorstellung des Abgeordneten der Begriff „unfreundlicher Relokant“ eine gesetzlich verankerte Bezeichnung werden, vergleichbar dem „ausländischen Agenten“, und die so Gebrandmarkten sollen nach ihrer Rückkehr mit Einschränkungen bei der Arbeitsaufnahme und steuerlichen Nachteilen bestraft werden.

Noch schärfer als Chamsajew äußerte sich Wjatscheslaw Wolodin, der Sprecher der Duma. Er drohte den „unfreundlichen Relokanten“ sogar mit dem Straflager:

Er erklärte bei einer Plenarsitzung der Duma, dass niemand in Russland auf die Relokanten warte, die aus Russland ausgereist seien und „niederträchtige Handlungen“ begangen hätten, indem sie sich „über den Beschuss von Gebieten der Russischen Föderation gefreut und dem blutigen Kiewer Naziregime den Sieg gewünscht“ hätten. Wenn sie zurückkämen, sei ihnen „Magadan garantiert“.

https://ria.ru/20231011/relokanty-1901973217.html?in=t

Im Gebiet Magadan im fernen Osten Russlands befanden sich zur Stalinzeit viele gefürchtete und berüchtigte Straflager, in der Hafenstadt Magadan selbst ein großes Durchgangslager.

Wjatscheslaw Wolodin und Wladimir Putin

Wolodin (*1959) ist nicht nur Sprecher der Duma und Mitglied der Putin-Partei „Einiges Russland“, sondern auch ein glühender Fan seines Präsidenten. 2014 tat er den Ausspruch: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Ohne Putin gibt es kein Russland.“ („Есть Путин – есть Россия, нет Путина – нет России.“)
https://www.mk.ru/politics/2014/10/23/volodin-est-putin-est-rossiya-net-putina-net-rossii.html

Neben den „unfreundlichen Relokanten“, bei denen sowieso Hopfen und Malz verloren ist, gibt es aber auch noch die „freundlichen Relokanten“, die keine missliebige politische Kritik geäußert, nur menschliche Schwäche gezeigt haben. Wenn diese zurückkehren wollen, dann, so wird nun signalisiert, ist man bereit, sie gnädig als verlorene und wiedergefundene Söhne und Töchter zurückzunehmen (und man braucht sie ja auch dringend). Diese Botschaft verkündete Pressesprecher Dmitri Peskow Anfang Oktober:

Der Pressesprecher des Präsidenten unterstrich, dass die überwältigende Mehrheit der aus Russland Ausgereisten Menschen seien, die frei wählen, wo sie aktuell leben wollen. „Und natürlich haben diese Menschen ihre Heimat, egal, was passiert. Diese Heimat ist Russland. Und sie wartet immer auf sie“, sagte Peskow.

https://ria.ru/20231011/relokanty-1901973217.html?in=t

Einstweilen aber irren viele von den Ausgereisten und vor der Mobilmachung Geflohenen noch heimwehkrank durch die Welt. So legt es zumindest der folgende Bericht aus dem staatstreuen Online-Medium msk1.ru nahe, in dem die Odyssee eines jungen Paares aus Moskau geschildert wird.

„Das Herz ist uns sehr schwer.“ Zwei Moskauer, die ins Ausland gegangen sind, erzählen, wie sie ein Jahr fern der Heimat verbracht haben.

Sie haben in dieser Zeit in fünf Ländern gelebt und trotzdem keinen Ort gefunden, wo sie auf Dauer bleiben könnten.

Nach der in Russland verkündeten Teilmobilmachung im vergangenen Herbst standen viele an den Grenzen zu unseren Nachbarländern Schlange. Für einige verlief die Übersiedlung einfach und problemlos, andere konnten in der Fremde nicht Fuß fassen und kehrten in die Heimat zurück.

Die Korrespondentin von msk1.ru zeichnete die Geschichte von Maxim und Schenja auf (Namen auf ihre Bitte geändert), eines Ehepaares, für das die Relokation zum echten Stresstest wurde. Im Laufe des vergangenen Jahres waren sie in fünf Ländern, konnten aber nirgends Fuß fassen.

Urlaub ohne Rückkehr

„Bis zum letzten Herbst lebten Max und ich in unserer Wohnung in Otradnoje (Stadtteil von Moskau, d. Ü.), zahlten die Hypothek ab, kümmerten uns um unsere Kater, es fehlte uns an nichts“, erzählt Schenja. „Ich arbeitete als Beraterin im Immobiliensektor, mein Mann hatte einen Job in der Werbung, obwohl er eigentlich gelernter Ingenieur ist.“

Die Nachricht von der Teilmobilisierung traf die Eheleute unverhofft – sie wollten gerade in den Urlaub nach Europa fahren und sich ihr erstes gemeinsames Auto kaufen.

„Wir besprachen die Lage mit meinen Eltern, und mein Vater kam ans Telefon und sagte, wenn Maxim sich entschließe zu ‚fliehen‘, sei er für ihn gestorben. Mein Mann warf daraufhin den Hörer auf und saß einige Minuten mit starrem Blick da. Auch mir war klar, dass unser gewohntes Leben nun wohl zu Ende war.“

Schenja und Maxim beschlossen, das für den Autokauf gesparte Geld für die Ausreise und die ersten Monate im Ausland zu verwenden. Sie hatten schon Tickets nach Italien über die Türkei in den Händen – die hatten sie für den Urlaub gekauft.

