RUSSLAND HISTORISCH
1833 starb der heilige Serafim von Sarow im Alter von 73 Jahren, hochverehrt vom russischen Volk. Schon in jungen Jahren hatte er den Wunsch verspürt, ein klösterliches, kontemplatives Leben zu führen. Mit 17 Jahren verließ er seine Heimatstadt Kursk und wanderte zum berühmten Höhlenkloster nach Kiew. In der kleinen Stadt Sarow bei Nischni Nowgorod, rund 370 km östlich von Moskau gelegen, schloss er sich später der dortigen Mönchsgemeinschaft an.
Mehrere Jahrzehnte lebte er unweit des Klosters als Einsiedler in einer kleinen Hütte am Flüsschen Sarowka, fastete, betete, züchtete Bienen und lebte von den Früchten des Waldes und den Erzeugnissen seines Gemüsegartens.
Der Legende nach soll er einmal tausend Tage und Nächte wie die Säulenheiligen auf einem Stein kniend verbracht haben. Eine andere Legende erzählt, dass er sich mit einem riesigen Bären anfreundete, der ihn regelmäßig besuchte und ihm Brot aus der Hand fraß.

Eines Tages – das ist leider keine Legende – wurde er in seiner einsamen Hütte von Räubern überfallen und mit einem Beil so schlimm zugerichtet, dass er nur mit viel Glück überlebte. Als die Räuber gefasst wurden und verurteilt werden sollten, wurden sie auf seine Bitte hin nicht bestraft.
In seinen letzten Lebensjahren bewohnte er wieder eine Zelle im Kloster. Er galt nun als weiser Starez und Wunderheiler, und die Gläubigen pilgerten scharenweise nach Sarow, um seinen Rat einzuholen. Sogar Zar Alexander I. suchte ihn auf.
1903 wurde er von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Die Zarenfamilie kam persönlich zur Zeremonie. Zar Nikolaj II., die Großfürsten und Erzbischöfe trugen den Sarg mit den sterblichen Überresten, die dann als Reliquie in der Kirche von Sarow aufbewahrt wurden.