„Wir hatten Glück, dass wir noch ein gültiges Schengen-Visum hatten, das schon vor dem Beginn der Spezialoperation ausgestellt worden war“, erklärt Schenja. „Das wollten wir für den Urlaub nutzen, denn ein neues zu bekommen ist jetzt sehr schwierig.“

Die Ausreise

Auch wenn die jungen Leute Glück hatten und nicht übereilt völlig überteuerte Fahrkarten kaufen mussten, war die Ausreise trotzdem nicht einfach.

„Es war ein seltsames Gefühl: den Koffer für die Reise zu packen und dabei zu wissen, dass wir vielleicht nicht wieder nach Hause zurückkehren würden. Wir stellten Maxims Mutter eine Vollmacht aus und übergaben ihr auch schweren Herzens unsere Kater. Wir hoffen sehr, dass wir sie irgendwann zu uns holen können.“

Das Ehepaar brach zum Flughafen auf, wo in der ersten Woche nach dem Beginn der Mobilmachung die Passagiere besonders gründlich kontrolliert und überprüft wurden.

„Die Angst, dass man meinen Mann an der Grenze festhält und nicht rauslässt, war so stark, dass ich mich kaum erinnere, wie wir durch die Kontrolle kamen.“

Doch die beiden passierten die Grenzkontrolle ohne Probleme, und schon am nächsten Tag stiegen sie am Mailänder Flughafen aus dem Flugzeug.

„Im Regen warteten wir auf ein Taxi. Das Herz war uns so schwer“, erinnert sich Schenja. (…)

Ein Land nach dem anderen

In der Schengen-Zone durften Schenja und Maxim mit ihrem Visum nicht länger als 30 Tage bleiben. Von Mailand fuhren sie eine Woche später nach Hamburg, wo sie bei Bekannten unterkamen, die einige Jahre zuvor nach Deutschland übergesiedelt waren.

„Anfangs versuchten wir, Wege zu finden, um legal in Europa zu bleiben. Ich hatte immer noch meine Arbeit, und mein Mann konnte in Telearbeit Geld verdienen. Aber für ein spanisches Visum, das wir gern gehabt hätten, reichte unser gemeinsames Einkommen trotzdem nicht aus.

Als unser Schengen-Monat zu Ende ging, packten wir unsere Sachen und flogen nach Jerewan. Ohne viel zu überlegen, einfach, weil es dorthin Direktflüge gab. Nach ein paar Wochen war uns klar, dass wir in Armenien nicht bleiben wollten, und wir reisten weiter nach Georgien.“

Georgien war für viele junge Männer, die der Einberufung entkommen wollten, das erste Ziel. Vor dem Grenzübergang Werchnij Lars bildete sich Ende September 2022 eine mehr als 16 km lange Autoschlange von Russland nach Georgien – wer schneller vorankommen wollte, ließ sein Auto stehen und nahm sich ein Leihrad.

Vor der Grenze zu Georgien, Herbst 2022 (Foto: moyby.com)

Nicht alle Georgier waren begeistert von der plötzlichen Einwanderungswelle. Auf diesem Foto steht ein junger Georgier am Flughafen von Tbilissi und hält ein „Willkommensschild“ hoch: „Gruß an die russischen Deserteure“.

Foto: Badri Grigalashvili / bbc.com

Auch die Eltern der jungen Frau gingen auf Distanz zu ihrem Schwiegersohn und versuchten, ihre Tochter umzustimmen.

„Ich hatte ein sehr schwieriges Gespräch mit meinen Eltern“, berichtet Schenja. „Sie redeten mir zu, Maxim zu verlassen und nach Moskau zurückzukommen. Aber wie kann ich das tun? Ich habe mich daraufhin mit meinem Vater ernsthaft zerstritten.“

Ein neues Leben und neue Pläne

Als Hoffnungsstrahl für die beiden erwies sich eine Einladung von Maxims Cousine, die mit Mann und Kindern in Istanbul lebt.

„Sie bot uns an, eine Weile bei ihnen zu wohnen, bis Max eine neue Arbeit gefunden hätte“, erklärt Schenja. „Und ich konnte mich bei ihnen eine Weile erholen – der ganze Stress hatte mir gesundheitlich zugesetzt. Maxim fand dann tatsächlich eine Arbeit, sogar zu besseren Bedingungen als vorher. Endlich wurde das Leben wieder etwas leichter und ruhiger.“

Nach einem Monat zogen Schenja und Maxim in eine kleine Mietwohnung in einem Neubaugebiet von Istanbul. Dort leben sie bis jetzt.

„Die Türkei ist ein interessantes Land, allerdings keins, das uns sehr nahe ist“, gibt die junge Frau zu. „Wenn wir entscheiden könnten, würden wir immer noch Europa als Wohnort wählen. Wir wollen noch einmal ein Visum für Spanien beantragen. sobald unsere Einkünfte dafür ausreichen.“

Demnächst wird Schenja für eine internationale Maklerfirma arbeiten, die Relokanten beim Erwerb von Immobilien hilft. Sie hofft, dass das ein weiterer Schritt sein wird, um endlich Wurzeln zu schlagen.

„Eine Rückkehr – nein, daran denken wir nicht“, sagt sie. „Obwohl wir natürlich unsere Freunde und unsere Kater sehr vermissen. Und ja – Moskau ist für mich immer noch die beste Stadt auf der Welt. Aber es hat sich halt so ergeben, dass wir weit weg von den vertrauten Orten leben werden. Das habe ich inzwischen akzeptiert, und seitdem geht es mir besser.“

https://msk1.ru/text/world/2023/11/08/72890183/