Nach der Revolution wurden im Lauf der antikirchlichen Kampagne der Bolschewiki überall im Land Reliquienschreine aufgebrochen. Man wollte dem Volk zeigen, dass alles nur Betrug war, die Kirche die Gläubigen absichtlich getäuscht habe und die Heiligen verwest oder die Schreine leer oder mit Wachspuppen gefüllt waren. 1920 wurde offiziell angeordnet, „den Kult um tote Körper als barbarisches Überbleibsel der alten Zeit vollständig zu liquidieren“. Im selben Jahr wurde auch der Sarg mit den Gebeinen Serafims geöffnet, zur allgemeinen Besichtigung ausgestellt und anschließend nach Moskau in ein Museum für religiöse Kunst gebracht. Nach der Auflösung dieses Museums verlor sich die Spur der Reliquie.
Erst Ende 1990 wurde sie im Magazin des Museums für Religionsgeschichte, das sich in der Kasaner Kathedrale in St. Petersburg befindet, wiederentdeckt. Dort fiel einem Mitarbeiter eines Tages ein großer rechteckiger, in Leinwand eingewickelter Gegenstand auf. Unter mehreren Lagen Watte und Mull befand sich das gut erhaltene Skelett des Heiligen, bekleidet mit kirchlichen Gewändern. Auf dem einen Handschuh war mit Goldfäden auf Atlasseide eingestickt „Heiliger Vater Serafim“, auf dem anderen „Bitte für uns zu Gott“. Eine von Patriarch Alexius eingesetzte Kommission überprüfte alle noch vorhandenen Dokumente und erklärte die Reliquie für echt. Sie wird seitdem im Kloster Diwejewo aufbewahrt.
2003, zur Hundertjahrfeier der Heiligsprechung, brachte man die Gebeine Serafims aus Diwejewo in einer feierlichen Prozession für einen Tag nach Sarow, wo Patriarch Alexius II. eine neue Kirche zu Ehren des Heiligen einweihte (die alte Kirche war 1927 abgerissen und das Kloster geschlossen worden). Am Gottesdienst nahm auch Präsident Putin teil, der als Gastgeschenk eine 4,3 Tonnen schwere Glocke stiftete.
2007 wurde Serafim eine weitere Ehrung zuteil: Der Patriarch erhob ihn zum Schutzheiligen der Atomstreitkräfte. In diesem Jahr wurde nämlich das 60-jährige Bestehen des Nuklearwaffenzentrums in Sarow begangen. Zu dieser Feier versammelten sich viele militärische Würdenträger, Veteranen und Beamte des Verteidigungsministeriums in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale.
Auf der Website des Moskauer Patriarchats heißt es:
Vor dem Gottesdienst rief der Erzbischof alle auf, gemeinsam zu beten und Gott für seine Güte und für die Hilfe, die er in der Vergangenheit dem Atomschutzschild Russlands hat zukommen lassen, zu danken und den göttlichen Segen und die himmlische Fürsprache des Schutzheiligen der Atomstreitkräfte, des heiligen Serafim von Sarow, zu erflehen.
Was hatte der friedliche Mönch mit Atombomben zu tun? Gar nichts. Er hatte nur das Pech (oder Glück, wie man es nimmt), dass sein Kloster und seine Einsiedelei an eben diesem abgeschiedenen Ort lagen.
Dieser Abgeschiedenheit wegen hatte Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Berija das Städtchen Sarow 1943 ausgewählt, um dort ein streng geheimes Atomforschungszentrum anzusiedeln. Der Name Sarow verschwand 1946 plötzlich von allen Landkarten und aus allen Verzeichnissen. Sarow wurde zur unsichtbaren Geisterstadt, die von da an nur noch unter Decknamen wie Arzamas-16 oder Kremljow firmierte. Hier arbeiteten Wissenschaftler (eine Zeitlang auch Andrej Sacharow) an der Entwicklung der ersten sowjetischen Atombombe.
Sarow alias Arzamas war von den rund 40 „geschlossenen“ Städten der Sowjetunion in den Jahrzehnten des Kalten Krieges die allergeheimste. Zu diesen „geschlossenen“ Städten hatte man nur mit Sondergenehmigung Zutritt, sie waren auf keiner Karte verzeichnet, und wer dort arbeitete, war vorher genauestens überprüft worden. Dafür gab es aber viele Privilegien – bessere Versorgung, schönere Wohnungen, großzügige Bürogebäude, viele Grünanlagen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam Sarow wieder unter seinem alten Namen zum Vorschein. Es ist aber weiterhin eine „geschlossene“ Stadt, denn nach wie vor befindet sich dort das Atomwaffenzentrum Russlands (offiziell „Allrussisches Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Experimentalphysik“). Bei seinem Besuch in Sarow 2003 begab sich Putin denn auch nach dem Gottesdienst und einer kurzen Ansprache an die Pilger zu einem Arbeitstreffen mit den Atomwissenschaftlern. Die Pilger waren übrigens vorher genau überprüft und „vorsortiert“ worden. Zur Stadt selbst haben sie bis jetzt keinen Zutritt, der Wallfahrtsort für die Gläubigen ist das Kloster Diwejewo einige Kilometer nördlich von Sarow.

Serafim von Sarow gehört auch heute noch zu den bekanntesten und beliebtesten russischen Heiligen. Erst 2019 ist in der angesehenen Buchreihe „Das Leben bedeutender Menschen“ eine ausführliche Würdigung seines Wirkens erschienen. Und Ikonen mit seinem Bild verkaufen sich bestens, allerdings lieber mit zahmem Bär als mit Atombombe – so wie hier in diesem Angebot eines russischen Online-Shops.

Quellen, Links, Anmerkungen
Zu Serafim gibt es einen ausführlichen Wikipedia-Artikel auf Deutsch und einen noch längeren auf Russisch mit vielen weiterführenden Links.
Die abenteuerliche Geschichte der Gebeine des Heiligen kann man z. B. hier
https://www.gazeta.ru/science/2020/12/16_a_13403312.shtml
und hier
nachlesen.
Das Zitat von der Website der Russisch-Orthodoxen Kirche findet man hier: